Gemachtes Vergessen im Buch

in (09.09.2024)
Aleida Assmann: Formen des Vergessens. Göttingen 2016 (Wallstein Verlag).

Henriette Hufgard und Kristina Steimer: ausgeklammert. Die Philosophinnen der Frankfurter Schule. München 2023 (Goldmann Verlag).

Philippe Kellermann: Marxistische Geschichtslosigkeit. Von Verdrängung, Unwissenheit und Denunziation: Die (Nicht-)Rezeption des Anarchismus im zeitgenössisch en Marxismus. Lich/ Hessen 2011 (Edition AV).

Bénédicte Savoy: Afrikas Kampf um seine Kunst. Geschichte einer postkolonialen Niederlage. München 2023 (C.H.Beck Verlag).

Andreas Stahl, Jakob Hoffmann, Marc Seul, Stephan Grigat (Hg.): Erinnern als höchste Form des Vergessens? (Um-)Deutungen des Holocaust und der Historikerstreit 2.0“. Berlin 2023 (Verbrecher Verlag).

Etwas vergessen zu machen bedeutet, etwas zum Verschwinden zu bringen, was einmal gewusst wurde. Nicht von allen sicherlich, aber doch als Wissen mit gesellschaftspolitischen Konsequenzen. Es kann nach Aleida Assmann in verschiedenen Praktiken wie Löschen, Verbergen, Verschweigen, Überschreiben, Ignonieren, Neutralisieren und Leugnen geschehen. Die Shoah spielte für den moralisch-politischen Bedeutungszuwachs des Erinnerns eine zentrale Rolle. Darin sind sich Assmann und die Herausgeber des Sammelbandes Erinnern als höchste Formen des Vergessens? noch einig. Letztere betonen, dass die Shoah ihre Einzigartigkeit aus dem Umstand generierte, dass niemals zuvor ein Staat die totale Auslöschung einer/ eines jeden Angehörigen einer religiösen und ethnischen Gruppe intendiert und begonnen hatte umzusetzen. Der Infragestellung dieser Erinnerungsmaxime durch multidirektionale Erinnerungspostulate tritt der Band entgegen. Aus einem solchen „Verständnis der Shoah ergibt sich“, betonen sie dabei auch, „keinesfalls, dass andere Genozide oder Massenverbrechen demgegenüber relativiert werden sollten“. In dem Buch wird die Erinnerungstheoretikerin Assman als eine von unterschiedlichen „linken Revisionisten“ (Niklaas Machunsky) bezeichnet, die die Erinnerung in den Dienst der kollektiven Identifizierung (der Deutschen) stelle. Während sie das Gemeinsame des Vergessens und Erinnerung tatsächlich vor allem im Rahmen „nationaler Identität“ denkt, bietet Assmanns Buch Formen des Vergessens durchaus mehr als Revisionismus. Sie beschreibt das Vergessen als „Sammelbegriff, unter dem sich sehr unterschiedliche Handlungen, Verfahren und Strategien verbergen“ und differenziert sieben Formen des Vergessens (automatisch, verwahrend, selektiv, strafend, defensiv, konstruktiv, therapeutisch). In einer Mischung dieser Praktiken ist etwa vergessen worden, wie Bénédicte Savoy herausarbeitet, dass es schon in seit den 1960er Jahren Bemühungen zur Restitution von im Rahmen der Kolonialverbrechen geraubter Kulturgüter gab. Die unabhängig gewordenen Staaten drängten auf Rückgabe, es wurde gefordert, manchmal verhandelt, meist ausgesessen – und dann vergessen gemacht. „Fast jedes Gespräch“, schreibt Savoy, „das wir heute über die Restitution von Kulturgütern nach Afrika führen, fand vor 40 Jahren schon einmal statt“. Das beeindruckende und bedrückende Buch dokumentiert eine postkoloniale Niederlage. Es ist eine „Geschichte verpasster Chancen, des Erstickens und Verdrängens“. In Vergessenheit gebracht wurde auch die anarchische Tradition politischer Positionen, sozialer Kämpfe und Errungenschaften in den Erzählungen marxistischer Geschichtsschreibung, wie Philippe Kellermann detailliert am Beispiel von vier Publikationsprojekten wie u.a. dem Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus (HKWM) nachzeichnet. Der Ausblendung von Frauen im Kontext der Kritischen Theorie gehen Henriette Hufgard und Kristina Steimer nach. Sie schildern den Beitrag vier dieser Frauen für die philosophische und soziologische Theorie „mit Hilfe ihrer eigenen Erzählungen“.


Jens Kastner ist Soziologe und Kunsthistoriker und unterrichtet an der Akademie der bildenden Künste Wien. www.jenspetzkastner.de 



Aleida Assmann: Formen des Vergessens. Göttingen 2016 (Wallstein Verlag).

Henriette Hufgard und Kristina Steimer: ausgeklammert. Die Philosophinnen der Frankfurter Schule. München 2023 (Goldmann Verlag).

Philippe Kellermann: Marxistische Geschichtslosigkeit. Von Verdrängung, Unwissenheit und Denunziation: Die (Nicht-)Rezeption des Anarchismus im zeitgenössisch en Marxismus. Lich/ Hessen 2011 (Edition AV).

Bénédicte Savoy: Afrikas Kampf um seine Kunst. Geschichte einer postkolonialen Niederlage. München 2023 (C.H.Beck Verlag).

Andreas Stahl, Jakob Hoffmann, Marc Seul, Stephan Grigat (Hg.): Erinnern als höchste Form des Vergessens? (Um-)Deutungen des Holocaust und der Historikerstreit 2.0“. Berlin 2023 (Verbrecher Verlag).



Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien), Nr. 69, Frühjahr 2024, „Gemachtes Vergessen“.