Tief unten

Themeneditorial iz3w 393 (Nov./Dez. 2022) zu "Rohstoffe"

»Wir fordern einen EU-weiten Ausstieg aus dem Verkauf neuer Pkw und Lieferwagen mit Verbrennungsmotor bis spätestens 2035.« Der Satz stammt nicht von Klimaktivist*-innen, sondern aus dem Brief eines Industriebündnisses an das EU-Parlament. Unter den Unterzeichner*innen befinden sich auch die Automobilkonzerne Ford und Volvo. Deren Motiv dürfte eher ein Marktvorteil gegenüber der noch länger auf Verbrenner setzenden deutschen Automobilindustrie sein, als das ökologische Gewissen – jedenfalls: Die Industrie ist im Umbruch.

Und nicht nur diese. Mit der Elektrifizierung des Mobilitätssektors steigt der Bedarf nach Rohstoffen, die für die E-Auto-Batterien notwendig sind: Kobalt, Lithium & Co sind gefragt wie nie. Ein Markt mit Potenzial, weiß Börse Online: »So profitieren Anleger vom ungebrochenen Lithium-Boom«. Nachhaltigkeitsversprechen auf der einen Seite, Rohstoff-Boom auf der anderen. Passt das zusammen? In diesem Heft wollen wir der schönen neuen Rohstoffwelt auf den Zahn fühlen und nehmen dabei besonders jene Rohstoffe in den Fokus, die für die Mobilitätswende benötigt werden.

                Denn was hier als ‚grün‘ bezeichnet wird, sieht bei der Förderung in den Ländern des Globalen Südens anders aus. Das zeigen Rosa Lehmann und Rafael Hernández Westpfahl im Einleitungsartikel, der sich mit dem Extraktivismus der ‚grünen‘ Rohstoffe in Lateinamerika auseinandersetzt. Sie kritisieren, dass diese Produktionsverhältnisse ökologisch zu kurz gedacht und sozial am ehesten als imperiale Lebensweise fassbar sind. Oliver Pye führt die Fragestellung entlang der Nickelförderung in Indonesien fort, indem er sich auf die Interessen der Werktätigen fokussiert und die gesellschaftlichen Naturverhältnisse in dieser Perspektive aufgreift. Über Rohstoffe zu reden heißt, über die sozialen Verhältnisse zu reden. Walter Benjamin merkte dazu im Passagenwerk an: »Würde nämlich nicht eigentlich der Mensch ausgebeutet, so könnte man sich die uneigentliche Rede von der Ausbeutung der Natur sparen. Sie verfestigt den Schein des ‚Wertes’, den die Rohstoffe nur durch die auf der Ausbeutung menschlicher Arbeit beruhende Produktionsordnung bekommen.«

Gleichzeitig wird der Rohstoffboom teilweise als kurzfristige Chance gesehen, um aus der wirtschaftlichen Misere zu kommen. In Peru etwa explodiert der informelle Abbau geradezu, in der DR Kongo und in Sambia hofft man aus der Rolle des reinen Rohstofflieferanten herauszutreten. Uns interessiert, wie die steigende Nachfrage die Verhältnisse in den rohstoffreichen Ländern des Globalen Südens verändern. Mit welchen Kosten sind sie verbunden? Und überhaupt: Gibt es Möglichkeiten für einen sozial und ökologisch sinnvollen Umgang mit den Ressourcen?

Uwe Hoering erklärt entlang des Minerals Graphit die Rolle des Rohstoffgiganten China. Die Volksrepublik ist der Endpunkt vieler hier genannter Rohstoffe. Dabei begibt sich die postfossile Wirtschaftswelt in eine Abhängigkeit von China. Hoering schreibt: »Die extraktivistischen Machtverhältnisse, nach denen die postkolonialen Länder des Globalen Südens die Rohstoffe für die gewinnträchtigen Industrien im Norden lieferten, funktionieren hier nicht mehr.«

                Es folgt ein Schwenk zur DR Kongo. Diese wird oft als Opfer anstatt Nutznießer seiner reichen Kobaltvorkommen dargestellt. Die Regierung formuliert im aktuellen Rohstoffboom andere Vorstellungen. Sinisha Pfeifer und Marc Seuthe diskutieren die Frage: Könnte die DR Kongo mit der Rohstoffförderung dahin kommen, dass sich die Produktivkraft, der Wohlstand und damit Sozialstaatlichkeit oder Bildung im Land verbessern? Und auch der Artikel von Anna-Sophie Hobi und Mukupa Nsenduluka über Kupferförderung in Sambia fragt: Wie stellt sich die Steuergerechtigkeit dar? Immerhin ist der Kupferabbau eine zentrale Einnahmequelle für das Land. Weiter fragt Johannes Knierzinger mit Blick auf Aluminium nach dem Bauxitabbau in Guinea und nach der Lokalbevölkerung im »roten Staub«. Dazu beleuchtet Thomas Niederberger beim Kupferabbau in Peru die Ausweitung des informellen Sektors. Und Stefan Peters fragt: Was macht das Erdöl mit Kolumbien? Zudem geht es um die Wende der neuen Linksregierung, die Kolumbien aus der Abhängigkeit von der Rohstoffförderung führen will.

Tief nach unten blickt zum Schluss des Themenschwerpunktes Stefan Brocza: Boomt der Tiefseebergbau? Mit diesem Dossier hoffen wir, den Blick auf den Strukturwandel im globalen Rohstoffregime zu schärfen. Welche wechselseitigen Abhängigkeiten, destruktiven Potentiale für Mensch und Umwelt und welche Chancen ergeben sich daraus? Dazu tauchen oder steigen wir ganz tief zu den Rohmaterialien herab. Helm auf und Glück auf, wünscht

 

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