Hefteditorial iz3w 399 (November/Dezember 2023)
Wenn es schlecht läuft, geht der 24. September 2023 in die Geschichte des Kosovo ein. Als der Tag, an dem der jahrelang heruntergekühlte Konflikt wieder vollends eskalierte. An jenem Tag verübte eine paramilitärische proserbische Gruppe einen Anschlag im Norden des Kosovo. In dem kleinen Dorf Banjska blockierte die dreißigköpfige Gruppe eine Straße. Als die kosovarische Polizei anrückte, eröffneten sie das Feuer und töteten einen Polizisten. Anschließend verschanzte sich die Gruppe in einem serbisch-orthodoxen Kloster. Die kosovarische Polizei stürmte das Gelände, drei Mitglieder der Gruppe wurden getötet, weitere verletzt und verhaftet. Viele konnten jedoch nach Serbien entkommen. Darunter Milan Radoicić, ein kosovarisch-serbischer Lokalpolitiker, der durch Drohnenaufnahmen identifiziert wurde.
Radoicić ist nicht irgendwer: Bis September war er Vize-Vorsitzender der Srpska Lista, der wichtigsten Partei der serbischen Minderheit im Kosovo. Obwohl er sich offen zur Urheberschaft des Anschlags bekannte, konnte er sich zunächst unbehelligt in Serbien aufhalten. Anfang Oktober wurde er schließlich festgenommen, jedoch am darauffolgenden Tag wieder entlassen – das Gericht lehnte den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Untersuchungshaft ab. Die Staatsanwaltschaft wirft Radoicić vor, als Rädelsführer des Anschlags Waffen und Sprengkörper in den Kosovo geschmuggelt zu haben. Während seiner Anhörung bestritt Radoicić die Vorwürfe. Zuvor hatte er jedoch öffentlich verkündet, »die Menschen in ihrem Widerstand gegen das Regime von Albin Kurti ermutigen zu wollen«.
Während der kosovarische Ministerpräsident Albin Kurti von einem terroristischen Akt spricht, feiern viele Kosovo-Serb*innen die Angreifer vom 24. September als Helden und Märtyrer. Für sie waren es »ihre Leute«, die sich gegen das Regime in Pristina gewehrt hätten. Die kosovarische Regierung wiederum spekuliert, dass es sich nicht um einen einzelnen Anschlag gehandelt habe – insgesamt seien Aktionen wie jene in Banjska an 37 Orten im Norden des Kosovo geplant gewesen, mit dem Ziel einer Annexion des Nordens an Serbien. Das konnte bisher nicht von unabhängiger Seite bestätigt werden.
Serbiens Präsident Aleksandar Vučić wiederum bestreitet in einem Interview mit CNN, dass Serbien Interesse an einer Annexion hätte. Dennoch zog er nach dem Angriff Militär an der Grenze zum Kosovo zusammen und glorifiziert in serbischen Medien den Anschlag. Der Angriff spielt Vučić tatsächlich nicht unbedingt in die Karten. Nach den Ausschreitungen im Juni dieses Jahres hatte die EU Sanktionen gegen den Kosovo verhängt. Vučić konnte sich hingegen als zuverlässiger Partner aufspielen und der Anschlag vom 24. September ist dafür eher kontraproduktiv. Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass eine Guerillagruppe ohne Unterstützung an die beim Anschlag verwendeten, hochmodernen Waffen kommt. Und selbst wenn Vučić nichts von den Anschlagsplänen wusste: Rhetorisch gießt er seit Jahren Öl ins Feuer. Wenn dem Taten folgen, sollte es niemanden verwundern.
Worum geht es eigentlich politisch? Hinter der Eskalation steht die Auseinandersetzung um die Anerkennung des Kosovo als unabhängiger Staat. Die Normalisierungsgespräche zwischen dem Kosovo und Serbien liegen auf Eis. Besonders relevant sind zwei Aspekte: Die Schaffung eines Gemeindebundes der serbischen Gemeinden im Kosovo und der Einsatz der kosovarischen Spezialpolizei im Norden. Letztere setzt Kurti seit Beginn seiner Amtszeit verstärkt dort ein, offiziell um Drogenschmuggel zu bekämpfen. Die serbische Bevölkerung fühlt sich von den Spezialkräften drangsaliert. Der Gemeindebund wiederum ist eigentlich schon längst beschlossene Sache, aber Kurti stemmt sich dagegen – er argumentiert, damit könne eine Art Republika Srpska im Kosovo entstehen.
Die Republika Srpska ist der serbisch dominierte Landesteil Bosnien und Herzegowinas, der regelmäßig mit der Abspaltung vom Gesamtstaat droht. Dort tauchte in der Stadt Bijeljina prompt ein Wandgemälde auf, welches einem der Paramilitärs vom 24. September huldigte – zehn Tage nach dem Angriff. Die Gefahr einer Eskalation der Konflikte macht in der Region nicht an Landesgrenzen halt.
Und die EU? Sie hat den Ernst der Lage verkannt und lässt Vučić gewähren. Laut der Journalistin Franziska Tschinderle geben viele Diplomat*innen im Hintergrundgespräch ihre Ratlosigkeit zu. Denn unabhängig von den weiteren Entwicklungen sind mit dem 24. September manche Sicherheitsgewissheiten im Kosovo hinfällig geworden. Das bedeutet auch, dass die bisherige EU-Politik nicht mehr haltbar ist. Ob der Tag als Gewaltzäsur in die Geschichte des Landes eingehen wird, bleibt abzuwarten. Es ist zu hoffen, dass dem nicht so ist, findet
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