Die These vom „Ende der Geschichte“ wurde bekanntlich von Francis Fukuyama Anfang der 90er Jahre vertreten. Es bestehe in der Integration und Assimilation nichtwestlicher Kulturen und Staaten in die westliche Sphäre, unter Preisgabe eigener Grundsätze zugunsten von Freiheit und Menschenrechten. Das Ende des weltweiten Siegeszuges der sogenannten westlich-liberalen Demokratie als Staats- und Regierungsform schien eine Frage der (kurzen) Zeit.
Es kam anders; die Illusion platzte. Heute gebe es mehr autokratische, gar diktatorisch geführte Staaten auf der Welt denn Demokratien, besagt eine britische Untersuchung. Müsste nicht aber die Freiheit generell die große Verlockung für alle Menschen, alle Völker sein? Mitnichten! Zwar ist Freiheit ein emphatisch positiv besetzter Begriff und nicht wenige Menschen weltweit wollen frei sein, ohne politische Zwänge und Einschränkungen leben. Psychologisch gesehen ist Freiheit aber nicht nur attraktiv, sondern kann zur Last werden. Sie fordert das eigene Urteilsvermögen heraus. Der Freie trägt in mehr oder weniger hohem Maße Verantwortung für sich und die Gesellschaft. Daher sind nicht wenige Menschen versucht sich zu „entlasten“. Die Verführung, der Freiheit zu entsagen und (politische) „Angebote“ anzunehmen, erscheint ihnen als der bequemere Weg, das Dasein zu meistern. Zumal in krisenhaften Zeiten wie den gegenwärtigen, in denen „Gewissheiten“ zerschellen und Orientierungsdefizite um sich greifen. Menschen mögen das nicht. Sie suchen eher nach einfachen Antworten und Erklärungen. Da die Demokratie keine Form der „Einfachheit“ und der „Schnelligkeit“ ist, geraten diese Antworten und Erklärungen nicht immer leicht fasslich und einleuchtend, ja sogar kontrovers, und es dauert auch manchmal, ehe sie gegeben werden.
Hannah Arendt vertritt in dem 1967 fertiggestellten und 2018 auf Deutsch erschienenen Essay „Die Freiheit, frei zu sein“ die auf die damalige Zeit gemünzte These, dass sich der Wettstreit zwischen den politischen Systemen nicht durch Kriege lösen ließe. Heute ist Arendts These aktueller denn je! Für Arendt ist nicht die totale Kontrolle und Beherrschung der Menschen das Hauptmerkmal des Totalitarismus. Der Kern totalitärer Ideologie liege vielmehr in dem – auf den ersten Blick harmlosen, ja banalen – Satz „alles ist möglich“ und in der Vorstellung, „dass alles Gegebene nur ein zeitweiliges Hindernis ist, das durch überlegene Organisation überkommen werden kann“.
„Alles ist möglich“ – ja; auch wieder Krieg in Europa. Den der Autokrat Wladimir Putin mutwillig vom Zaune brach. Er stellt damit die europäische Friedensordnung infrage, wie sie die Charta von Paris 1990 festschrieb. Unter den vielen Kriegsursachen, die die russische Propaganda beständig variiert, ist eine von besonderer Aktualität: Der Kampf gegen „Гейропа“ – eine von russischen Staatsmedien vehement verbreitete, auf die „entartete“ europäische Zivilisation als Teil der westlichen zielende Verunglimpfung; ein Kompositum aus „gay“ (schwul) und „Europa“. Die zum Ausdruck kommende Homophobie steht für mehr – einen faschistoiden Männlichkeitskult, Hetze und Gewalt gegen alle nichtrussischer Herkunft, gegen Andersdenkende, aber auch für (vermeintliche) Gottgläubigkeit, Tradition, „intakte“ Familien respektive patriarchalische Normen. Die das Putinsche Russland leitende Ideologie ist die eines historischen Revisionismus. In der Ukraine wird so an vorderster Front – zumindest gilt das für den europäischen Kontinent – der Kampf zwischen Autoritarismus und der liberalen Demokratie der freien Welt ausgefochten …
Diese Frontstellung hat eine weltweite Dimension. Das autokratische China setzt der (noch) Hegemonie der USA im pazifischen Raum zunehmend eigene aggressive Bestrebungen entgegen. Seine wachsende ökonomische Macht münzt China systematisch in militärische um; davon zeugen Ansprüche wie die „Neun-Striche-Linie“, die jene Zone markiert, die China im Südchinesischen Meer für sich beansprucht und die in die Territorialgewässer anderer Staaten eingreift. Auch die „Neue Seidenstraße“ steht für Chinas politische Ambitionen: Was als Logistik-Projekt begann, hat mittlerweile eine politische Dimension, die auf neuen ökonomischen Interdependenzen fußend China geostrategische Positionen sichert. Zusammen mit dem gerade eskalierenden Konflikt um Taiwan ist der Pazifik Ort anschwellender regionaler wie globaler, politisch-ideologischer Konflikte zwischen „Ost“ und „West“ geworden.
Arendts etwas kryptischer Satz, „dass alles Gegebene nur ein zeitweiliges Hindernis ist, das durch überlegene Organisation überkommen werden kann“, eröffnet den Blick auf eine weitere Sphäre der Bedrohung der liberalen Demokratien – die innere. Und sofort schiebt sich Donald Trump ins Bild: Wenn Trump seinen dilettantischen Putschversuch vom 6. Januar 2021 mit „überlegener Organisation“ durchgeführt hätte, wäre die Verfassung der USA, das System von checks and balances als „Gegebenes“ für ihn zum nur „zeitweiligen Hindernis“ geworden. Und er wäre als Präsident weiterhin Vorbild für alle Verächter der Demokratie, die weltweit in Regierungsverantwortung stehen oder diktatorisch über ihre Völker herrschen. Auch die rechtspopulistischen und verschwörungsideologischen Kreise, verantwortlich für die namentlich im Kontext zur Coronapandemie forcierte Vereinnahmung des Freiheitsbegriffs, hätten in ihm weiterhin eine Leitfigur. Desgleichen die klerikal-christlichen, erzkonservativen „Kirchen“, die gegen die Gleichstellung der Frau und die sexuelle Selbstbestimmung zu Felde ziehen.
Paradoxerweise unterminieren nicht nur die Rechte, sondern auch die Linke den liberalen Staat. Und nicht, wie man meinen könnte, in alter guter klassenkämpferischer Manier, sondern indem sie für bedrohte rassische und sexuelle Minderheiten eintritt, die Sprache durch das Gendern meint „revolutionieren“ zu müssen, sich um eine „politisch korrekte“ Sprache sorgt. Diese kulturelle Linke, die früher Autoritäten angriff und Institutionen herausforderte, hat es durch eine extreme Moralisierung der öffentlichen Debatte vermocht, ihre privilegierte gesellschaftliche Machtposition zu verschleiern, die soziale Frage zugunsten von „Identitäten“ zurückzudrängen und damit denen in die Hände zu spielen, die aus konservativen Überzeugungen gegen dringende soziale und gesellschaftliche Reformen in demokratischen Staaten sind. Weder Links noch Rechts stehen für die tatsächlich Armen, Ausgebeuteten ein. Und auch nicht für die Opfer digitaler „Feldzüge“.
Damit ist die Szene für das moderne theatrum mundi bereitet, in dem nicht mehr Eitelkeit und Nichtigkeit der Welt verhandelt werden, sondern das im planetarischen Maßstab drohende Überschreiten der Grenzen der Natur und die Gefährdung der Grundlagen unseres Zusammenlebens. Verhandelt wird, welches System – der freie, demokratisch-liberale Westen oder die Autokratien dieser Welt – effektiver, effizienter und am Ende erfolgreich mit dieser alles Bisherige sprengenden Provokation umzugehen vermag. Welches System die unter Druck stehenden Ökonomien stabilisieren kann, Rezepte gegen die Erhitzung der Welt findet, Sicherung und Verteilung knapper basaler Ressourcen wie Wasser lösen kann, in den nationalen und internationalen Verteilungskämpfen in gerechter Art und Weise besteht, andere Länder versteht ins Boot zu holen… und das nicht durch hegemoniale, letztlich militärische Machtausübung. Das wäre wie zu Arendts Lebzeiten das Ende der menschlichen Zivilisation durch ein atomares Inferno.
Noch ist diese Auseinandersetzung nicht entschieden. Wer diese gelingende Welt will, muss aufhören, mit zweierlei Maß zu messen. Denn Doppelmoral führt zum Verlust der Glaubwürdigkeit; es ist unschwer festzustellen, dass große Teile der Welt „den Westen“ zu Recht bezichtigen, doppelte Standards anzuwenden. Die letzten Jahrzehnte haben wiederholt gezeigt, dass massive Völkerrechtsbrüche durch den Westen ungeahndet blieben. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Recht ist das eine, Macht das andere. Dreht es sich um diese beiden Kategorien, kann es nur um die Macht des Rechts gehen! Für alle. Ausnahmslos. Überall.