Die Zukunft der nuklearen Teilhabe

Rolf Mützenich, Fraktionsvorsitzender der SPD im Bundestag, warf im Mai 2020 einen Stein ins Wasser. Gemessen an den Wellen, die er auslöste, war es ein ganz schöner Brocken. Mützenich wurde wahlweise vorgeworfen, er kündige die Solidarität in der NATO auf, versuche Deutschland von einem Krieg in Europa abzukoppeln oder gefährde die nukleare Abschreckung der NATO und Mitsprachemöglichkeiten Deutschlands im Bündnis.

Dabei hatte er sich nur dafür ausgesprochen, Deutschland solle aus der „technischen nuklearen Teilhabe“ der NATO ausscheiden, also künftig für Atomwaffeneinsätze des Bündnisses keine Flugzeuge mehr bereithalten. Mützenichs intendiertes Signal: Die SPD lehnt es ab, die deutsche Tornadoflotte durch neue nuklearfähige Trägerflugzeuge vom Typ F18 abzulösen und die nukleare Rolle der Luftwaffe auf weitere Jahrzehnte festzuschreiben. Die Heftigkeit der Reaktionen zeigt: Er hatte die Glaubensgemeinschaft der Verfechter nuklearer Abschreckung aufgeschreckt, eines ihrer Dogmen infrage gestellt.

Die nukleare Teilhabe besteht aus zwei Komponenten, einer technischen und einer politischen. Zur technischen gehört als Kern die Bereitstellung europäischer Trägersysteme und ausgebildeter Bedienungsmannschaften für den Einsatz von US-Atomwaffen im Kriegsfall sowie von Lagermöglichkeiten für US-Atomwaffen. Zur politischen Teilhabe gehört die Mitarbeit in NATO-Gremien, in denen Informationen über nukleare Angelegenheiten ausgetauscht, nukleare Rüstungsplanung betrieben; Rüstungskontrollinteressen abgeglichen und nukleare Einsatzszenarien diskutiert und beschlossen werden. Das geschieht zum Beispiel in der Nuklearen Planungsgruppe (NPG), deren nachgeordneter Arbeitsebene im NATO-Hauptquartier in Brüssel und in den mit Nuklearwaffen befassten Teilen der militärisch-operativen Stäbe des militärischen Oberkommandos im belgischen Mons. Die Beteiligung an der technischen nuklearen Teilhabe ist jedoch keine Voraussetzung dafür, sich an der politischen Komponente beteiligen zu können. Alle NATO-Mitglieder außer Frankreich sind bei der politischen Teilhabe dabei.

Darüber hinaus gibt es einen weiteren Aspekt, über den kaum gesprochen wird. Die Mitwirkung an der politischen und technischen nuklearen Teilhabe kann eine politische, moralische und ethische Mitverantwortung für einen künftigen Nuklearwaffeneinsatz durch die NATO-Länder zur Folge haben. Nichtnukleare Bündnismitglieder wären mitverantwortlich, würde die Allianz Nuklearwaffen einsetzen. Auch das ist unabhängig von ihrer Beteiligung an der technischen nuklearen Teilhabe.

Als die NATO in den späten 1960er Jahren endgültig den Übergang von der Strategie der massiven Vergeltung zur flexiblen Antwort vollzog und der Atomwaffensperrvertrag zur Unterzeichnung anstand, waren die nichtnuklearen NATO-Mitglieder in Europa bemüht, die technisch-nukleare Teilhabe weiterzuführen und sich im Bündnis verbesserte Informations- sowie Mitspracherechte in Nuklearfragen zu sichern. Für eine solche Mitwirkung mussten jedoch erst noch Strukturen wie die NPG sowie Verfahrens- und Konsultationsmechanismen im Bündnis geschaffen werden. Auch die zum Einstieg in die Debatte über die flexible Antwort im Mai 1962 formulierten, aber nie im Konsens verabschiedeten „Athener Richtlinien“ zu Konsultationsmöglichkeiten über die nuklearen Optionen der NATO bei unterschiedlichen Szenarien eines Kriegsausbruchs mussten weiterentwickelt und präzisiert werden.

Das sollte in der NPG erfolgen, wozu zunächst zwei Dokumente vorgelegt wurden. Das eine betraf generelle Richtlinien für Konsultationen über Fragen des NATO-Einsatzes atomarer Waffen und verursachte relativ wenig Diskussion. Das andere befasste sich mit der Frage von Konsultationen über den erstmaligen Einsatz (initial use) nuklearer Waffen durch die NATO, also das Überschreiten der Schwelle zur nuklearen Kriegführung durch die Allianz. Dieses Papier führte unter anderem zu intensiven Diskussionen über das damals vermutlich erste Mittel eines NATO-Atomwaffeneinsatzes: Atomminen, mit deren Einsatz das Militär einen potentiellen Angriff möglichst grenznah stoppen, respektive Truppenbewegungen kanalisieren wollte. Zunächst kamen nur vorläufige Richtlinien zustande, da grundsätzlichere Fragen sichtbar wurden:

Erstens – Wann, mit welcher Zielsetzung und in welchem Umfang würde ein solcher Einsatz erfolgen?

Zweitens – Würde genug Zeit bleiben, um politische Konsultationen in der NATO durchzuführen oder auf die Freigabe durch den US-Präsidenten zu warten? Oder wäre eine Prädelegation, eine vorab erfolgende Delegierung der Freigabe an hohe militärische Befehlshaber in Europa, etwa den NATO-Oberbefehlshaber, sinnvoll und gewollt?

Drittens – Damit stellte sich auch die Frage des Primats der Politik, der politischen Kontrolle über militärisch-nukleare Planungen für einen solchen Einsatz. Würden Militärs oder Politiker letztlich das Sagen haben?

Zweifellos waren das Fragen, bei denen auch die nichtnuklearen Staaten Europas mitreden oder gar mitentscheiden wollten. Als Lager-, Abschuss- und potentielle Zielorte eines Atomwaffeneinsatzes mussten sie daran ein elementares Interesse haben. Im Bündniskontext gelang es ihnen nicht, ein Vetorecht für sich zu erwirken. Sie erhielten lediglich die Zusage, bei Konsultationen würde der Position besonders betroffener Länder ein spezielles Gewicht beigemessen. Dieses Gewicht wurde unter anderem auch dadurch bestimmt, welche Atomwaffentypen in einem Land vorhanden waren und welche Konsultationsmechanismen für diese Waffentypen und ihre möglichen Einsatzszenarien zutrafen.

Parallel bemühte sich die Bundesregierung um eine verbindlichere bilaterale Übereinkunft mit den USA. Eine erste wurde zwischen den Regierungen Kiesinger und Johnson erreicht, erwies sich aber im Blick auf das Primat der Politik als unzureichend. Später folgte eine zweite, die auf die Verteidigungsminister Helmut Schmidt und Melvin Laird zurückging und 1974 in einer Vereinbarung zwischen Bundeskanzler Brandt und US-Präsident Nixon mündete. Vier deutsche „No’s“ wurden in Form eines vertraulichen, bilateralen Briefwechsels von den USA anerkannt, in denen unter anderem von einer erforderlichen Zustimmung der Bundesregierung vor einem Nuklearwaffeneinsatz die Rede sein soll, zumindest wenn dieser von deutschem Boden ausgehen sollte oder auf Ziele auf deutschem Boden gerichtet wäre. Der Kern bestand jedoch in einer Festlegung auf das Primat der Politik gegenüber militärischen Planungen.

Im Verlauf der weiteren Arbeit der NPG wurden aufgrund von Veränderungen der NATO-Strategie, des nuklearen Dispositivs der Allianz und des Wandels der Rolle nuklearer Waffen in der NATO-Strategie wiederholt neue Dokumente mit Aussagen zu den Planungs- und Konsultationsprozessen im Bündnis verabschiedet. So wurden zum Beispiel nach dem Abzug der Atomminen aus Europa im Oktober 1986 „General Political Guidelines for the Employment of Nuclear Weapons in the Defense of NATO“ angenommen oder nach Verabschiedung der neuen militärischen Strategie der NATO MC400 Ende 1991 im Folgejahr neue „Political Principles of Nuclear Planning and Consultation“. Letztere gingen erstmals davon aus, dass der NATO aufgrund der Presidential Nuclear Initiatives aus dem Herbst 1991 künftig keine taktischen Atomwaffen kurzer Reichweite mehr zur Verfügung stehen würden, sondern nur noch luftgestützte, als substrategische bezeichnete Waffen sowie möglicherweise auch seegestützte Systeme, die aber keinen multinationalen Nuklearwaffeneinsatz erlauben würden.

Zumindest bis zu diesem Dokument war auch das Primat der Politik explizit und klar verankert. Wie und ob die Allianz im Kontext der wiederholten Modifikation der MC400 in den Folgejahren mit erneuten Revisionen ihrer Dokumente zu nuklearen Konsultationen reagiert hat, ist noch nicht bekannt. Dies gilt auch im Blick auf die weitere Gültigkeit bilateraler Vereinbarungen zwischen den USA und Deutschland. Solche Vereinbarungen werden normalerweise bei jedem Regierungswechsel in einem der beteiligten Staaten fortgeschrieben. Ob Donald Trump Angela Merkel ähnliche Zusagen gemacht hat wie Nixon 1974 Brandt, ist ungewiss.

Nach der Verabschiedung einer neuen Militärstrategie der NATO („Comprehensive Defense and Shared Response“ – MC400/4) im Jahr 2019 gibt es im Bündnis wieder Anlass, über veränderte politische Richtlinien für nukleare Planung und Konsultation neu nachzudenken. Denn bei den nuklearen Waffen, die bei einem Konflikt in Europa zum Einsatz kommen könnten, sind substantielle Veränderungen zu verzeichnen. In den letzten Jahren konnte die nukleare Schwelle entweder mit strategischen Atomwaffen der USA oder mit den als substrategisch bezeichneten Atombomben und deren Trägerflugzeugen in Europa überschritten werden. Mit Trumps „Nuclear Posture Review 2018“ deuteten sich diesbezüglich jedoch wieder größere Veränderungen an, da in diesem Dokument die Absicht bekundet wurde, zwei weitere Waffensysteme zu stationieren, die für diesen Zweck eingesetzt werden können. Dies sind zum einen strategische Raketen-U-Boote mit Langstreckenraketen, die nur einen Sprengkopf kleiner Sprengkraft tragen und zum anderen seegestützte atomare Marschflugkörper. Der Einsatz beider Waffen ist unabhängig von einem Mittun der Bündnispartner möglich.

Ende 2019 schickten die USA erstmals ein Raketen-U-Boot auf Patrouille, das eine Rakete an Bord hatte, die nur einen Sprengkopf vom Typ W76-2 mit einer relativ kleinen Sprengkraft (circa acht Kilotonnen) trägt. Der Einsatz dieses Sprengkopfs für einen „initial nuclear use“ in Reaktion auf einen angenommenen taktischen Kernwaffeneinsatz Russlands in Europa wurde im Februar 2020 erstmals von STRATCOM durchgespielt. Ob Washington die Bündnispartner dabei konsultierte oder im Voraus informierte, ist unbekannt. Das Kriegsspiel wurde als nationale Übung präsentiert. Der NATO-Oberbefehlshaber Todd Wolters bezeichnete sich etwa zeitgleich als „Fan einer flexiblen Ersteinsatzpolitik“, ohne zu erklären, was diese von der traditionellen Ersteinsatzpolitik unterscheide.

Der Vorgang signalisierte, dass die USA den selektiven Einsatz nuklearer Waffen in Europa ohne europäisches Zutun praktizieren können. Das U-Boot, die Rakete und der Sprengkopf sind im Besitz der USA, unterstehen nicht der NATO und könnten somit außerhalb der heute in der NATO vereinbarten Konsultationsregeln eingesetzt werden. Washington könnte zugleich wählen, ob das Ziel der Waffe auf dem Territorium Russlands oder eines anderen Landes liegen sollte. Die USA besitzen nunmehr eine attraktive nationale Alternative zu den in Europa stationierten nuklearfähigen Flugzeugen, die zudem den Nachteil haben, erst noch die russische Luftabwehr überwinden zu müssen. Diese Alternative bietet ähnliche Vorteile wie die Pershing II: kleine Sprengkraft mit geringerem „Kollateralschaden“, kurze Flugzeit, Reichweite bis nach Russland. Die Waffe kann sowohl in Reaktion auf einen russischen Ersteinsatz genutzt werden als auch für einen eigenen Ersteinsatz. Sie bürdet dem Gegner die schwierige Entscheidung auf, ob er den Konflikt tatsächlich weiter eskalieren soll. Die Russland von den USA oft unterstellte „escalate to deescalate“-Strategie kann also gespiegelt werden. Der Nachteil bei aller Attraktivität: Eine solche Waffe kann auch ähnlich destabilisierend wirken wie die Pershing II.

Aufgrund dieser Eigenschaften könnte die mit dem Sprengkopf W76-2 ausgestattete Trident II künftig zur Waffe der Wahl avancieren, wenn es um einen erstmaligen oder Ersteinsatz oder um begrenzte, selektive Nuklearwaffeneinsätze geht. Das wäre von besonderer Bedeutung, da die nuklearfähigen Jagdbomber der NATO mit ihren freifallenden Atombomben durch bessere Luftverteidigungssysteme verwundbarer und damit unsicher für die Erfüllung ihrer Aufgabe werden. Ihr Einsatz bedarf zudem der Eindringhilfe durch andere Kampfflugzeuge, die sie begleiten. Das reduziert ihre Attraktivität für solche Einsätze. Auf Flugzeuge würde man wohl vor allem dann zurückgreifen, wenn man einem Gegner signalisieren will, dass der Nuklearwaffeneinsatz durch viele nichtnukleare Länder politisch mitgetragen und verantwortet wird.

Jüngst durch die USA vorgenommene technische Änderungen an den Nutzungskontrollsystemen der in Europa gelagerten B61-Bomben machen diese Waffen möglicherweise nicht nur sicherer. Wenn die Änderungen mit der Nebenwirkung verbunden wären, dass diese Bomben ausschließlich gegen im Voraus festgelegte Ziele oder Zielgruppen eingesetzt werden können, wäre die für einen „initial use“ erforderliche Flexibilität bei der Zielauswahl und -planung möglicherweise nicht mehr zu gewährleisten. Auch deshalb wäre die Waffe der Wahl für einen ersten Einsatz U-Boot-gestützt und trüge nur einen kleinen Sprengkopf.

Diese Änderungen im Nukleardispositiv der USA finden zu einem für Deutschland heiklen Zeitpunkt statt. Die Bundesregierung will bei der technisch nuklearen Teilhabe weiterhin mitwirken und ihre Mitsprache bei der nuklearen Planung im Bündnis absichern. Das BMVg plant deshalb, 30 Flugzeuge des Typs F-18F zu beschaffen, um den Tornado abzulösen. Die Hoffnung, über die Beteiligung an der technisch-nuklearen Teilhabe auch künftig Einfluss auf einen erstmaligen oder Ersteinsatz von Atomwaffen in Europa nehmen zu können, könnte aber aufgrund der Modernisierungen im US-Nukleardispositiv weitgehend gegenstandslos werden. Der geplante Kauf neuer Kampfflugzeugen würde dann zu einem milliardenteuren Selbstbetrug. Er könnte seinen Zweck nicht mehr erfüllen. Auch die Entscheidung, ob das Primat der Politik Gültigkeit behält, wäre dann wieder weitgehend eine der USA.

* – Diese letzte Publikation unseres jüngst leider viel zu früh verstorbenen Kollegen und Freundes Otfried Nassauer erschien zuerst im Magazin WeltTrends (Nr. 169). Übernahme mit freundlicher Zustimmung des Verlages.