Irgendwie scheint es wie verhext. Seit Jahren gerät eine Krise nach der anderen außer Kontrolle, selbst in Europas Nachbarschaft. Keiner scheint zu wissen, wie das zu verhindern wäre. Die Politik übt sich gelegentlich in starken Sprüchen, manchmal sogar in wilden Drohungen. Eine Diskussion über Sanktionen und militärische Einsätze jagt die andere. Der Konflikt um die Krim, die Kämpfe im ostukrainischen Donbas, der Krieg in Libyen und nicht zuletzt die Herausbildung des Islamischen Staates mit seinen brutalen Terrormilizen in Syrien und im Irak – das alles suggeriert: Die Weltordnung gerät aus den Fugen, und keiner weiß, ob sie noch zu kitten ist. Oder gar, ob Kit überhaupt das geeignete Mittel wäre.
Eigentlich dürften wir uns über diese Entwicklung nicht wundern. Zu einem Gutteil haben wir sie selbst verursacht. Wir, der demokratisch aufgeklärte, an Werten, Normen, internationaler Rechtsordnung und den Menschenrechten orientierte Westen. Trotzdem tun wir so, als ob wir damit rein gar nichts zu tun hätten. Als ob die Fehler immer nur die Fehler der anderen wären.
In den vergangenen beiden Jahrzehnten hat der Westen viele entscheidende Fehler gemacht. Drei besonders wichtige seien genannt: Wir haben die Stärke des Rechts, insbesondere des Völkerrechts, immer wieder zugunsten des Rechts des Stärkeren ausgehebelt, wenn das in unserem Interesse lag. Fast überall, wo wir alte Ordnungen zerschlagen haben, haben wir zweitens unser Unvermögen unter Beweis gestellt, eine neue, selbsttragende, die betroffenen Menschen überzeugende und dauerhafte Ordnung aufzubauen. Und drittens sind wir den Beweis schuldig geblieben, dass wir, der derzeit reichste Teil der Welt, überhaupt willens, fähig und in der Lage wären, neue Ordnungen zu gestalten und dies auch zu finanzieren. Klappt es nicht mit der neuen Ordnung, praktizieren wir einfach einen geordneten, möglichst gesichtswahrenden Rückzug. Zurück bleibt Instabilität, im schlimmsten Fall der Nährboden für den nächsten Krieg. Das Markenzeichen der modernen, demokratischen Krieger.
Oft war die Politik westlicher Länder in den letzten Jahren primär darauf ausgerichtet, zweifelhafte oder rechtswidrige Militäreinsätze innenpolitisch zu rechtfertigen. In Serbien und dem Kosovo, im Irak oder in Libyen zum Beispiel. Die Krise in der Ukraine zeigt nun, dass viele unserer Politiker sich zwar auf diese Aufgabe inzwischen hervorragend verstehen, aber zugleich die wichtigste Lehre des Kalten Krieges scheinbar vergessen haben: Abschreckung kann nur dann kriegverhindernd wirken, wenn die Konfliktparteien – bereits verbal – Eskalationskontrolle praktizieren. Ist das nicht der Fall, so braucht es am Ende eher mehr Glück als Verstand, damit kein Krieg ausbricht. So wie damals in der Kuba-Krise.
Statt die bestehende Weltordnung zu verbessern, weiter auszugestalten und stabiler zu machen, haben wir sie de facto seit dem Ende des Kalten Krieges immer wieder und immer weiter geschwächt. Teilweise sogar zerstört. Im Namen der westlichen Werte, der Menschenrechte und der Bekämpfung des Terrors. In einer gewissen Siegermentalität, aus einem Überlegenheitsgefühl, im Bewusstsein der Stärkere zu sein. Wir haben sukzessive Vertrauen zerstört, nicht erst in der jüngsten Zeit, sondern immer wieder, kontinuierlich, seit den 1990er Jahren. Steter Tropfen höhlt den Stein.
Erkennbar werden die gravierenden Folgen derzeit vor allem in Russland. Moskau betrachtet seine Beziehungen zum Westen heute vor allem als Geschichte gebrochener westlicher Versprechen, als Bestätigung der Vorhersagen jener konservativen, nationalistischen und sogar rückwärtsgewandten Kräfte in Russland, die immer schon davor gewarnt haben, dass der Westen und zumindest Washington weiterhin das Ziel verfolgen könnten, Russland kontinuierlich zu schwächen. In der Wahrnehmung der russischen Öffentlichkeit werden diese Kräfte zu Realisten und als Realpolitiker diskurs- oder sogar mehrheitsfähig.
Die Hoffnung, nach dem Ende des Kalten Krieges werde die Stärke des Rechts das Recht des Stärkeren weitgehend ablösen, wurde enttäuscht. Das Recht des Stärkeren, das sich selbst ermächtigt, feiert allenthalben fröhliche Urständ. Gut möglich, dass Historiker den Kalten Krieg und die ersten Jahre danach dereinst als die hohe Zeit des Völkerrechtes beschreiben werden. Für den Anfang des 21. Jahrhunderts werden sie das nicht tun. Im Gegenteil: Die Gegenwart könnte ihnen als Phase der gezielten Deregulierung und Destabilisierung der internationalen Beziehungen gelten.
Die USA haben diese Entwicklung eingeleitet. Washington sah sich nach dem Zerfall der UdSSR als Sieger im Kalten Krieg, als einzig verbliebene Supermacht. Sie beanspruchten das Recht, die Nachkriegsordnung zu gestalten. Multilateralismus wie in Gestalt der Vereinten Nationen sei dazu keine Alternative. „Mit den Vereinten Nationen, wann immer möglich – ohne sie, wenn nötig“, so lautete damals ein Slogan der den Rückgriff auf das Recht des Stärkeren bereits deutlich implizierte. Weitere Staaten stiegen auf diese Entwicklung ein. Die einen schneller, die anderen langsamer. Weil sie dies für einen quasi natürlichen Ausdruck ihrer „special relationship“ zu den USA hielten, wie Großbritannien, oder weil sie, wie Polen, auf ein Sonderverhältnis zu Washington hofften. Weil sie sich Vorteile ausrechneten oder, wie Deutschland, zumindest regelmäßig Bündnissolidarität demonstrieren wollten und glaubten, mitmachen zu müssen, um mitentscheiden zu können.
Selbst Russland ist in den letzten Jahren immer deutlicher zum Helfershelfer dieser Entwicklung geworden. Moskau setzt mittlerweile ebenfalls wieder verstärkt auf das Recht des Stärkeren. Nach vielen Jahren der Kritik an westlichen Verletzungen des Völkerrechts geht jetzt auch Moskau wieder rechtswidrig vor, um seine Interessen zu wahren. Die Interventionen in Georgien 2008 und in der Ukraine-Krise auf der Krim 2014 zeigen das. Dass die USA und ihre Verbündeten im Kosovo, im Irak und in ihrem Weltkrieg gegen den Terror ähnlich vorgingen, macht es nicht besser.
Alle diese Staaten haben das bestehende völkerrechtliche Acquis geschwächt, das Gebot der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten und das Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen verletzt. Sie alle haben militärisch interveniert, obwohl es ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen und der Charta der Vereinten Nationen widersprach. Das weitreichende Gewaltverbot der Charta der Vereinten Nationen wird durch dieses Vorgehen immer weiter ausgehöhlt.
Auch Westeuropäer müssen sich an ihre eigene Nase fassen: Sie haben das Gewaltverbot ebenfalls aufgeweicht – und sie taten es besonders perfide: „legitimiert“ unter der Fahne höherer Moral. In Europa beruft man sich nämlich besonders gern auf das Konzept der Schutzverantwortung. Dieses Konzept postuliert eine Pflicht der internationalen Gemeinschaft, Menschen notfalls auch mit militärischen Mitteln zu schützen, wenn diese von ihrer eigenen Regierung nicht mehr geschützt oder gar bekämpft werden. Gerechtfertigt wird dies dann zum Beispiel mit einem drohenden Völkermord und oder mit massenhafter Vertreibung. In Libyen gingen die Europäer mit US-Unterstützung jedoch über das UN-Mandat zum Schutz der Bevölkerung hinaus, um einen Regimewechsel militärisch zu erzwingen. Der aber mündete in einen Bürgerkrieg, in dem kein europäischer Staat mehr einen Anlass sieht, sich militärisch für den Schutz der Zivilbevölkerung in Libyen zu engagieren. Obwohl in Libyen heute wohl mehr Menschen sterben als zu Zeiten der Diktatur Gaddafis. Der Umgang des Westens mit dem Bürgerkrieg in Syrien hat darüber hinaus gezeigt, dass das Konzept der Schutzverantwortung sehr willkürlich zur Anwendung kommt. Oder auch nicht: Man beruft sich auf die Schutzverantwortung, wenn der Starke intervenieren will. Sonst eher nicht – siehe Syrien. Der Schutz der Menschen und der Menschenrechte war bislang jedenfalls zumeist dann wichtiger als die Unverletzlichkeit der Grenzen, wenn man intervenieren wollte. Zum Beispiel um ein unliebsames Regime zu beseitigen. Auch so kann das Recht des Stärkeren ausgespielt werden.
Wer aber auf das Recht des Stärkeren setzt, darf sich nicht wundern, wenn bestehende Rechtsordnungen aus den Fugen geraten. Als moralischer Wohltäter und Idealist, der die Welt uneigennützig mit der Waffe in der Hand verbessern will, sollte er sich besser nicht gerieren. Er ist es nicht. Er ist vielmehr ein Kriegstreiber, den das übergehängte Mäntelchen des moralisch agierenden Gutmenschen nur notdürftig kaschiert. Ganz gleich, welches Selbstbild er von sich hat.