Ein nicht endender Kreislauf

Kriegsdienstverweigerung in der Türkei

Die Türkei ist inzwischen das letzte Land des Europarates, das keinerlei Regelung zur Kriegsdienstverweigerung vorsieht. Die Bewegung der Kriegsdienstverweigerer, die seit nunmehr 30 Jahren aktiv ist, hat daran trotz verschiedener Kampagnen und großem persönlichem Einsatz der Aktiven bislang nichts ändern können. Auf der anderen Seite gibt es inzwischen weniger Fälle von Kriegsdienstverweigerern, die inhaftiert werden. Im Folgenden gibt Rudi Friedrich von Connection e. V. für die Graswurzelrevolution einen aktuellen Überblick. (GWR-Red.)

 

Die Situation der Kriegsdienstverweigerer ist davon gekennzeichnet, dass sie einem nicht endenden Kreislauf von Rekrutierung, Verweigerung und Strafverfolgung ausgesetzt sind. Dieser Kreislauf kann ein Leben lang andauern, da die Wehrpflicht keiner Altersbegrenzung unterliegt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die dadurch entstehende Situation der Verweigerer, gekennzeichnet durch eine weitgehende Einschränkung der Teilhabe am öffentlichen Leben, bereits 2006 als „Zivilen Tod“ (1) beschrieben. Faktisch werden sie mit Geldstrafen überzogen und sehen sich sogleich damit konfrontiert, dass ihnen eine Vielzahl wesentlicher bürgerlicher Rechte entzogen wird. In einer aktuellen Stellungnahme an das Ministerkomitee des Europarates schildert der Istanbuler Verein für Kriegsdienstverweigerung „Vicdani Ret Derneği“, was ihm von den Verweigerern dazu insbesondere genannt wurde: Ich kann nicht wählen gehen; mir wurde gekündigt; meine Reisefreiheit ist stark eingeschränkt; mir wird das Recht auf Ausbildung oder Studium verwehrt; mein Bankkonto wurde beschlagnahmt; ich kann nicht sozialversichert arbeiten; ich wurde mehrmals wegen der gleichen Straftat verfolgt. (2)

Immer wieder wurde uns von den Verweigerern berichtet, wie sich der Zustand des „Zivilen Todes“ in ihrem Alltagsleben zeigt. Wenn sie in einem Hotel übernachten oder mit dem Bus in eine andere Stadt fahren, finden routinemäßig Kontrollen der Sicherheitsbehörden statt. Das kann selbst auf der Straße oder bei einer privaten Autofahrt passieren. Die Polizei stellt dann fest, dass der Militärdienst nicht abgeleistet wurde. Beim ersten Mal gibt es noch eine schriftliche Aufforderung, sich innerhalb von zwei Wochen beim Militär zu melden. Wer dem aber nicht nachkommt, wird zu einer Geldstrafe verurteilt. Und dies kann jeden Tag neu passieren. Die Verweigerer leben in ständiger Angst, aufgegriffen zu werden, und versuchen soweit wie möglich, Wege und Situationen zu meiden, in denen Polizeikontrollen drohen.

Zum Beispiel Kamil Murat Demir. Der 37-jährige Journalist erklärte im Mai 2018 seine Kriegsdienstverweigerung. Als kritischer Journalist in der Türkei zu arbeiten, ist schwierig genug. Als erklärter Kriegsdienstverweigerer unterwegs zu sein, erhöht das Risiko einer Verhaftung erheblich. So wurde er bis jetzt fast 50-mal verhaftet. Bei jeder Kontrolle, bei jedem Hotelaufenthalt wird sein Militärstatus überprüft und festgestellt, dass er seinen Militärdienst noch nicht abgeleistet hat. Insgesamt sind bislang 11 Strafverfahren gegen ihn eröffnet worden.

In der Stellungnahme an das Ministerkomitee berichtet der Verein für Kriegsdienstverweigerung auch über Uğur Yorulmaz: „Der Arbeitgeber von Uğur Yorulmaz wurde am 30. November 2016 vom Verteidigungsministerium über den Status von Uğur Yorulmaz als Militärdienstentzieher informiert. Wenn er nicht innerhalb von 15 Tagen ein entsprechendes Dokument bei der Rekrutierungsabteilung vorlegen würde, würde gegen den Arbeitgeber ein Ermittlungsverfahren wegen unrechtmäßiger Beschäftigung eines Militärdienstentziehers eingeleitet. Daher beendete der Arbeitgeber den Vertrag.“ (3) Uğur Yorulmaz legte gegen diese Entscheidung Beschwerde beim Verfassungsgericht der Türkei ein, die jedoch als unzulässig abgewiesen wurde.

Osman Murat Ülke, der vor fast 30 Jahren seine Kriegsdienstverweigerung erklärt hatte und mehrmals deswegen in Haft saß, berichtete in einem Video im Mai 2021: „Ich glaube, es war vor etwa drei Jahren, als die Militärgerichte geschlossen und die Fälle der Militärgerichte an die Zivilgerichte übertragen wurden. Zu dieser Zeit wurden auch meine Strafverfahren von den Militärgerichten in Eskişehir den Zivilgerichten übergeben. Ich wurde aufgefordert, erneut eine Aussage zu meinen Fällen zu machen, die bis ins Jahr 1999 zurückreichen. Ich ging zum Polizeirevier und berichtete über die Fälle der Desertion und der wiederholten Befehlsverweigerung, die seither anhängig sind. Ich sagte ihnen, dass dies ein sehr altes Verfahren ist und dass ich meine Aufforderung zur erneuten Aussage in diesen Fällen als einen neuen Verstoß betrachte. Seit dieser Aussage von mir hat sich nichts mehr getan. (…) Als ich letztens mit dem Auto von Kappadokien nach Mersin fuhr, wurden wir kurz vor unserem Ziel von einer Polizeikontrolle gestoppt. Sie kontrollierten meinen Ausweis, und ich wurde als Deserteur identifiziert. Die Beamten versuchten zunächst, mich zu verhaften, aber nach einem Gespräch mit ihren Vorgesetzten änderten sie ihre Meinung und stellten mir einen offiziellen Bescheid aus, in dem sie mich aufforderten, mich innerhalb von 15 Tagen zu meiner Militäreinheit zu begeben.“ (4) Dieser Aufforderung ist Osman Murat Ülke nicht nachgekommen.

 

Kriegsdienstverweigerung als politische Aktion

 

In der Türkei gibt es nur wenige Kriegsdienstverweigerer, die öffentlich auftreten oder über die berichtet wird. Auch „Vicdani 
Ret Derneği“, der Verein für Kriegsdienstverweigerung, hält sich mit öffentlichen Aktionen zurück. Das liegt an der allgemeinen repressiven Politik der türkischen Regierung gegenüber der Opposition. Jede öffentliche Äußerung gegen Krieg und die Kriegseinsätze der Türkei in den kurdischen Gebieten im Osten des Landes, im Norden Syriens und Iraks, in Libyen oder Aserbaidschan, jede öffentliche Unterstützung der Kriegsdienstverweigerer kann zu strafrechtlicher Verfolgung führen.

Zuletzt wurde der Fall von Zana Aksu bekannt, der wegen Befehlsverweigerung zu 18 Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe von 10.000 TL (900 €) verurteilt wurde, weil er sich dem Dienst in der türkischen Armee verweigert. Als Journalist hatte er immer wieder über die Militäreinsätze der türkischen Armee sowie über die Kämpfe in Cizre und Şırnak in den Jahren 2015 und 2016 berichtet. Die türkischen Behörden reagierten darauf mit Ermittlungsverfahren wegen Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in einer Terrororganisation. Das Urteil wegen Befehlsverweigerung ist noch nicht rechtskräftig, sodass Zana Aksu bislang nicht inhaftiert ist. (5)

Verschiedene Verfahren wurden auch gegen Mitglieder des Vereins für Kriegsdienstverweigerung eröffnet, so gegen die Co-Vorsitzende Merve Arkun und den Rechtsanwalt des Vereins, Davut Erkan. Es traf auch einfache Mitglieder des Vereins wie Furkan Çelik und Abdülmelik Yalçın. Einige der Verfahren wurden inzwischen eingestellt, das Verfahren gegen Yalçın ist weiter anhängig. (6)

Kurz gesagt, nicht nur die Kriegsdienstverweigerer, sondern auch die Aktiven des Vereins oder Journalist*innen, die sich für die Kriegsdienstverweigerer einsetzen, sind von Ermittlungsverfahren und Strafverfahren bedroht, jederzeit. Möglich machen dies der Artikel 301 des Türkischen Strafgesetzbuches wegen „Beleidigung militärischer Institutionen des Staates“ sowie der Artikel 318 zur „Distanzierung des Volkes vom Militär“. Damit werden kritische Äußerungen zum Militär oder auch die Aufforderung zur Kriegsdienstverweigerung unter Strafe gestellt. Relevant ist ebenso der Artikel 7 Abs. 2 des Anti-Terrorismus-Gesetzes, der vielfach gegen Friedensaktivist*innen eingesetzt wurde und „Propaganda für eine terroristische Organisation“ unter Strafe stellt.

Da die Situation der Kriegsdienstverweigerer und das Engagement für diese im Land so schwierig sind, erheben eher die Verweigerer ihre Stimme, die in den letzten Jahren ins Exil gegangen sind. Sie wandten sich in Aufrufen gegen Militäreinsätze, wie z. B. 2019 gegen den Einmarsch der türkischen Truppen in Afrin im Norden Syriens: „Sei kein Soldat der Invasion! Die Besatzung ist ein Versuch, die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Rechte der syrischen Kurd*innen zu zerstören. Die Invasion ist ein völkerrechtswidriger Krieg. Sie verletzt internationales Recht. Als Kriegsdienstverweigerer und Kriegsgegner*innen stellen wir uns gegen diese Besatzung. Wir werden uns nicht an der Besatzung beteiligen und fordern alle auf, sich gegen diese ethnische Säuberungsaktion zu stellen! Verweigere, leiste Widerstand! Geh nicht zum Militär!“ (7)

Bemerkenswert daran ist vor allem, dass die Unterzeichner dieser Erklärung dazu aufgerufen hatten, den Militärdienst zu verweigern. Auch wenn nicht bekannt ist, ob sich Wehrpflichtige mit ihrer Entscheidung auf diesen Aufruf bezogen: In der Tat gab es in den folgenden Monaten einige, die ihre Verweigerung öffentlich erklärten. Es waren dennoch nur Einzelfälle.

 

Abstimmung mit den Füßen

 

Während des Krieges um Afrin stieg in Istanbul die Zahl der Anfragen von Rekruten bei Menschenrechtsorganisationen und Unterstützer*innen von Kriegsverweigerern an. Wehrpflichtige baten um Hilfe, damit sie nicht eingezogen werden. Sie wollten nicht zum Militär, um nicht in Afrin oder anderen Kriegsgebieten zu kämpfen. Gleichzeitig wollten sie nicht, dass ihr Anliegen publik wird.

Die Zahl der Personen, die ihre Kriegsdienstverweigerung erklärt haben, ist nicht bekannt. Zwischen 1989 und 2021 haben 409 Personen dem Verein für Kriegsdienstverweigerung mitgeteilt, dass sie ihre Kriegsdienstverweigerung öffentlich gemacht haben. Unbekannt ist die Zahl der Männer, die ihre Erklärung nicht dem Verein mitgeteilt haben. So wird geschätzt, dass die Gesamtzahl der Kriegsdienstverweigerer sehr viel höher ist. (8)

Eine sehr große Zahl an Männern kommt den Aufforderungen, sich zum Militärdienst zu melden, nicht nach, ohne ihre Verweigerung und dessen Gründe öffentlich bekannt zu geben. Sie werden unter der Kategorie „Militärdienstentzieher“ geführt. Laut einer Information des Verteidigungsministeriums gab es im März 2017 ungefähr 450.000 „Militärdienstentzieher“. (9) Neuere Zahlen sind nicht bekannt.

Hinzu kommen noch jene Wehrpflichtigen, die über Jahre hinweg als Militärdienstentzieher in der Türkei lebten und sich schließlich über besondere gesetzliche Regelungen von der Ableistung des Militärdienstes freigekauft haben. Solche Regelungen wurden bis Mitte 2019 immer wieder nur für einen kurzen Zeitraum beschlossen. Seitdem gibt es eine permanente im Gesetz verankerte Regelung einer Ersatzzahlung, die jedoch die Ableistung einer einmonatigen Grundausbildung zur Bedingung macht. (10)

Zahlen über weitere Gruppen sind einer Antwort des Verteidigungsministeriums auf eine parlamentarische Anfrage zu entnehmen. Danach hatten 155.059 Männer zwischen 1. Januar 2015 und 31. Juli 2017 Untauglichkeitsbescheinigungen vorgelegt. (11) Des Weiteren haben sich, wiederum laut Zahlen 
des Verteidigungsministeriums, 2.800.000 Männer vom Militärdienst zurückstellen lassen. (12)

Tatsächlich versuchen demnach mehrere Millionen, dem Militärdienst zu entkommen. Es scheint also, dass es ein hohes Maß an unsichtbarem Ungehorsam gibt. Es ist eine Abstimmung mit den Füßen. Unter den momentanen Umständen einer umfassenden Unterdrückungspolitik sind die Chancen nicht sehr groß, dass dies ans Licht kommt. Einzelne öffentliche Erklärungen sind jedoch ein wesentlicher Beitrag dazu.

 

Aktionsplan der türkischen Regierung

 

Von 2012 bis 2016 gab es weitere Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zur Kriegsdienstverweigerung in der Türkei. Der Gerichtshof stellte darin fest, dass auf Grundlage des Artikels 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention die Kriegsdienstverweigerung ein Menschenrecht darstellt. Die Türkei wurde zugleich aufgefordert, dem Rechnung zu tragen und gesetzgeberische Schritte einzuleiten. (13)

Hier kommt das Ministerkomitee des Europarates ins Spiel. Es hat die wichtige Aufgabe, die Umsetzung der Urteile des EGMR zu beobachten und notwendige Änderungen anzumahnen. Da es zur Frage der Kriegsdienstverweigerung in der Türkei mehrere Urteile des EGMR gibt, fasste das Ministerkomitee diese Fälle in der Ülke-Gruppe zusammen. Zuletzt forderte das Komitee die Türkei im Juni 2020 auf, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung anzuerkennen, und stellte fest, dass „trotz der Zusage der Regierung bei früheren Überprüfungen des Komitees, Gesetzesänderungen voranzutreiben, keine Fortschritte erzielt wurden; die Regierung (wurde) daher aufgefordert, bis zum 21. Juni 2021 einen Aktionsplan mit konkreten Vorschlägen zu Maßnahmen vorzulegen, um die Feststellung des Gerichtshofes zu dieser Gruppe von Fällen zu berücksichtigen.“ (14)

Im August 2021 legte die türkische Regierung schließlich einen Aktionsplan vor. Das Wort Kriegsdienstverweigerung 
taucht darin nur auf, um auf die Beschlüsse des EGMR zu verweisen. Tatsächlich gibt es keinen Hinweis auf irgend-welche Vorhaben, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung umzusetzen. Stattdessen wird ausgeführt, dass mit einer Gesetzes-
änderung im Jahr 2019 die Dauer des Militärdienstes von 12 Monaten auf 6 Monate verkürzt wurde und dass das System des verkürzten „Wehrdienstes gegen Bezahlung“ dauerhaft eingeführt wurde. „In diesem Fall“, so die türkische Regierung, „kann der Betroffene die Möglichkeit gegen Zahlung eines bestimmten Betrags in Anspruch nehmen. Die Wehrpflicht gilt als erfüllt, wenn die Betroffenen eine einmonatige Grundausbildung absolviert haben.“

Die türkische Regierung versucht also, sich aus der Verantwortung zu stehlen, und greift auf althergebrachte – und erfolgreiche – Strategien zurück, um den Widerstand der Wehrpflichtigen gegen ihre Zwangsrekrutierung in den Griff zu bekommen. Seit vielen Jahren gibt es für türkische Wehrpflichtige, die im Ausland leben, eine Freikaufsregelung. Und diese Regelung sah lange die Zahlung einer größeren Summe plus mehrwöchigem Militärdienst vor. (15) Das lief für die Türkei lange gut und war ein einträgliches Geschäft. 2012 wurde aber die Auflage, einige Wochen Militärdienst abzuleisten, für türkische Wehrpflichtige im Ausland aufgehoben. (16) Die Idee wurde 2019 wieder aufgegriffen, aber nur für türkische Wehrpflichtige, die in der Türkei leben.

Aktuell wird also der Versuch gestartet, gegenüber dem Ministerkomitee des Europarates die neue Regelung als Lösung für das Problem der Kriegsdienstverweigerung zu präsentieren. Für den Verein für Kriegsdienstverweigerung ist die Antwort auf dieses Vorgehen klar: Ein Monat ist ein Monat zu viel. Und so schreibt er in seiner Stellungnahme an das Ministerkomitee: „Jeder, der sich für den bezahlten Militärdienst entscheidet, muss noch eine einmonatige militärische Grundausbildung absolvieren, die auch das Tragen der Uniform beinhaltet. Dies ist für Personen, die den Militärdienst und das Tragen der Uniform kategorisch ablehnen, nicht möglich. Zudem können nach Artikel 9 Abs. 6 Personen, die ihren Militärdienst bereits angetreten haben, sowie Personen, die sich der Erfassung oder Einberufung entziehen, desertiert oder untergetaucht sind, diese Möglichkeit nicht in Anspruch nehmen. Die Feststellung des Gerichtshofs, dass das in der Türkei geltende System der Wehrpflicht den Bürgern eine Verpflichtung auferlegt, die schwerwiegende Folgen für Kriegsdienstverweigerer haben kann, da es keine Ausnahmen aus Gewissensgründen zulässt, ist daher weiterhin gültig.“ (17)

 

Kriegsdienstverweigerung und Asyl

 

Wir wissen noch nicht, wie das Ministerkomitee darauf reagiert, das Bundesamt für Migration hat das Modell der türkischen Regierung auf jeden Fall schon einmal dankbar aufgegriffen und verwies Kriegsdienstverweigerer aus der Türkei, die sich in Deutschland im Asylverfahren befinden, auf diese Möglichkeit: „Wie dargestellt, ist es grundsätzlich möglich, sich von der Wehrpflicht freizukaufen. Auch wenn im Herkunftsland damit nicht ausdrücklich eine Gewissensentscheidung als solche geprüft oder gar gewürdigt wird, bleibt dem jeweiligen Betroffenen die Möglichkeit eröffnet, eine seinem Gewissen entsprechende Entscheidung durchzusetzen. Dem wird sich nicht entgegenhalten lassen, dass er hierzu finanzielle Mittel aufwenden muss.“ (18)

Hier trifft sich das Interesse der Türkei, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung zu verwehren, mit dem Interesse der deutschen Regierung, Flüchtlinge abzuwehren. Der Begriff „Freikaufsregelung“ wird wörtlich und als bare Münze genommen. Das Anliegen und die Rechte der Betroffenen werden in keinster Weise ernst genommen.

Das entspricht einer generellen Haltung gegenüber Kriegsdienstverweigerern in Asylverfahren, die aufgrund drohender Verfolgung in ihren Herkunftsländern Schutz in anderen Ländern suchen. Im Juni 2020 legte Julia Idler eine ausführliche Untersuchung dazu vor, wie sich die Flüchtlingsanerkennung von Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren nach der Genfer Flüchtlingskonvention entwickelt hat. Sie untersuchte dazu insbesondere die Rechtsprechung in Deutschland und den angloamerikanischen Staaten und kommt zu dem Schluss, dass in der Europäischen Union wie auch in Kanada, den USA und Großbritannien die obergerichtliche Rechtsprechung weiter darauf verweist, dass „es sich bei der Wehrpflicht um eine allgemeine staatliche Pflicht handelt, die alle Bürger (oder jedenfalls alle Bürger im wehrfähigen Alter und gegebenenfalls männlichen Geschlechts) gleichermaßen trifft; Strafverfolgung und Bestrafung für eine Verweigerung wird daher als legitimes staatliches Handeln eingestuft.“ (19)

Bezüglich der Türkei wäre das aufgrund eines Urteils des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte aus dem Jahr 2011 anders zu bewerten. Im Fall Bayatyan gegen Armenien hatte der Gerichtshof ausdrücklich die Kriegsdienstverweigerung als Menschenrecht anerkannt, als Ausfluss des Artikels 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention. (20) Bislang wird dies allerdings in aller Regel ignoriert oder mit der Begründung abgewehrt, dass der Betreffende nicht ausreichend seine Gewissensgründe zur Kriegsdienstverweigerung vorgetragen habe.

 

Handlungsoptionen und Ausblick

 

Eine baldige Einführung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung in der Türkei ist nicht in Sicht. Die türkische Regierung versucht mit ihrem Aktionsplan, auf die Forderungen des Ministerkomitees einzugehen, um sie zugleich auf keinen Fall zu erfüllen. Sicher ist es auch wenig sinnvoll und nicht zielführend, sich nur auf eine juristische Auseinandersetzung über die Auslegung einzelner Bestimmungen einzulassen, auch wenn diese Rechtsinterpretationen zum Teil entscheidend für die Betroffenen sind. Angesichts der repressiven Situation in der Türkei ist zudem kaum damit zu rechnen, dass es im Land selbst genügend Druck gibt, um eine Änderung herbeizuführen. Trotz einiger öffentlicher Erklärungen von Kriegsdienstverweigerern ist nicht zu erwarten, dass dies zu einer breiten, sichtbaren und wirklich wirkmächtigen Bewegung werden könnte. Welche Handlungsoptionen für die Durchsetzung eines Rechts auf Kriegsdienstverweigerung bleiben dann eigentlich?

Eine baldige Änderung ist nicht zu erwarten. Angesichts der bestehenden Situation ist es aber sehr wohl sinnvoll, langfristig Optionen offen zu halten und Strukturen zu schaffen bzw. auszubauen.

Ein wichtiger Bestandteil davon ist sicher, die Stimmen der Kriegsdienstverweigerer in der Türkei wie auch der Verweigerer im Exil immer wieder hörbar und sichtbar zu machen, in der Türkei wie auch international. Dafür hat der Verein für Kriegsdienstverweigerung im Verbund mit verschiedenen Organisationen auf internationaler Ebene im letzten Jahr sehr viel getan. Verweigerungserklärungen werden in einem zweimonatlich erscheinenden Bulletin veröffentlicht. Zum Internationalen Tag der Kriegsdienstverweigerung, dem 15. Mai, wurden verschiedene Videobeiträge erstellt. War Resistersʼ International (WRI) bot mehrere Webinare zum Thema an. Connection e. V. konnte mehrere im Exil aktive Verweigerer zusammenbringen und mit ihnen eine Broschüre herausbringen, in der sie sehr eindrücklich ihre Erfahrungen, Reflexionen und Forderungen schildern.

Ein weiteres Standbein der Unterstützung ist Lobbyarbeit. Sie wird auf der Ebene einiger nationaler Parlamente wie auch auf europäischer Ebene, im Europarat und auf der Ebene der Vereinten Nationen durchgeführt. Wesentlich dafür ist die schon erwähnte sehr aufwändige und umfangreiche Studie, die vom Verein für Kriegsdienstverweigerung im Juli 2021 erstellt wurde. (21)

Die Auseinandersetzung im Ministerkomitee des Europarates wird mit der oben zitierten aktuellen Stellungnahme fortgeführt. Sie entstand im Verbund mit einer Reihe von Organisationen, die in verschiedenen Ländern oder international tätig sind. So unterschiedlich diese Organisationen arbeiten und so verschieden ihre Ansätze sind, so sind sie doch eine große Stärke für die weitere Arbeit.

Gemeinsam mit den Verweigerern wurde auch immer wieder die Forderung stark gemacht, dass Kriegsdienstverweigerer aus der Türkei Asyl erhalten müssen. Dies war Thema bei den Aktionen zum Internationalen Tag der Kriegsdienstverweigerung. Einige Verweigerer, die sich im Asylverfahren befinden, setzen sich intensiv und öffentlich mit der Praxis des Bundesamtes für Migration auseinander. Und auch zu diesem Thema wird Lobbyarbeit betrieben.

Und nicht zuletzt: Die verschiedenen Stränge können dazu beitragen, dass es mit dem Verein für Kriegsdienstverweigerung und den dort Aktiven eine kontinuierliche Interessenvertretung gibt, eine Anlaufstelle für Beratung und juristische Unterstützung, eine Institution, die Fakten zusammenträgt, auswertet und immer wieder mit verschiedenen Möglichkeiten an die Öffentlichkeit bringt und damit kontinuierlich Lobbyarbeit betreibt.

 

Rudi Friedrich

 

Rudi Friedrich ist Mitarbeiter von Connection e.V. Der Verein arbeitet seit fast 30 Jahren eng mit Antimilitarist*innen aus der Türkei zusammen.

 

Anmerkungen:

(1) EGMR: Ülke v. Turkey, application no. 39437/98 vom 24.1.2006.

(2) Stellungnahme an das Ministerkomitee des Europarates zu den Fällen der Ülke-Gruppe. 3. November 2021. https://de.Connection-eV.org/pdfs/2021-11-03_SubmissionTR-de.pdf

(3) a. a. O.

(4) Osman Murat Ülke: Es sind nun schon fast 30 Jahre. https://www.youtube.com/watch?v=b9HSmtSmMjc

(5) ANF, 18. September 2021. https://kurzelinks.de/rauc

(6) Studie „Conscientious Objection to Military Service in Turkey“, herausgegeben von Vicdani Ret Derneği, Juli 2021. https://en.connection-ev.org/pdfs/expert-opinion-turkey-2021.pdf

(7) Türkei: Sei kein Soldat der Invasion!, 23. Oktober 2019. https://de.Connection-eV.org/article-2906

(8) Einleitung zur Studie „Conscientious Objection to Military Service in Turkey“, herausgegeben von Vicdani Ret Derneği, Juli 2021. https://de.Connection-eV.org/article-3359

(9) http://www.hurriyet.com.tr/gundem/bakandan-flas-bedelli-askerlik-aciklamasi-40389541

(10) Informationen türkischer Aktivist*innen vom 28. Juli 2018 sowie https://www.haberler.com/bedelli-askerlik-duzenlemesini-iceren-torba-yasa-11110097-haberi/. Rekrutierungsgesetz (Kanun 7179) vom 26. Juni 2019, Artikel 9. https://de.Connection-eV.org/article-2881

(11) http://www.haber7.com/siyaset/haber/2461072-bakan-acikladi-curuk-raporunda-rekor

(12) Nach Artikel 35 des Gesetzes 1111 zur Wehrpflicht gibt es verschiedene Gründe für eine Zurückstellung wie Ausbildung und gesundheitlicher Zustand.

(13) Ülke v. Türkei, Antrag Nr. 39437/98, 24. April 2006, Buldu und andere v. Türkei, Antrag Nr. 1417/08, 3. September 2014, Enver Aydemir v. Türkei, Antrag Nr. 26012/11, 7. September 2016, Erçep v. Türkei, Antrag Nr. 43965/04, 22. Februar 2012, Feti Demirtaş v. Türkei, Antrag Nr. 5260/07, 17. April 2012, Savda v. Türkei, Antrag Nr. 42730/05, 12. September 2012, Tarhan v. Türkei, Antrag Nr. 9078/06, 17. Oktober 2012.

(14) Committee of Ministers: H46-40 Ülke group v. Turkey (Application no 39437/98), 13377th meeting, 4. Juni 2020, CM/Del/Dec(2020)1377/H46-40. https://de.Connection-eV.org/article-3080

(15) Gürsel Yıldırım und Julian Irlenkäuser: Türkei – Die „Freikaufsregelung“ – Ein Milliardengeschäft. 28. Oktober 2013. https://de.connection-ev.org/article-1907. Aktuelle Informationen zur Freikaufsregelung unter https://de.Connection-eV.org/article-1609

(16) Gürsel Yıldırım und Julian Irlenkäuser: Die Freikaufsregelung – Ein Milliardengeschäft. In: Türkei – Es gibt viele Gründe Nein zu sagen, Offenbach 2013

(17) Stellungnahme vom 3. November 2021, a. a. O.(18) Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. 5.8.2019. AZ 7762627-163

(19) Julia Idler: Die Flüchtlingsanerkennung von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren nach der Genfer Flüchtlingskonvention, Nomos Verlag, Baden-Baden 2020

(20) Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Entscheidung vom 7. Juli 2011, Antrag Nr. 23459/03

(21) Download unter https://en.connection-ev.org/pdfs/expert-opinion-turkey-2021.pdf

 

Umfangreiche Informationen mit Links zu Videos, Stellungnahmen und Broschüren sind zu finden in Türkisch unter https://www.vicdaniret.org, in Deutsch unter https://de.Connection-eV.org/CO_Turkey, in Englisch unter https://en.Connection-eV.org/CO_Turkey

 

Spendenaufruf

Der Verein für Kriegsdienstverweigerung hatte für die Arbeit für ein Jahr Gelder eingeworben. Connection e. V. hatte im Mai 2021 eine Spendenkampagne durchgeführt, um ein weiteres Jahr die Arbeit stabilisieren zu können. Der Verein ist jedoch weiterhin dringend auf Unterstützung angewiesen. Wie das geht? Ganz einfach über https://de.connection-ev.org/spende-tuerkei-form

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 464, Dezember 2021, www.graswurzel.net