Aufrüstung als Antwort auf die Klimakrise
Am 7. Februar 2022 veröffentlichte Mark Brnovich, der General Attorney von Arizona, ein Rechtsgutachten. Darin wird der Versuch von Flüchtenden, die hoch gesicherte Grenze zwischen Mexiko und den USA zu überqueren, als eine »Invasion« von Drogen- und Schmuggelkartellen bezeichnet. Dieser Umstand erlaube es dem Gouverneur des Bundesstaates, mit Bezug auf das Kriegsrecht die Nationalgarde zu entsenden, um die 650 Kilometer lange Grenze zu verteidigen. Der Gouverneur von Arizona, Doug Ducey, der die Nationalgarde schon mehrfach an der Grenze eingesetzt hatte und auch die Mittel der Grenzüberwachung aufstocken ließ, verkündete daraufhin, sein Bundesstaat sei schon wirksam geschützt. Dennoch mehren sich die Anzeichen, dass sich viele Republikaner*innen der Forderung anschließen könnten, mit Kriegsbefugnissen gegen Flüchtende vorzugehen – so wie sie bereits in Trumps Schlachtruf an der Grenzmauer zu Mexiko eingestimmt haben.
Der Fall wirft nicht nur Fragen nach dem gesellschaftlichen Umgang mit Migration auf, sondern auch nach der Richtung staatlicher Migrationspolitik, insbesondere vor dem Hintergrund der zunehmenden globalen Vertreibung infolge der Klimakatastrophe. Menschen in Not, die gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, werden nicht von Rettungssanitäter*innen in Empfang genommen, sondern von bewaffneten Sicherheitskräften, die sie wie Eindringlinge behandeln.
Wie kommt es, dass militärische Mittel zur Standardreaktion auf soziale Krisen geworden sind, ganz zu schweigen von den aktuellen geopolitischen Konflikten wie der russischen Invasion in der Ukraine oder auch den vergessenen Kriegen in Syrien und dem Jemen?
Die Welt ist es gewöhnt, die US-Politik wie einen verrückten Ausreißer zu behandeln. Doch auch die britische Innenministerin Priti Patel schlägt vor, dass die britische Marine Asylsuchende zurück nach Frankreich drängen solle. Unterdessen lässt die griechische Küstenwache Flüchtende absichtlich ertrinken. Der Trend einer Militarisierung der Migrationsabwehr ist global.
Flüchtende und Migrant*innen als Feinde zu sehen und entsprechend zu behandeln und der Aufruf, sie mit militärischen Mitteln zu bekämpfen – es sind nur die sichtbarsten Zeichen einer militärischen Bearbeitung der Klimakrise und es sind bei Weitem nicht die einzigen. Führende Politiker*innen wie US-Präsident Biden und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen führen die Konflikte und die staatliche Instabilität ärmerer Länder als Gründe dafür an, ihre Militär- und Sicherheitsapparate auf die Bewältigung der Klimafolgen vorzubereiten. Ihre Warnungen sind Teil eines Framings, das die Opfer der Klimakrise als eine grundlegende »Bedrohung« des Westens sieht.
Krisenbearbeitung mit gezogener Waffe
Diese Haltung entspringt einer langen, kolonial geprägten Geschichte. In ihr war die Welt eingeteilt in »zivilisierte« schützenswerte Menschen und »barbarische« Menschen, die es zu unterdrücken oder gar zu töten galt. Diese Haltung hat sich seither weiterentwickelt und wurde zuletzt in den nationalen Sicherheitsstrategien von einigen der reichsten Länder deutlich. Während die reichsten Länder mit der schlechtesten Klimabilanz es versäumen, die Klimakrise einzudämmen (zuletzt auf der zu Recht als #blahblahblah bezeichneten Weltklimakonferenz COP26), arbeiten ihre Militärs intensiv an kostspieligen und weitreichenden Plänen zur Anpassung an die Klimafolgen.
Zu diesen sicherheitsstrategischen Überlegungen gehört der US-Bericht von 2007 »Age of Consequences: The Foreign Policy and National Security Implications of Global Climate Change«, das »Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr« und zuletzt der NATO-Aktionsplan für Klimawandel und Sicherheit 2021.
All diese Pläne sind von der wahrgenommenen ›Bedrohung‹ durch Massenmigration dominiert. In einem EU-Bericht aus dem Jahr 2008 über Klimawandel und internationale Sicherheit wird die klimabedingte Migration an vierter Stelle der zentralen Sicherheitsprobleme genannt (nach Ressourcenkonflikten, wirtschaftlichen Schäden in Städten und Küstenregionen und territorialen Konflikten). Der Bericht fordert dann die »Weiterentwicklung einer umfassenden europäischen Migrationspolitik« angesichts des »umweltbedingten zusätzlichen Migrationsdrucks«.
Milliarden für Mauern
Solche Warnungen haben der Militarisierung der Grenzen, die auch ohne die Warnungen vor der Klimakrise weltweit hegemonial geworden sind, einen weiteren Schub gegeben.
In Europa stehen mehr als 1 200 Kilometer Grenzmauern, die größtenteils nach 2015 gebaut wurden. Und überall schießen weitere Mauern aus dem Boden, inzwischen sind es weltweit 63. Gleichzeitig haben sich seit dem Ende des Kalten Krieges auch die weltweiten Militärausgaben verdoppelt.
Nahezu keine dieser Maßnahmen zielt auf den Schutz oder die Unterstützung von Migrant*innen. Noch weniger richten sie sich auf die Ursachen, die Menschen dazu bringen, unter gefährlichen oder gar tödlichen Bedingungen zu migrieren.
Ein Beispiel sind die Einsätze der EU-Flotte auf dem Mittelmeer, die sich inzwischen nicht mehr zur Rettung von Migrant*innen verpflichtet sehen, sondern hauptsächlich dazu dienen, Flüchtende zur Rückkehr nach Nordafrika zu zwingen. Ein Bericht des Transnational Institute unter dem Titel »The Global Climate Wall« (Miller/Buxton/Akkerman 2021) zeigt, dass die reichsten Länder inzwischen mindestens doppelt so viel für Grenzsicherung und Migrationsabwehr ausgeben wie für die Klimafinanzierung. Im Fall der USA ist es sogar elfmal so viel. Mit anderen Worten: Anstatt Finanzmittel für einkommensschwächere Länder bereitzustellen, die den durch die Klimafolgen vertriebenen Menschen die Möglichkeit geben, ein neues Leben aufzubauen, investieren die reichsten Länder in Maßnahmen, die Migration noch gefährlicher und noch tödlicher machen.
Abschreckung und Tod
Das drückt sich in einer Sprache der Abschreckung aus, die viele europäische, US-amerikanische und australische Politiker*innen benutzen. Sie geht davon aus, dass die Migration schon irgendwie aufhören werde, wenn man sie so gefährlich wie möglich macht. Aber das Kalkül geht nicht auf. Die Logik der Abschreckung dämmt die Migration nicht ein, sondern macht sie nur noch tödlicher. Menschen, die verzweifelt sind, gehen Risiken ein, die sich viele von uns nicht einmal vorstellen können. Die Politik der Abschreckung hat das Mittelmeer in den Friedhof Europas verwandelt. Seit 2014 wurden mehr als 23 499 Tote gezählt – viele mehr konnten nicht einmal erfasst werden. Dieser Prozess läuft Tag für Tag ab und er normalisiert das Sterben der Opfer der Klimakrise. Es ist die Normalisierung dessen, was der kamerunische Philosoph Achille Mbembe als »Nekropolitik« bezeichnet hat. In ihr rekonstruiere sich die politische Ordnung als »eine Form der Organisation des Todes«, und zwar vor allem des Todes von Schwarzen Menschen und People of Color.
Keine Lösungen
Es bleibt die Frage, warum ausgerechnet Sicherheitsstrategien zur herrschenden Antwort auf eine Krise geworden sind, die sie nicht annähernd lösen können. Der jüngste Bericht des Weltklimarats, der wohl den aktuellsten Forschungsstand und den momentanen Konsens der Wissenschaft abbildet, lässt keinen Zweifel daran, dass die Klimakrise und ihre Folgen eng mit sozialer Ungleichheit verschränkt sind. Dort steht, dass die Folgen der Klimakrise hauptsächlich durch ein »Zusammenwirken verschränkter Strukturen sozioökonomischer Entwicklung, eine nicht nachhaltige Meeres- und Landnutzung, globale Ungleichheit, Marginalisierung, historisch gewachsene und anhaltende strukturelle Ungleichheit wie Kolonialismus und durch Regierungshandeln« verursacht werden. Mit anderen Worten: Um die Auswirkungen des Klimawandels verringern und uns anpassen zu können, müssen wir sowohl das Wirtschaftssystem als auch staatliche Strukturen so verändern, dass sie systemische Ungerechtigkeiten beseitigen. In keinem Fall bieten das Militär oder der Grenzschutz eine Lösung. Vielmehr sind es ebendiese Institutionen, die den ungerechten Status quo weiter aufrechterhalten.
Sicherheit für Wenige
Die Gründe hierfür sind vielfältig, doch sie fallen unter das, was Martin Luther King als die »drei großen Übel der Gesellschaft« bezeichnete: Rassismus, ökonomische Ausbeutung und Militarismus. Rassismus ist tief in die Sicherheitspolitiken eingebettet, die ohne Zweifel davon ausgehen, dass einige Leben Sicherheit verdienen und andere nicht.
Oder schlimmer noch, dass sich die Sicherheit einer Minderheit nur auf Kosten der Sicherheit vieler anderer herstellen lässt. Oft wird eine solche rassifizierte Angst vor dem ›Anderen‹ absichtlich mobilisiert, um zu verhindern, dass die Akteure, die eigentlich für die Ungerechtigkeit verantwortlich sind, in den Blick kommen.
Dieser wirkmächtige Kulturkampf bleibt häufig unbewusst, wie sich aktuell am Beispiel der Ukraine zeigt. Einige Regierungen, die Migrant*innen bisher am feindlichsten gegenüberstanden, öffnen plötzlich ihre Grenzen und bieten ukrainischen Flüchtenden kostenlose Zugreisen und Unterbringung an. »Dies sind nicht die Geflüchteten, die wir kennen […] diese Menschen sind Europäer*innen«, sagte der bulgarische Premierminister Kiril Petkow ohne jedes Schamgefühl. Ähnliches äußerten viele Kommentator*innen in den Medien.
Die unsichtbare Faust des Marktes
Hinter der militarisierten Form der Anpassung an den Klimakollaps steht die ökonomische Ausbeutung. Sie stellt den Kern des Problems dar, eben weil es dem Kapitalismus immanent ist, jegliche Kosten auf Mensch und Natur abzuwälzen, um Profite und Wachstum zu steigern. Um das zu gewährleisten, müssen die vom Kapitalismus verursachten Ungleichheiten ebenfalls überwacht und kontrolliert werden – umso mehr, wenn die Ursachen der Ausbeutung nicht angegangen werden und dies zu Widerstand, Revolten oder Konflikten führt. Wie der »liberale« New York Times-Kolumnist Thomas Friedman es ausdrückte: »Die unsichtbare Hand des Marktes wird niemals ohne eine unsichtbare Faust funktionieren. McDonald’s kann ohne McDonnell Douglas nicht florieren1 […] Und die unsichtbare Faust, die die Welt sichert, damit die Technologien des Silicon Valley gedeihen können, heißt US Army, Air Force, Navy und Marine Corps.« (Friedman 1999).
Teure Aufrüstung
Dieser Ansatz hat dazu geführt, dass die Ausgaben der USA für das Militär, die innere Sicherheit und die Grenzsicherung von Jahr zu Jahr gestiegen sind. Einen Sprung machten sie nach dem Terroranschlag auf die Türme des World Trade Centers im Jahr 2001.
Auch in Europa sind die Ausgaben für Militär und Sicherheit seit Mitte der 2000er Jahre kontinuierlich gestiegen, selbst im Zeitalter der Austeritätspolitik, wo öffentliche Ausgaben radikal beschnitten und gedeckelt werden.
Das Budget der EU-Grenzschutzagentur Frontex wurde von 5,2 Millionen Euro im Jahr 2005 auf 460 Millionen Euro im Jahr 2020 aufgestockt. Bereits jetzt sind bis zum Jahre 2027 weitere 5,6 Milliarden Euro für Frontex vorgesehen. Zudem bereitet sich die EU darauf vor, über den Europäischen Verteidigungsfonds 8 Milliarden Euro für die Finanzierung militärischer Forschung und Entwicklung bereitzustellen – deutlich mehr, als sie für die Bekämpfung von Covid-19 ausgegeben hat (5,3 Mrd. Euro).
Der Militärisch-Industrielle Komplex
Hinter diesen Prozessen steht eine Industrie, die die Militarisierung sowohl vorantreibt als auch von ihr profitiert. In Europa hat sich die Rüstungs- und Sicherheitsindustrie in den Korridoren der Brüsseler Apparate fest verankert. Sie erhält Forschungsaufträge, nimmt an hochrangigen Runden Tischen zum Thema Sicherheit teil, trifft sich mit Politiker*innen auf Waffenmessen und betreibt Lobbyarbeit für Gesetze, von denen sie profitiert. Viele Vorschläge der Verteidigungsindustrie, wie etwa der Vorstoß zur Einrichtung einer europaweiten Grenzschutzagentur – die heutige Frontex – haben sich auf diese Weise politisch durchgesetzt. Unternehmen wie Accenture, Airbus, G4S, GEO Group, Leonardo, Thales und Unisys haben einen Boom erlebt, gute Geschäfte gemacht und unermüdlich die Erzählung vorangetrieben, dass es nie genug ›Sicherheit‹ geben könne.
Die russische Invasion in der Ukraine wird diese Dynamik leider noch verstärken. Viele Staaten suchen erneut nach Lösungsstrategien im Militärischen und in der Verteidigungsindustrie. Die deutsche Entscheidung, den Militäretat in den nächsten fünf Jahren auf 100 Milliarden Euro zu erhöhen und gemäß den Vorgaben der NATO zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung auszugeben, wird Auswirkungen haben, die weit über den aktuellen Konflikt hinausgehen. Sie wird auch die Antworten Deutschlands (und anderer Länder, die sich aktuell rasch militarisieren) auf die Klimakrise prägen. Wenn Militär und Sicherheitsapparate die einzigen Institutionen sein werden, in die die Regierungen in den nächsten Jahren Geld investieren, ist es kaum überraschend, wenn sie automatisch auch dafür zuständig sind, die mit den Klimafolgen einhergehenden Unsicherheiten zu bewältigen.
Das Boot sinkt
Es ist offensichtlich, dass militärische und sicherheitspolitische Maßnahmen keine Lösungen für die Klimakrise sind – eine Krise, die durch unternehmerische Gier und strukturelle Ungleichheit verursacht wird. Es kann keine nationalistischen Lösungen geben, da Emissionen und Erderwärmung keine Grenzen kennen. Der US-amerikanische Journalist Christian Parenti hat die militarisierte Klimaanpassung als eine Politik des »bewaffneten Rettungsbootes« bezeichnet. Es sichert den Reichtum einiger Weniger und richtet die Waffen auf alle anderen. Doch wenn die Ursachen der Klimakrise nicht angegangen werden, muss auch das bewaffnete Rettungsboot am Ende sinken.
Der jüngste Bericht des Weltklimarates zeigt einen anderen Weg auf. Er argumentiert, dass die wirksamsten Formen einer »klimaresilienten Entwicklung« darin bestehen, »Strukturen der Ungerechtigkeit« zu bekämpfen, Finanzmittel für die vom Klimawandel am stärksten Betroffenen bereitzustellen und friedensstiftende Maßnahmen zu unterstützen. Dies bedeutet, so die Schlussfolgerung des Berichts, dass der Aufbau einer klimagerechten Wirtschaft den Abbau der Kriegswirtschaft erfordert. Um dies zu erreichen, ist es notwendig, breite Allianzen zu schmieden. Die neuen Klimabewegungen müssen enger zusammenarbeiten mit den Bewegungen gegen Krieg und Gewalt – den Friedensbewegungen und den Initiativen zur Entmilitarisierung und Ermächtigung marginalisierter Communities wie etwa die Black-Lives-Matter-Bewegung. Es bleibt so simpel wie wahr: No justice, no peace.
Aus dem Englischen von Lisa Ludwig.
Dieser Artikel ist in "Unangepasst" - Luxemburg 2/2022 erschienen. Die Zeitschrift kann kostenlos bestellt werden.