50 Jahre BAföG? Kein Grund zu feiern!

Das BAföG wird diesen Herbst 50 Jahre alt. Carlotta Kühnemann und Jonathan Dreusch nehmen das Jubiläum zum Anlass für eine kritische Bilanz.

In diesem Jahr feiert das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) sein 50-jähriges Jubiläum: es trat am 1. September 1971 in Kraft. Ziel des Gesetzes in seiner ursprünglichen Form war es, Schüler*innen und Studierende aus einkommensschwächeren Bevölkerungsschichten bei der Finanzierung ihrer Ausbildung zu unterstützen - kurzum: Chancengerechtigkeit im Bildungswesen herzustellen. Für diesen Zweck wurde das BAföG damals als Vollzuschuss konzipiert und ein Rechtsanspruch auf Förderung verankert. Der Satz der Höchstförderung wird anhand der Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks errechnet und die Bedarfssätze sowie Elternfreibeträge sollten alle zwei Jahre überprüft werden, um sie gegebenenfalls anzupassen.

Als Meilenstein auf dem Weg zu freier Bildung über sozio-ökonomische Klassengrenzen hinweg gestartet, ist das BAföG jedoch nicht gut gealtert. Denn jahrzehntelang wurde dem Gesetz vonseiten der Regierenden hart zugesetzt: von der faktischen Abschaffung der Schüler*innenförderung über eine zwischenzeitliche Umwandlung in ein Volldarlehen bis hin zu den jahrelang versäumten Anpassungen der Förderhöhe an reale Bedarfe und der historisch niedrigen Förderquote von aktuell unter elf Prozent aller Studierenden. Zum Vergleich: Bei der BAföG-Einführung 1971 wurden noch 45 Prozent der Studierenden gefördert.

In der Corona-Pandemie sind die versäumten Reformen schließlich unübersehbar geworden: Insbesondere Studierende aus der unteren Mittelschicht fallen durchs Raster. Auszubildende erhalten oft weder ausreichend Lohn noch genügend Berufsausbildungsbeihilfe, um sich über Wasser halten zu können. Doch auch schon vor Corona stand fest: In keinem anderen Industriestaat bestimmt die (soziale) Herkunft so sehr über den Bildungsweg wie in Deutschland. Denn das BAföG wirkt in seiner gegenwärtigen Verfasstheit dem Trend wachsender sozialer Ungerechtigkeit nur bedingt entgegen.

Das Festhalten am konservativen Familienbild

Das größte Problem an der der jetzigen Form des BAföG ist, dass es in seinen Grundprinzipien an einem konservativen Familienbild festhält, das weder erstrebenswert ist, noch den gegenwärtigen Realitäten entspricht. Eine heteronormative Mehrgenerationenfamilie, die eine Bedarfsgemeinschaft von den Großeltern bis zu den Enkelkindern bildet, stellt ein von Konservativen gern gepflegtes, sepiafarbenes Trugbild dar. Doch Ein-Eltern-Familien, Patchworkfamilien oder von ihren Eltern gänzlich entfremdete Studierende sind keine Ausnahmen. Vor allem Unterhaltsstreitigkeiten versperren vielen eine finanziell sorgenfreie Ausbildung - und zwar nicht nur bei getrennten Elternteilen. Schon die Annahme, kleinbürgerliche Familien würden ihre Kinder bedingungslos unterstützen, ist Selbstbetrug. Ein Selbstbetrug, der schon bei der BAföG-Einführung 1971 einer war.

Aber nicht nur die Ausbildungsfinanzierung in der BRD beruht auf dieser Ideologie. Auch große Teile des deutschen Sozialsystems arbeiten unter der Prämisse familiärer Unterstützungssysteme. Die Unionsparteien haben deshalb zu Recht Angst vor einer veränderten Förderlogik im BAföG, denn sie wäre zugleich ein Angriff auf das gesamte Fundament unserer Sozialsysteme - ein Angriff, der aber dringend nötig ist. Denn was sich gerecht anhört, nämlich die einkommensabhängige Direktförderung, blockiert in Wahrheit Chancengerechtigkeit. Der offensichtlichste Aspekt ist dabei die viel zu niedrig angesetzte Einkommensgrenze für Eltern. Viele Verbände und Parteien, wie etwa der Deutsche Gewerkschaftsbund, die SPD oder die Grünen, fordern deshalb eine Anhebung der bisherigen, mageren 2000 Euro monatlichem Bruttoeinkommen als Einkommensgrenze. Damit wäre in der Tat vielen geholfen. Aber das reaktionäre Familienbild als Grundproblem bleibt trotzdem weiter bestehen. Das Festhalten daran erzeugt im besten Fall einen aberwitzigen Verwaltungsaufwand für die Antragsteller*innen, deren Eltern, die Studierendenwerke und weitere Ämter. Für alle, deren Lebenssituation von der konservativen Norm abweicht, werden die staatliche Studienfinanzierung und der BAföG-Antrag dadurch zum Spießrutenlauf. Dafür reicht oftmals schon ein Elternteil, das seine Einkommensdaten nicht oder nur unzureichend offenlegen will. Und so ist es kein Zufall, dass zwei Drittel aller Student*innen einen Nebenjob ausüben und viele von ihnen existenziell darauf angewiesen sind.

Das System BAföG "funktioniert", weil sehr viele Studierende stillschweigend akzeptieren, dass sie weder von ihren Eltern ausreichend unterstützt werden (können) noch jemals genügend BAföG erhalten werden. Oder noch schlimmer: weil Studierwillige wegen mangelnder Finanzierungsmöglichkeiten erst gar kein Studium aufnehmen.

Die direkte Studienfinanzierung der eigenen Kinder wird so zu einem Handel, der nur für die Oberschicht wirklich aufgeht. Für sie wäre es nämlich teurer, durch angemessene Steuern zu einer solidarischen und gesamtgesellschaftlichen Finanzierung beizutragen. Noch teurer wären für sie aber die egalisierenden Effekte einer solchen Ausbildungsfinanzierung. Nicht etwa, weil höhere Steuern und ein paar studierte Arbeiter*innenkinder mehr die vorherrschenden Klassenverhältnisse grundsätzlich verändern könnten. Aber die "Gefahr" einer chancengerechten Studienfinanzierung, die auch sozial deprivilegierten Schichten offensteht, scheint Angriff genug zu sein, um dahingehende Reformen mit aller Macht abzulehnen. Wie gut das momentane BAföG-System zum Erhalt aktueller Machtverhältnisse beiträgt, zeigt sich darin, dass der Bildungserfolg in Deutschland im europäischen Vergleich sehr stark vom sozioökonomischen Status des Elternhauses abhängt.

Wäre dann nicht ein Konzept wie das der FDP gerechter, die Darlehen für alle, die sie benötigen, vorschlägt? Natürlich nicht! Ein solches System würde de facto für alldiejenigen nichts ändern, die jetzt schon von ihren Eltern komfortabel unterhalten werden. Für alle anderen würde ein Studium dann aber zur Verschuldung führen oder aber sie müssten ihren Lebensunterhalt neben dem Studium selbst finanzieren. Beide Optionen hätten (negative) Folgen für den eigenen Bildungserfolg, die Studiendauer und auch die Möglichkeiten, anderen Aktivitäten neben dem Studium nachzugehen. Wer aus reichem Haus kommt, würde also mit einem noch größeren Vorsprung ins Berufsleben starten.

Perspektiven

Wir sind uns sicher: Wenn das BAföG zu mehr Bildungsgerechtigkeit führen soll, dann braucht es ein System gesamtgesellschaftlicher Solidarität und somit auch eine Abkehr von der familienabhängigen Förderung. Allen Jugendlichen müssen alle Bildungswege offenstehen. Sie sollen frei darüber entscheiden können, ob sie ein Studium, eine Berufsausbildung oder etwas ganz anderes anstreben. An erster Stelle muss die Bildung stehen und nicht etwaige Ansprüche der Eltern oder eine allgemeine Profitmaximierung. Wer eine betriebliche Ausbildung absolviert, muss einen angemessenen Lohn erhalten und auch während der Berufsschulphasen ausreichend abgesichert sein. Wer studiert, muss den gleichen Lebensstandard durch die Gesellschaft finanziert bekommen.

Damit das gerecht funktioniert, muss auch das Steuersystem verändert werden. Vermögen und hohe Einkommen müssen so besteuert werden, dass im Endeffekt nicht die viel beschworene Putzkraft das sorglose Studium des Bankierskindes finanziert, sondern alle ihren solidarischen Anteil für die Bildung der nächsten Generation leisten. Was wir brauchen, ist ein BAföG für alle, die es brauchen, und zwar ohne Schuldenfalle und mit Fördersätzen, die allen ein gutes Leben ermöglichen. Um das zu erreichen, kämpft der freie zusammenschluss von student*innenschaft gemeinsam mit anderen Jugendorganisationen in der Kampagne "50 Jahre BAföG - (K)ein Grund zu feiern?" für eine BAföG-Reform. Mehr Infos dazu gibt es unter: http://www.bafoeg50.de.

Carlotta Kühnemann (25) und Jonathan Dreusch (25) sind Mitglieder im Vorstand des freien zusammenschlusses von student*innenschaften (fzs) e.V., des Dachverbands deutscher Studierendenvertretungen. Kühnemann studiert Wirtschaftssoziologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Dreusch Politikwissenschaft an der Universität Tübingen.