Wie kann der Bezug auf Ost-Identität linke Politik inspirieren?
Renate, bezeichnest du dich als Ostlerin?
Renate: Wenn ich meine Herkunft beschreibe, gehört immer dazu, dass ich aus der DDR komme. Aber wie alle Menschen habe ich viele Identitäten. Manchmal ist es mir wichtiger, zu betonen, dass ich aus einer bildungsfernen Familie komme oder aus der DDR-Opposition oder dass ich mich als linke Betriebsaktivistin verstehe. Das scheint mir oft präziser zu sein als meine ostdeutsche Identität. Aber natürlich hat sie eine Bedeutung.
Doris, wie ist es bei dir?
Doris: Ich unterteile drei Lebensphasen: Die ersten 15 Jahre hab ich in der DDR verbracht, in Leipzig, das hat meine Erfahrung sehr geprägt. Die Wende- und Nachwendezeit habe ich im Osten erlebt, und zwar auch als Linke, als Antifaschistin, als Zecke, als Punk. Das war eine krasse Zeit, im Guten wie im Schlechten. Meine Mutter sprach mich neulich auf die Baseballschlägerjahre an, und zwar so, als hätte sie zuvor nie davon gehört. Das war damals ein großes Thema für uns, aber unsere Eltern wollten wenig davon wissen, vieles wurde verdrängt. 2010 bin ich dann in den Westen gezogen, nach Berlin-Kreuzberg. Ich habe also eine hybride Identität: Der Osten ist ein Teil davon genauso wie die DDR-Erfahrung, was ja nicht dasselbe ist.
Katharina: Ich bezeichne mich als Ostdeutsche. Die Erfahrungen, die mich als Person ausmachen, hätte ich nicht gemacht, wäre ich in Westdeutschland geboren. Ich bin in den Baseballschlägerjahren als Schwarze Person in einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt aufgewachsen und war Punk. Was dort passiert ist, prägt mich bis heute. Weil ich Schwarz bin, wurde mir selten zugestanden, Ostdeutsche zu sein. Selbst in linken Kontexten werde ich teils dreimal gefragt: Wann bist du geboren? Als sei es ein Ausschlusskriterium, dass ich nur fünf Jahre DDR erlebt habe. Weißen Freund*innen im gleichen Alter passiert das seltener.
Renate: Interessant. Für mich ist der Osten ohne Frage ein gemeinsamer Erfahrungsraum, aber nicht im Sinne einer kollektiven Identität. Ich habe eher das Bedürfnis, den Osten in all seiner Differenz zu beschreiben. Nach der Wende stand ich wie alle vor der Situation, dass uns die West-Strukturen einfach übergestülpt wurden, die Funktionär*innen und Leiter*innen aus dem Westen alle Stellen besetzten. Dennoch ist bei mir kein starkes Wir-Gefühl mit anderen Ostler*innen entstanden. Als ich später an einem historischen Institut mit Ost- und West-Kolleg*innen gearbeitet habe, wurde ich mehrfach diskriminiert, als Frau, als im Osten sozialisiert und als Linke. Aber mit vielen ostdeutschen Kolleg*innen, die sehr opportunistisch waren und Karriere gemacht haben, hatte ich wenig gemein. Bei mir ist in dieser Zeit eher ein Bewusstsein für Geschlechterdiskriminierung entstanden.
Katharina: Ich spreche auch nicht von einem kollektiven Ost-Bewusstsein. Ganz im Gegenteil, für mich ist es deshalb ein wichtiger Bezugspunkt, weil mir nicht zugestanden wurde, Teil davon zu sein. Deshalb betone ich die Diversität dieses Ost-Bewusstseins. Die Ostler*innen gibt es nicht. Aber es gibt einen Raum Ostdeutschland, der einmal die DDR war, mit vielfältigen Geschichten, Biografien, Identitäten. Diesen Raum müssen wir in seiner Vielfalt erst einmal sichtbar machen. Wenn über den Osten erzählt wird, dann doch meist sehr eintönig und homogen.
Doris: Auch meine Ost-Identität bezieht sich nicht positiv auf ein vermeintliches Kollektiv. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, die DDR-kritisch war, meine Schulzeit würde ich als Leidenszeit beschreiben. Aus einer linken Perspektive kritisiere ich die DDR. Dennoch nerven mich diese Zuschreibungen an den Osten als autoritär und braun, wie ich sie auch im Freundeskreis von Westdeutschen erfahre. Das führt dazu, dass ich den Osten plötzlich verteidige. Es gibt aber auch materielle Unterschiede zwischen West und Ost: Heute wohnen die meisten Leipziger*innen in Wohnungen, die Westdeutschen gehören. Um mich herum wird derweil ohne Ende geerbt – nur nicht in den Ost-Familien. Das gehört zusammen, westdeutsche Linke sprechen nur nicht so gern darüber.
Gibt es im Bezug auf den Osten generationelle Unterschiede?
Doris: Ich denke, ja. Meine Eltern sind 1943 und 1949 geboren. Als Kind bin ich mit diesem Bild des goldenen Westens aufgewachsen. Als er dann da war, sind meine Schwester und ich links geworden. Meine Eltern haben das schlecht verkraftet, sie waren glücklich, dass der Realsozialismus vorbei war. Das hatte offenbar auch damit zu tun, dass sie länger in der DDR gelebt hatten. Für mich als Kind war Reisefreiheit kein Thema, Bulgarien und Ostsee waren okay. Und mein Opa im Westen war mir total fremd. Für meine Eltern war es anders, und die Repression war in den 1960ern und 1970ern viel stärker als in den 1980ern.
Katharina: Die Generation ist ein Faktor, aber nicht der wichtigste. Oft wird gesagt, je jünger, desto weniger DDR und desto weniger Ost-Identität. Aber ich erlebe genau das Gegenteil. Gerade die Generation, die nach der Wende geboren ist, interessiert sich stark für den Osten. Man sagt, es brauchte eine Generation, bis Aufarbeitung beginnt. Nach der Wende wurde OstdeutschSein als Stigma empfunden, viele wollten »ankommen« und nicht über die DDR sprechen.
Renate: Ich denke auch, dass die Identifikation mit Ostdeutschland einen Zeitkern hat. Wir kennen das von den 68ern, die wissen wollten, welche Rolle die Eltern während der Nazizeit gespielt hatten. Auch nach 1989 wurde unglaublich wenig erzählt, vielleicht weil man über Niederlagen nicht gerne spricht oder weil man mit dem eigenen Opportunismus konfrontiert wurde.
Katharina: Ich habe aus den genannten Gründen schon immer über den Osten gesprochen. Bei vielen begann die Ost-Identifikation auch als Gegenreaktion auf die Pegida-Bewegungen, um einem Bild von den Ostdeutschen entgegenzuwirken. Bei anderen war es das Ossi-Bashing, das sie im Westen erfahren haben.
Renate: Wie man sich auf den Osten bezieht, hängt vielleicht auch damit zusammen, wie gut jemand im Westen »angekommen« ist. Das gilt auch für die Jüngeren, die selber gar keine DDR mehr erlebt haben: je schlechter ihr Zukunftsgefühl, umso größer die Gefahr der Idealisierung.
Doris: Ich nehme auch wahr, dass es insbesondere nach der Wende geborene junge Menschen sind, die die Frage einer Ost-Identität starkmachen. Sie thematisieren darüber Wende-Unrecht und reale Benachteiligungserfahrungen. Was mir allerdings zu fehlen scheint, ist eine Kritik an den autoritären Strukturen und am Konformismus in der DDR.
Katharina: Das ist wahr. Es geht weniger um das Unrecht in der DDR, sondern um die 1990er-Jahre und das Unrecht der Wiedervereinigung. Weil das so lange ignoriert wurde, ist jetzt eine Gegenbewegung daraus geworden, die neben Treuhandverbrechen und Abwicklungen eben auch aktuelle Ungleichheiten thematisiert. Fragen von Erbe, Verdienst und Vermögen im Osten.
In meiner Arbeit beschäftige ich mich aber auch viel mit Rassismus und Prozessen sozialer Ungleichheit in der DDR. Wenn es um DDR-Unrecht geht, wird darüber kaum gesprochen, auch in der Forschung ist das noch unterbelichtet. Oft wird die Geschlechtergerechtigkeit in der DDR hochgehalten, aber es gibt auch schreckliche Beispiele von struktureller Misogynie. Zu queeren Perspektiven forschen fast nur Menschen im Ausland.
Doris, du hast vorhin ein Ost-Stigma angesprochen. Ist das Teil dieser Ost-Identität?
Doris: Nein, es ist eher eine Kritik daran. 2019 gab es mehrere Prozesse vor Arbeitsgerichten: Ostdeutsche, die in den Westen gegangen waren, hatten Diskriminierungserfahrungen gemacht und versuchten, vor Gericht nachzuweisen, dass sie aufgrund ihrer ethnischen Herkunft diskriminiert wurden, weil das Antidiskriminierungsrecht vor einer Diskriminierung als »Ossi« nicht schützt. Damit sind sie voll in die Essentialisierungsfalle getappt. Ich habe mich kritisch mit Identitätspolitik beschäftigt und versucht, das Ostdeutsche anders zu beschreiben. Nicht als Identität, sondern als Stigma, das sich in Strukturen manifestiert. Im Ost-Stigma spielen zwei Aspekte eine Rolle: Klassismus und Antikommunismus. Nehmen wir das Bild des faulen Mecker-Ossis. Anstatt in der Renitenz auch einen berechtigten Grund zu sehen, sich gegen ungleiche Verhältnisse und Zurichtungen des Neoliberalismus aufzulehnen, wird Kritik delegitimiert, indem die Kritker*innen pauschal als Jammer-Ossis bezeichnet werden. Hinzu kommt die antikommunistische Behauptung, in der DDR sei alles Stasi und Unrechtsstaat gewesen. Klar liegt da auch etwas Wahres drin, aber in dieser Allgemeinheit ist es verkehrt und Teil der Totalitarismustheorie, die seit 1949 dazu gedient hat, dass der Westen sich als urdemokratisch wähnen kann.
Katharina, würdest du sagen, es gibt eine spezifisch ostdeutsche Klassenerfahrung?
Katharina: Es gibt viele Überschneidungen zwischen den Narrativen, mit denen Ostdeutsche und Menschen, die von Klassismus betroffen sind, beschrieben werden. Im öffentlichen Sprechen beobachten wir eine starke Klassierung des Ostens. Auf dieser Ebene ist es relativ einfach, ein Ossi-Bashing als Klassismus zu outen. Aber ich frage mich: Sollten wir das wirklich unter einen Begriff fassen? Ist es so wie beim Rassismus, wo man sagen kann, die Menschen sind zwar unterschiedlich, aber die Rassismuserfahrung ist historisch gewachsen und manifestiert sich in fast allen Strukturen? Ich würde das bezweifeln. Mir ist es wichtig, strukturelle Benachteiligung und kulturelle Unterschiede zu benennen. Der Begriff Diskriminierung greift nicht ganz, wenn es um den Osten geht. Es braucht an der Stelle mehr Forschung und tatsächlich eine neue Sprache, neue Begriffe, um diese Erfahrung zu beschreiben.
Was können wir aus den von euch benannten Aspekten der ostdeutschen Erfahrung lernen?
Doris: Es gab nach 1989 eine Kultur der Straflosigkeit, des Wegsehens gegenüber Neofaschismus und Rassismus. Wir hatten nicht nur ein Nazi-Problem, sondern eines der politischen Eliten, die weggeschaut haben und es bis heute tun. Das muss thematisiert werden. Aus einer kapitalismuskritischen Perspektive stellt sich außerdem die Frage, welche strukturellen Ungleichheiten sich in der Wendezeit ökonomisch verfestigt haben. Wie wird soziale Ungleichheit vererbt? Das lässt sich am Beispiel Ostdeutschland gut nachvollziehen. Als Drittes gehört für mich ein kritischer Blick auf die DDR dazu. Wir Linke müssen Hohenschönhausen die DDR-Kritik wegnehmen. Wir müssen fragen, wie wir heute mit der Gefahr, im Namen des Kommunismus in autoritäre Strukturen reinzurutschen, verantwortungsvoll umgehen. Was für Strukturen brauchen wir, damit so etwas nicht wieder passiert? Was heißt das für unsere Wünsche nach einer Transformation der Gesellschaft?
Katharina: Das stimmt, es braucht eine linke Kritik an der DDR. Zu lange haben die falschen Personen Deutungshoheit darüber gehabt, wie die DDR funktioniert hat. Die Debatte verharrt oft in der Logik des Kalten Krieges, in der entweder alles gut war oder alles schlecht. Das spielt rechten Diskursen in die Hände.
Wie unterscheidet sich so eine Ost-Debatte vom rechten Bezug auf den Osten?
Katharina: In rechten Zusammenhängen geht es meist um Essentialismus. Dort wird versucht, Gemeinsamkeit und Identität über die Abwertung anderer zu erzeugen und das vermeintlich Eigene aufzuwerten. Unser Ansatz muss sein, die eigene Geschichte kritisch zu beleuchten und Prozesse der Ungleichheit und Ungerechtigkeit aufs Tableau zu bringen, um von dort aus weiterzugehen.
Doris: Dazu gehört, dass wir den Osten nicht von der Kritik aussparen. Auch wir haben eine Kritik an Phänomenen, die es spezifisch im Osten gibt, die teilweise auch historisch in der DDR gewachsen sind, zum Beispiel Rassismus, aber auch Antisemitismus. Außerdem unterscheidet uns natürlich eine materialistische Gesellschaftsanalyse, die auf eine andere Gesellschaft zielt, in der alle Menschen ohne Angst verschieden sein können. Die kann man als kommunistisch bezeichnen, aber man muss es nicht.
Renate: Wir unterscheiden uns von den Rechten aber auch in der Kritik am Westen. Der rechte Populismus positioniert sich ja klar gegen den Westen und für den Osten. Aber wogegen genau? Das sind in erster Linie die emanzipatorischen Bewegungen, die 68 und danach entstanden sind. Dem müssen wir eine materialistische Kritik am Kapitalismus gegenüberstellen, die sich auf Ost und West gleichermaßen bezieht und Klassen- und Machtverhältnisse in den Blick nimmt.
Katharina: Tatsächlich gibt es eine starke Instrumentalisierung des Ostens. Das ist dann je nach Kontext Ostdeutschland oder Russland oder der ganze »Ostblock«. Der Osten wird oft als homogen weiß beschrieben, als der rückständige Ort mit den Nazis, eben Dunkeldeutschland. Das hat sich die Rechte zu eigen gemacht und wendet es positiv gegen die Diversität im Westen, gegen die Ökologiebewegung, gegen die 68er. All das sei »westliche Dekadenz«, der Osten noch das authentische Wahre. Dahin wollen sie zurück. Das spiegelt sich in Parolen wie »Hol dir dein Land zurück«. Was heißt das denn? Da wird ein Urzustand inszeniert, den es so nie gab. Der Osten war schon immer vielfältig und soll es auch bleiben.
Kann Ost-Identität ein Ausgangspunkt für eine gerechtigkeitsorientierte Politik werden? Und wenn ja, wie?
Renate: Ich bezweifle, dass uns hier eine spezifisch ostdeutsche Herangehensweise weiterführt. Wir müssen klarstellen, dass sowohl die DDR als auch die BRD und natürlich später Gesamtdeutschland immer Klassen- und Herrschaftsgesellschaften gewesen sind.
Doris: Dem stimme ich zu. Für gemeinsame linke und kapitalismuskritische Perspektiven wäre es wichtig, die Osterfahrung stärker aus einer Klassenperspektive heraus wahrzunehmen. Daher finde ich die gegenwärtige Ost-Identitätsbewegung nicht schlimm. Man muss nur die Gefahren einer Essentialisierung sehen und auch benennen.
Katharina: Zum Teil handelt es sich dabei auch um eine Absetzbewegung. Als Reaktion auf das Ossi-Bashing ist ein enormes Bedürfnis entstanden, sich selber aufzuwerten. Das ist in der Linken wie in der Rechten verbreitet. Davon halte ich nichts. Was es braucht, sind Dialog und Aufarbeitung unter Ostdeutschen. Es gibt ein sehr starkes Bedürfnis danach, das merke ich nach meinen Lesungen. Damit ist viel emotionale Arbeit verbunden. Oft sprechen die Leute zum ersten Mal über erfahrene Ungerechtigkeiten. Solche Räume sind wichtig, um sich klar zu werden, was unsere Erfahrung eigentlich ausmacht und inwiefern sie divers ist. Daraus beginnt sich etwas Neues zu entwickeln. Es entstehen tolle kleine Bewegungen im Osten, wenn es zum Beispiel um Antirassismus oder Ostdeutsche of Color geht, gerade in Leipzig.
Sollten Menschen, die nicht im Osten geboren oder aufgewachsen sind, Teil dieser Auseinandersetzung sein?
Doris: Ja, ich denke, auch sie müssen sich mit dem Osten und mit der DDR beschäftigen. Und zwar interessiert und differenziert. Bislang ist das leider selbst in linken Kreisen die Ausnahme. Es reicht nicht, dass sich die Ostler*innen organisieren und ihre Erfahrungen sammeln und »heilen«, auch westdeutsche Linke müssen sich mit der DDR und den Strukturen ökonomischer und politischer Ungleichheit auseinandersetzen. »Critical Westness« sozusagen. Es ist wohlfeil, mit dem Finger auf den »rechten Osten« zu zeigen und sich nicht damit zu beschäftigen, wo das eigene Familienerbe und kulturelle Kapital herkommt.
Renate: Zurzeit sehe ich keine wirklichen Impulse im Osten für eine emanzipatorische Bewegung, wie es etwa 2003 die Montagsdemonstrationen waren. Wenn etwas geht, dann nur gemeinsam. Dafür gibt es ja auch Beispiele wie die Initiative »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« in Berlin. Wenn man sich das genauer anschaut, hat der Osten am Ergebnis des Volksentscheids einen starken Anteil. Die Gegner*innen saßen in ihren Villen am Wannsee oder in Zehlendorf. 1989/90 haben wir die Chance verpasst, aus dem Aufbruch in der DDR einen gesamtdeutschen zu machen. Die Mehrheit der Westlinken war gegenüber dem, was da im Osten passierte, reserviert. Daraus sollten wir lernen. Wenn wir etwas Emanzipatorisches bewirken wollen, dann nur gemeinsam.
Das Gespräch führten Anna Stiede und Harry Adler.