Wieder einmal aufstörende Kunde aus China. Es solle dort, so ist zu hören und zu lesen, ein bis 2020 alle Einwohnerinnen und Einwohner umfassendes gesellschaftliches Kreditpunktesystem geben. Welches erstellt werde mittels Vernetzung gesammelter Daten. Und zum Ziele habe – so die vorherrschende westliche Interpretation – die Schaffung der angepassten Bürgerin respektive des angepassten Bürgers. Also: Wohlverhalten im Sinne der verkündeten Normen werde mit Punkten belohnt, Fehlverhalten durch Punktabzug geahndet.
Es ist wie immer im Chinafall. Wer vom Westen aus ein Urteil abgeben will, hat drei Möglichkeiten: a) individuelle Ausstoßung des vom Mainstream nahegelegten Aufschreis über die Ungeheuerlichkeit des Vorgangs mit nachfolgendem befriedigten Zurücklehnen in der Gewissheit, die längst bekannte Unerträglichkeit der chinesischen Diktatur erneut unter Beweis gestellt bekommen zu haben; b) freudig zugewandte Bejahung; c) neugieriges, weder den Vergleich mit der Situation im eigenen Land noch die Weltperspektive scheuendes Nachfragen inklusive Bereitschaft zum Nachdenken und Innehalten.
Nehmen wir an, die Entscheidung fiele zugunsten der Variante c). Dann könnte zum Beispiel zunächst der Beobachtung Raum gegeben werden, dass es in Deutschland bereits zahlreiche Systeme gibt, die eine dem chinesischen Vorhaben ähnliche Funktion erfüllen. Eines der bekanntesten ist das der Punkte in Flensburg. Es ist dies – wie in China – ein staatliches Erziehungsprogramm, das gerichtet ist auf ein sowohl die Allgemeinheit als auch jede und jeden Einzelnen vor Schaden bewahrendes normgerechtes Wohlverhalten jeder und jedes Einzelnen, und die Kritik an diesem Programm hat eine in Abhängigkeit von der jeweiligen Betroffenheit und Interessenlage sich unterschiedlich ausprägende Stoßrichtung. Den einen ist das System zu mild, den anderen zu scharf. Aber die Gesamtakzeptanz ist beträchtlich.
Ein anderes bestens bekanntes System ist das der SCHUFA. Als „führende Auskunftei in Deutschland“ wirbt die SCHUFA auf ihrer Website mit „kreditrelevanten Informationen zu 66,3 Millionen Personen und 4,3 Millionen Unternehmen“, und jede und jeder weiß, dass es stimmt, wenn die Website „immobilienscout24.de“ mitteilt: „Ohne SCHUFA verringern Sie die Chancen auf Ihre Traumwohnung“, und auch, dass diese „Chancenverringerung“ schon bei viel, viel kleineren Beträgen als den für die „Traumwohnung“ notwendigen beginnt und in diesem „unteren“ Bereich oft dramatische, existenzbedrohende Folgen zeitigt. Dennoch auch hier: Gesamtakzeptanz beträchtlich.
Was auch für die verschiedenen Kreditpunktsysteme der privaten Krankenkassen gilt. Das sind Systeme, bei denen besonders deutlich sichtbar wird, wie sie durch die Gewinnung von immer größeren Datenmengen über Bewegungs-, Ernährungs- und Zeiteinteilungsprofile immer differenzierter gestaltet werden können – und selbstverständlich auf Anpassung gerichtet sind, worauf denn sonst. Auf Anpassung an ein Verhalten, das der Versicherung und den Herstellern der diversen Fitness-Unterstützungsmittel den größten Gewinn verspricht.
Es ist hier nicht der Ort, dies weiter aufzufächern. Fachleute werden leicht viele weitere Beispiele aufführen können. Hier sollte nichts weiter getan werden, als die Verblüffung über die Chinanachrichten zu mildern. Oder das Erbostsein. Oder beides. Denn das ist doch unübersehbar: Das Sammeln, Verarbeiten und interessengeleitete Nutzen von immer größeren Datenmengen für die mal als Beeinflussung, mal als Manipulation, mal als Erziehung, mal als Zurichtung zu bezeichnende Formung des Menschen ist längst ein globales, ein menschheitliches Problem, und nichts ist gewonnen, wenn dessen Benennung und Verortung für überkommene und neue Rassismen und Nationalismen, Vorurteile und Chauvinismen instrumentalisiert wird.
Manches aber wäre zu gewinnen, wenn im weiteren Verfolg der Variante c) zum Beispiel auch ein zum Thema gehörender unangepasster Blick in die entsprechende Forschung in der DDR Anfang der 1960er Jahre – also mitten im Kalten Krieg – gehörte. Damals wies Franz Loeser in seinem Buch „Deontik. Planung und Leitung der moralischen Entwicklung“ auf die überragenden Leistungen der USA bei der Meisterung der cybernation revolution hin, die auch die Planung und Leitung „der ideellen Prozesse“ einschloss, und nannte als Beispiel, dass „die großen politischen Parteien“ sich für „ihre Propaganda und ihre Wahlkampagnen“ der „großen Werbefirmen“ bedienen, „die mit den neuesten wissenschaftlichen Verfahrensweisen und Datenverarbeitungsmaschinen diese politischen Aufgaben für sie lösen“. „Kein gesellschaftlicher Bereich in den USA“ sei „von dieser Umwälzung der Leitungsmethoden, die die technische Revolution hervorbringt, verschont“ geblieben. Selbst in den Glauben und in die Kirchen – „die ‚geheiligte‘ Sphäre der amerikanischen Gesellschaft“ – hätten „die neuesten Leitungsmethoden, die Massenpsychologie und die Werbetechnik“ Einzug gehalten. Und weil also der Imperialismus sich so konsequent der neuen Methoden und technischen Möglichkeiten bediene, dürfe sich der Sozialismus dem nicht entziehen, sondern müsse mittels der Deontik – wörtlich: der „Wissenschaft von den Pflichten oder die Logik der Pflichten“ – „die theoretischen und methodischen Grundlagen für die wissenschaftliche Lenkung der moralischen Entwicklung des sozialistischen Menschen […] schaffen.“ Und Loesers Bruder im Geiste Georg Klaus rief in „Kybernetik und Gesellschaft“, nachdem er die „Anwendung der Kybernetik auf gesellschaftliche Probleme“ als „gerade typisch für die moderne imperialistische Soziologie“ beschrieben hatte, nach einer „Ehe zwischen historischem Materialismus und Kybernetik“, die aus der Kybernetik – der „Theorie der dynamischen selbstregulierenden Systeme“ – ein „Instrument der sozialistischen Planung und Organisation der Volkswirtschaft und der gesellschaftlichen Beziehungen“ machen könnte.
In den 1970er und 1980er Jahren sind Loeser und Klaus – was an anderer Stelle zu diskutieren wäre – in der DDR „vergessen“ worden. Dabei gilt fort, was sie wussten: Dass die wissenschaftlich-technische Revolution – jetzt nun in Gestalt der unaufhörlich sich selbst beschleunigenden Digitalisierung und Robotisierung – die Gesellschaft in all ihren Daseinsformen komplex verändert und von den herrschenden politischen Kräften selbstverständlich komplex in Dienst genommen wird. Auch und gerade im Konkurrenzkampf miteinander. Der westliche Kapitalismus tut es auf seine, der chinesische – sich selbst als „Sozialismus chinesischer Prägung“ bezeichnende – auf eine andere Weise. Die Resultate sind in beiden Fällen janusköpfig. Klar ist nur eines: Werden sie weiterentwickelt und genutzt mit dem Ziel der Besiegung des Konkurrenten, ist das, was näher rückt, nichts anderes als der gemeinsame Untergang. Das Problem ist – wie auch das der Bewahrung eines bewohnbaren Planeten und das der Sicherung von Ernährung und Dach überm Kopf für alle – von einer solchen gewaltigen Dimension, dass es zur Lösung menschheitlicher Gemeinsamkeit bedarf. Einer Gemeinsamkeit, für die es im westlichen Kapitalismus keinerlei Ansatzpunkte gibt. Wovon sich gut ablenken lässt, wenn man wie seit 120 Jahren immer wieder die „Gelbe Gefahr“ in Anschlag bringt.