Der Artikel von Lutz Pohle aus Beijing über den 18. Parteitag der Gongchandang, der KP Chinas, im Blättchen Nr. 24, den er mit „China: Grün-Rot statt Ferrari-Rot?“ überschrieben hat, regt mich dazu an, einen Perspektivwechsel in der China-Debatte vorzuschlagen.
Was meine ich? „Der Personalwechsel an der Spitze ist vollzogen, die Probleme indes sind nicht gelöst“, überschrieb neues deutschland am 16. November seinen – auch von Pohle verfassten – Bericht. Was will uns das sagen? Das mit den nicht gelösten Problemen ist erstens Mainstream und gilt zweitens immer. Obama gewinnt die Wahlen in den USA – die Probleme indes sind nicht gelöst. Der deutsche Bundestag beschließt den Haushalt 2013 – die Probleme indes sind nicht gelöst. Und das ist es, was ich meine: Diese Universalität der nicht gelösten Probleme müsste auch die China-Berichterstattung bestimmen. Also: Weg vom „Exotikum China“ und hin zu „China in der Welt“. Bisher ist es meist wie in den erwähnten Blättchen- und nd-Texten: Nirgends ein „wie in den USA“ oder „wie in Europa“ oder „wie in Russland“ oder „wie in Indien“ oder „wie in der Weltwirtschaft überhaupt“.
Wie erklärt sich dieses Phänomen: dass das Wort Globalisierung im Westen stets in aller Munde ist, aber Ereignisse in China trotzdem ganz betont als chinesische beschrieben werden? Die scheinbar mit der übrigen Welt so gar nichts zu tun haben? „Die atemberaubende wirtschaftliche Entwicklung Chinas hat gigantische Umweltschäden zur Folge und ist mit einem ständig steigenden Verbrauch an Ressourcen erreicht worden“, schreibt Pohle im Blättchen – und es schreiben so oder so ähnlich viele andere –, und es stimmt ja auch, aber es fehlen die „weil“-Sätze: weil China in dreißig Jahren nachgeholt hat, wozu „der Westen“ bei Schaffung genau der gleichen Probleme anderthalb Jahrhunderte brauchte; weil der entwicklungsnotwendige Zugang zum Weltmarkt anders nicht zu erlangen war; weil zwischen der Fähigkeit einiger weniger kapitalistischer Mächte, ihren Ressourcenverbrauch einzudämmen und Umweltschutz zu betreiben, einerseits und den gigantischen Umweltschäden auf der Welt andererseits ein enger Zusammenhang besteht. Und es fehlen Vergleichswerte: Trotz allem liegt der Pro-Kopf-Energieverbrauch in China noch immer bei nur einem Fünftel desjenigen in den USA.
Ein anderer Satz, den ich hier aus Pohles nd-Beitrag zitiere, der aber ebenso Standard ist wie der zuvor diskutierte: „Aber die politische Karriere von Kadern und Funktionären der Partei hängt nach wie vor hauptsächlich von den Wachstumsraten ab, die sie in ihrem Verantwortungsbereich erreichen.“ Und wo auf der Welt – bitte – wäre das nicht so? Auch wenn es anderswo mehrere Parteien sind, um deren Kader und Funktionäre es geht: Die Zwänge sind doch die gleichen? Auch in Deutschland wird doch die traditionelle Kennziffer „Wachstum“ die Wahl entscheiden?
Oder doch nicht? „Bei den Bürgern“, schreibt Pohle im nd über China, „wächst derweil die Erkenntnis, dass dieser obsessive Drang nach Wachstum immer weniger nachhaltig ist.“ Das ist für China relativ neu. In manchen westlichen Ländern gibt es diese Erkenntnis schon länger; zu einem wirklich tief greifenden Umsteuern aber – das heißt: zu einem Umsteuern, das nicht nur die im jeweiligen Inland stattfindenden, sondern auch die in die „dritte Welt“ ausgelagerten Produktionsprozesse einschließt – hat das noch nirgends geführt. Auch nicht in Deutschland, wo – ganz vergleichbar mit China – vor allem auf den Export als Wachstumsfaktor gesetzt und – ja! – dafür ebenso wie dort eine Verschärfung des Gegensatzes zwischen Arm und Reich in Kauf genommen wird.
Aber vielleicht geht auch ein solches Umsteuern in China plötzlich einmal schneller als anderswo? Weil sich im Resultat des überhitzten Wachstums die Probleme überhitzt verschärfen? Und die Gongchandang, diese in der Welt einmalige Partei mit über 90 Millionen Mitgliedern, die seit 63 Jahren die VR China führt und seit 34 Jahren für den Kurs der atemberaubenden Wirtschaftsentwicklung, zu dem die Überwindung von Hunger und drückendster Armut von Hunderten Millionen Menschen gehört, verantwortlich zeichnet, sich als fähig erweist, die Zeichen der Zeit zu erkennen?
Hu Jintao, der – planmäßig! – scheidende Parteichef, gab seinem lange auf diese Amtsübernahme vorbereiteten Nachfolger Xi Jinping den Kurs des „Aufbaus des Sozialismus chinesischer Prägung“ mit auf den Weg. Bis 2020 sollen die Einkommen der Menschen verdoppelt werden – auf der Basis einer Verdoppelung der Wirtschaftsleistung. Umweltschutz und ökologische Nachhaltigkeit werden neben wirtschaftlicher, politischer und kultureller Entwicklung als gleichrangige Aufgabenfelder benannt. Die Auseinandersetzung darum, auf welchem Wege dies alles zu leisten sein wird, ist nicht allein ein inneres chinesisches Problem. Bisher hat der chinesische Staat die Kontrolle über sein Finanzsystem weitgehend in der Hand behalten – mit anderen Worten: eine der „Kommandohöhen der Volkswirtschaft“ besetzt. Damit wurden – wie Felix Lee im Freitag vom 25. Oktober schrieb – die Verluste sozialisiert, „Gewinne aber auch“, und „das unterscheidet Chinas Banken von den Bankenrettungen der vergangenen Jahre im Westen“. Aber kann das so bleiben – dass „die Ökonomie wesentlicher Teil des Staates“ (Lee) bleibt? Oder erzwingen Globalisierung und internationaler Konkurrenzkampf Liberalisierung und Privatisierung auch hier? Und stehen dann auch die entsprechenden Liberalisierer und Privatisierer bereit? Die im weltweiten Verbund für jene „Effizienz“ der Wirtschaft sorgen, bei der alle Kosten für Soziales und Ökologisches nur stören und also immer weiter gesenkt werden müssen?
Über den 18. Parteitag diskutieren muss heißen, Welttrends zu diskutieren. Sonst bleibt die Sicht auf China im vorigen Jahrhundert stecken.