Der Puma, zum Fliegen zu fett

Das hat es noch nicht gegeben! Noch nie hat eine Regierung dem Kandidaten aus dem eigenen Land die Zustimmung verweigert, den die Repräsentanten aller anderen Mitgliedsländer für das Amt des EU-Ratspräsidenten auserkoren haben. Innenpolitische Kontroversen hatten da stets zurückzustehen, Silvio Berlusconis Zustimmung bei der Wahl Romano Prodis mag als treffendes Beispiel gelten. Anders ist es nun mit der von Jarosław Kaczyński geführten Regierung Polens, denn der Anführer der Nationalkonservativen ließ seine Ministerpräsidentin ins Messer laufen. Standhaft hielt sie in Brüssel dagegen, als die übrigen 27 Staats- oder Regierungschefs Donald Tusk für weitere zweieinhalb Jahre in das hohe Amt wählten. Die Verwunderung außerhalb Polens ist groß, die Scham vielerorts in Polen nicht kleiner. Kaczyński hat ein weiteres Mal bewiesen, dass der Spatz in der Hand mehr zählt als die Taube auf dem Dach.
Zwei Gründe lassen sich anführen, die in besonderer Weise zu Polens außenpolitischer Niederlage beitrugen. Zunächst bezieht sich fast alles auf die Person des Kandidaten selbst, denn anders als im angeführten italienischen Fall geht es nicht um einfache politische Gegnerschaft, vielmehr ist es für Kaczyński fast schon eine Frage von Leben und Tod. Denn an jedem 10. eines Monats wiederholt er in Warschau vor dem Präsidentenpalast die Mär, wonach Donald Tusk im Bunde mit Wladimir Putin seinen Zwillingsbruder Lech Kaczyński auf dem Gewissen hätte. Da kaum jemand sonst so geschickt ist im Spiel mit Andeutung und Unterstellung, glaubt seit vielen Jahren ein guter Teil der nationalkonservativen Wählerschaft tatsächlich, Polens damaliger Ministerpräsident Tusk habe blutige Finger, weshalb er auch ordentlich bestraft gehöre.
Doch während die nationalkonservative Auslegung der Smolensker Flugzeugkatastrophe vom 10. April 2010 dem Märchen gleicht, in dem der hartnäckige Rächer schließlich zum Vollstrecker des Schicksals aufsteigt, ist der andere Grund handfester Natur. Seit vielen Jahren ist Polens politische Elite anfällig für eine Sicht auf den Zweiten Weltkrieg, bei der das Land mit dem näher rückenden Kriegsausgang in besonderer Weise vom Westen verraten worden sei. Je nach politischer Schattierung verschwindet dann die gesamte Zeit von 1944/45 bis 1989 gekonnter oder weniger gekonnt in ein Okkupationsdrama, das seit 1939 mit wechselnder Besatzung angedauert habe.
Während aber fast alle, die dieser eigenwilligen Legende folgen, die große Befreiung wenigstens für das Jahr 1989 ansetzen, kontert Kaczyński hier entschieden. Nein, eine Befreiung habe 1989 gar nicht stattgefunden, denn der am Runden Tisch mit den damaligen Machthabern ausgehandelte Kompromiss habe die „Solidarność“-Revolution verraten, so dass die Handlanger der Okkupanten nicht nur mit heiler Haut weggekommen seien, vielmehr hätten sie auf Kosten der nationalen Substanz in den Folgejahren noch großes Geschäft machen können, weil sie sich unter den Nagel gerissen hätten, was nicht niet- und nagelfest war. Erst jetzt, mit der nationalkonservativen Wende, so Kaczyńskis konsequente geschichtspolitische Überlegung, werde Polen auf den Pfad nationaler Tugend zurückgeführt, was sich natürlich auf Schritt und Tritt auch im Verhältnis zur EU-Mitgliedschaft beweisen müsse.
Während nämlich die anderen alle Brüsseler Kröten brav hinunterschluckten, um die üppig fließenden EU-Gelder nicht zu gefährden, müsse der Spieß umgedreht werden. Diese Gelder seien allerhöchstens eine verspätete Wiedergutmachung für den Verrat am Ende des Zweiten Weltkriegs, wodurch das Land für viele Jahrzehnte und gegen den Willen einer großen Bevölkerungsmehrheit unter sowjetischem Einfluss verblieb. Folglich müssten auch Dinge, die für Polens Volkswirtschaft außerordentlich empfindlich sind, in ein anderes Licht gestellt werden. Die ehrgeizigen, strengen Vorgaben bezüglich gemeinsamer energie- und klimapolitischer Ziele, bei deren Durchsetzung die einheimische Steinkohleproduktion unter gewaltigen Druck gerät, müssten für Polen gemildert oder gleich ganz ausgesetzt werden. Dieser Strang mündet dann wieder in das nationalkonservative Konzept einer EU, die nur noch als lockere Gemeinschaft von Vaterländern verstanden wird. Das gleiche Spiel gilt auch bei Geschlechtergerechtigkeit, die als sogenannte Genderideologie verunglimpft wird, oder beim Umgang mit sexuellen Minderheiten, über den im Lande selbst entschieden werden müsse, ohne störende Einmischung aus Brüssel.
Doch das störrische Verhalten auf dem Brüsseler Parkett rächt sich nun – die Niederlage der Kaczyński-Leute ist allzu offensichtlich. Was von dem überaus ehrgeizigen Vorhaben übrigbleibt, eine Welle des polnischen, also des nationalen Kapitalismus zu initiieren, werden die nächsten Wochen und Monate zeigen.