Innenminister de Maizière lehnt Kirchenasyl „prinzipiell und fundamental“ ab – zuletzt hat er es gar mit der Scharia verglichen. Vertreter der großen Kirchen sind empört. Dabei hat de Maizière gute Gründe für seinen Vergleich – und die Kirchen haben gute Gründe, weiterhin zivilen Ungehorsam zu leisten.
Denn um solchen geht es. Es gibt in der Tat in unserer säkularen Rechtsordnung kein Kirchenasyl, denn es gibt keine rechtsfreien Räume. Der Ursprung der Asylpraxis in Heiligtümern liegt in einer archaischen Zweiteilung der Welt in profane und sakrale Bereiche. Heilige, einer Gottheit geweihte Stätten sind in vielen Religionen tabu und der weltlichen Macht entzogen; an ihnen gilt anderes, sakrales Recht. So war das bei den Griechen des Altertums, so galt es für den Altar des Gottes Israels, an dessen Hörnern politisch Verfolgte Zuflucht suchten, so steht es für geweihte Kirchen und Friedhöfe im katholischen Kirchenrecht. Immer ist die Voraussetzung, dass es ein heiliges Recht gibt, das mindestens an den geweihten Orten höherrangiger ist als das weltliche.
Hier liegt die Berechtigung von de Maizières Scharia-Vergleich. Auch die Scharia ist ein religiöses Rechtssystem, das den Anspruch erhebt, dem säkularen Recht auf Grund seiner göttlichen Begründung übergeordnet zu sein. Freilich gilt dieser Vorrang hier für alle Lebensbereiche und nicht nur für ausgesonderte Gebiete – aber so ist das im Kern beim katholischen Kirchenrecht auch. Schließlich erkennt die katholische Kirche die standesamtliche Trauung für Katholiken genauso wenig an wie das Scheidungsurteil eines Familienrichters. Für all diese Fälle hat sie eigene Vorschriften und eigene Institutionen.
Anders sieht es der Protestantismus. Er kennt im Grunde die Unterscheidung von heilig und profan nicht. Eine Kirche ist kein heiliger Ort, sondern der Versammlungsraum einer Gemeinschaft, die zusammenkommt, um das göttliche Wort zu hören. Es gibt keine herausgehobenen heiligen Orte, Zeiten oder Berufe; es gibt vor allem kein Sakralrecht göttlichen Ursprungs. Freilich wird dieser fundamentale Unterschied zur katholischen Auffassung nicht nur durch katholisierende Richtungen innerhalb des Protestantismus verwischt, sondern auch durch den äußeren Eindruck. In ihrer Einrichtung ähneln evangelische Kirchen katholischen oft stark: Auch hier gibt es Altäre, Taufsteine, Kanzeln, Orgeln, die wie das jeweilige katholische Pendant geweiht worden sind. Nur in reformierten Kirchen etwa am Niederrhein oder in Ostfriesland sieht man dem Kirchraum auch an, dass er anders aufgefasst wird: Dort stehen keine Altäre, sondern Abendmahlstische, die manchmal nur bei Gebrauch aufgestellt werden und sonst anderen Zwecken dienen.
Der Staat, der sich in Religionsdingen prinzipiell neutral verhält, kann die Geltung von sakralem Recht für den öffentlichen Raum nicht dulden und die protestantischen Kirchen können sie nicht begründen. Trotzdem nehmen sie genau wie ihre katholischen Glaubensgeschwister die staatliche Duldung von Kirchenasyl gerne in Anspruch, wohl wissend, dass es keine rechtliche Grundlage dafür gibt und geben darf. Warum?
Weil das Kirchenasyl ein Mittel ist, den schlimmsten Auswüchsen bürokratischer Abschiebungspraxis zu wehren. Gewährt eine Kirchengemeinde jemandem Asyl, so ist er erst einmal geschützt. Natürlich dürfen Gesuchte mit Polizeigewalt aus Kirchen oder kirchlichen Räumen herausgeholt werden. In der Regel aber vermeiden die Ordnungskräfte solche Aktionen: Bilder von Polizisten, die bewaffnet in eine Kirche stürmen und dabei einen Geistlichen beiseite drängen, der ihnen – womöglich in vollem Ornat – den Eintritt verwehrt, kommen in der Öffentlichkeit nicht gut an. Manchmal kooperieren Kirchengemeinden geradezu mit der Ausländerbehörde, vor allem, wenn dort Menschen arbeiten, denen ihr eigenes Tun im Einzelfall fragwürdig ist. So gewinnt man eine Frist, um die Anordnung einer Abschiebung noch einmal gerichtlich prüfen zu lassen, oder man überbrückt Zwischenzeiten, für die kein Rechtsschutz besteht.
Ich erinnere mich an den Fall eines Abiturienten, dessen Eltern seit anderthalb Jahrzehnten als politisch Verfolgte Asyl genossen und an ihrem Wohnort voll integriert waren. Der Sohn sollte an seinem 18. Geburtstag abgeschoben werden, weil er selbst in seinem Herkunftsland (das er als Kleinkind verlassen hatte) nie verfolgt worden war. Von dort aus hätte er dann einen Antrag auf Familienzusammenführung stellen müssen, der vermutlich genehmigt worden wäre. In seinem Herkunftsland angekommen, wäre er allerdings höchstwahrscheinlich sofort zum mehrjährigen Militärdienst eingezogen worden, vielleicht drangsaliert – jedenfalls hätte er sein deutsches Abitur nicht ablegen können. Der Junge wohnte weiter in seiner Familie und besuchte die Schule, trug aber immer den Brief eines Pfarrers bei sich, dass ihm Kirchenasyl gewährt worden sei und dass man im Falle einer Verhaftung mit diesem und der Ausländerbehörde Kontakt aufnehmen möge. Die ganze Zeit über bewegte er sich nicht über den Zuständigkeitsbereich der Ausländerbehörde hinaus, die dieses Verfahren stillschweigend tolerierte. Das Problem löste sich von selbst, als er nach dem Abitur seine deutsche Freundin heiratete.
Kirchenasyl bedeutet eben nicht zwangsläufig ein Matratzenlager in der Kirche oder im Gemeindehaus. Es bedeutet aber immer, dass die Kirchengemeinde alle Kosten für den Unterhalt übernimmt – einschließlich sämtlicher Krankheitskosten. Bei einer Familie mit einer schwangeren Tochter können da leicht fünfstellige Beträge zusammenkommen, die aus Spenden aufgebracht werden müssen. Solche Entscheidungen machen sich Kirchenvorstände nicht leicht. Wenn es trotzdem derzeit einen sprunghaften Anstieg der Fälle von Kirchenasyl gibt – auf mehr als 350 –, so zeigt dies nur, dass in unserer Asylpolitik etwas nicht stimmt. Das sollte den Innenminister interessieren. Es liegt etwas im Argen, wenn honorige Kirchenvorsteherinnen, in der Regel konservativ-bildungsbürgerlichem Milieu entstammend, zivilen Ungehorsam leisten. Nicht das Kirchenasyl ist ein Skandal, sondern unsere Abschiebepraxis.