„Das Schweigen des Papstes zugunsten der Mörder bürdet der Kirche eine Schuld auf, die wir sühnen müssen. Und da der Papst, doch auch nur ein Mensch, auf Erden sogar Gott vertreten kann: … so wird ein armer Priester ja zur Not auch den Papst vertreten können – dort, wo er heute stehen müsste.“ Diese Sätze hat Rolf Hochhuth dem Jesuitenpater Riccardo Fontana in den Mund gelegt in seinem Stück, das den Autor mit einem Schlag berühmt machte und eine noch längst nicht abgeschlossene Debatte um die Rolle Papst Pius XII. während des Holocaust ausgelöst hat: Der Stellvertreter. Ein christliches Trauerspiel, das vor 50 Jahren am 20. Februar 1963 durch Erwin Piscator am West-Berliner Theater am Kurfürstendammuraufgeführt wurde. Die Premiere führte zu einem der größten Theaterskandale der Nachkriegszeit, zu einer Flut von Stellungnahmen (Stellvertreter-Debatte) und zu diplomatischen Verwicklungen. Heute steht das Stück eher selten auf dem Spielplan. Es hat politische, moralische und selbst kirchenpolitische Implikationen.
Pius XII., von 1917 bis 1929 apostolischer Nuntius erst in München und dann in Berlin, ein Mann, der fließend deutsch sprach und 1933 als Kardinalstaatssekretär mit der nationalsozialistischen Regierung das bis heute gültige Reichskonkordat ausgehandelt hatte, war in seiner Stellung zum Nationalsozialismus im Allgemeinen und zur Judenvernichtung im Besonderen höchst zwiespältig und zurückhaltend. Einerseits stellte er sich in seiner Enzyklika Mit brennender Sorge in diplomatisch verklausulierter Sprache gegen die nationalsozialistische Ideologie (die antikommunistische Enzyklika Divini redemptoris vom selben Jahr war wesentlich deutlicher formuliert), andererseits versuchte er alles, um in Frieden mit der deutschen Regierung zu leben. Einerseits hat er in den römischen Klöstern hunderte von Juden beherbergt und verköstigt – und damit gerettet –, andererseits hat er auf die Ungeheuerlichkeit der Verbrechen nur mit den diplomatischen Mitteln eines vorsichtigen Staatschefs reagiert – etwa in seiner Weihnachtsansprache 1942 – und nicht das ganze moralische Gewicht seiner Persönlichkeit und der Institution, für die er stand, eingesetzt.
Die politische Bewertung dieses Kalküls ist bis heute umstritten. Hochhuth selbst war aufgrund jahrelanger Recherchen zu der Ansicht gelangt, dass sich Hitler dem energischen Einspruch des Papstes zumindest für die Dauer des Krieges gebeugt hätte, um einen offenen Bruch mit der Kirche zu vermeiden. Michael F. Feldkamp dagegen kam in seinem Buch Pius XII. und Deutschland im Jahre 2000 zu dem Ergebnis, dass auch ein öffentlicher Protest des Papstes das NS-Regime nicht von seinem Plan zur Vernichtung des europäischen Judentums abgebracht hätte. Das hat manche Gründe für sich. Die gezielte Verhaftung von Katholiken jüdischer Herkunft in den besetzten Niederlanden Ende 1942 etwa hat der Reichskommissar Seyß-Inquart dezidiert als Vergeltungsmaßnahme gegen einen Hirtenbrief der katholischen Bischöfe bezeichnet, in dem sie gegen die bevorstehenden Deportationen protestiert hatten. Und Nuntius Cesare Orsenigo erinnert sich an einen Wutausbruch Hitlers, als er im Sommer 1943 auf dem Obersalzberg das Thema der Judenverfolgungen anschnitt.
Doch im Stellvertreter geht es gar nicht vorrangig um politische Perspektiven. Es geht um Moral. Hannah Arendt, der wir für alle Zeiten die Einsicht in die Banalität des Bösen verdanken, hat es bereits recht früh auf den Punkt gebracht, als sie ihrer Freundin Mary McCarthy schrieb: „Das Stück ist nicht gut, aber die Frage, die Hochhuth aufwirft, ist sehr legitim: Warum hat der Papst nie öffentlich gegen die Verfolgung und schließlich den Massenmord an den Juden protestiert?“ Die Frage ist moralisch legitim, denn die katholische Kirche legitimiert sich selbst nicht politisch, sondern moralisch (und eschatologisch, ontologisch, sakramental – aber das können wir in diesem Zusammenhang vernachlässigen). Moralisch aber spielt die politisch so bedeutsame Frage nach den Erfolgschancen einer klaren päpstlichen Stellungnahme keine Rolle, sondern nur, ob das Handeln den eigenen Grundsätzen entspricht. Und die sind in der Kirche durch das stellvertretende Opfer Christi vorgegeben. Darin sieht Pater Fontana in Hochhuths Stück die Schuld des Papstes, dass er taktiere, um den eigenen Handlungsspielraum zu retten, statt dem Vorbild Christi zu entsprechen, und übernimmt am Ende durch den eigenen Tod diese Schuld. Der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer, Widerstandskämpfer aus dem Umfeld von Diplomatie und Wehrmacht und am 9. April 1945 in Flossenbürg hingerichtet, hat dieselbe Haltung in seinen Aufzeichnungen aus der Haft so formuliert: „Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist.“ Sie ist kein Selbstzweck. Sie hat allein dienende Funktion, die sie in Echtheit, Vertrauenswürdigkeit, Demut und Genügsamkeit zu erfüllen hat: „Um einen Anfang zu machen, muss sie alles Eigentum den Notleidenden schenken.“ Und mit ihrer ganzen Existenz für andere in die Bresche springen. Daran müssen sich die Kirchen messen lassen. Auch heute.
Ob die Kirchen diesem, ihrem eigenen Ideal entsprechen, mag jede und jeder selbst entscheiden. Ihr internes Verhältnis zum Judentum immerhin haben die großen Kirchen revidiert. Die Darstellung der Kirche als triumphierender Jungfrau, die über die blinde Synagoge siegt – wie in klassischer Weise am Straßburger Münster zu sehen – ist obsolet, der latente Antijudaismus des Christentums wird aufgearbeitet. Doch symbolische Bedeutung für das eigene Selbstverständnis hat auch der Umgang mit Gestalten der Vergangenheit wie Pius XII.
Damit sind wir bei der Kirchenpolitik. Papst Paul VI. hat bereits 1965 ein Seligsprechungsverfahren für Pius in Gang gesetzt, die damit befasste Kongregation hat 2007 einen heroischen Tugendgrad bei ihm festzustellen gemeint – eine Art Vorstufe zur Seligsprechung – und der jetzige Servus servorum Dei hat sich dieser Sicht angeschlossen. Doch die Länge des Verfahrens zeigt: offenbar hat die Kurie selbst noch ein Gespür dafür, dass dieser Mann vielleicht ein kluger Staatsmann war, aber jedenfalls kein Heiliger.
Bei einem anderen nämlich ging es schneller: bei Pius’ Nachfolger Johannes XXIII. Der wurde bereits im Jahre 2000 seliggesprochen. Und das hat vielleicht mit seinem ganz anderen, unpolitischen, undiplomatischen und nicht am eigenen Image orientierten Umgang auch in der Causa Hochhuth zu tun. Hannah Arendt gibt in einer Buchbesprechung aus dem Jahre 1966 (Der christliche Papst. Bemerkungen zum „Geistlichen Tagebuch“ Johannes XXIII.) die Reaktion dieses Papstes wider, als man ihm in den Monaten vor seinem Tod den Stellvertreter zu lesen gab und ihn dann fragte, was man dagegen tun könne. Worauf er geantwortet haben solle: „Dagegen tun? Was kann man gegen die Wahrheit tun?“