Wer den Live-Bericht von der Heiligsprechung der beiden Päpste Johannes XXIII. und Johannes Paul II. auf dem Petersplatz mitbekommen hat, konnte manches gewahr werden, worauf die wenigsten Kommentatoren hingewiesen haben. Zum Beispiel flatterte zwischen den vielen italienischen, polnischen und anderen Fahnen auch eine ukrainische. Die Heiligsprechung des polnischen Papstes hat auch eine aktuell-politische Dimension: Sie bestärkt die Nähe der westlichen Ukraine zur abendländischen Welt.
Die Ukraine ist nicht nur ethnisch und ökonomisch ein gespaltenes Land, sondern auch konfessionell. Zwar sind drei Viertel der Bevölkerung Mitglied einer Kirche, die den Gottesdienst nach byzantinischem Ritus feiert. Die meisten von ihnen gehören zur Ukrainisch-orthodoxen Kirche Moskauer Patriarchats oder zu einer der konkurrierenden autokephalen – selbständigen – Kirchen. Sie fühlen sich orthodox in der Lehre, sind byzantinisch in ihrem Ritus und von Rom unabhängig in ihrer Leitung – wie die orthodoxen Kirchen Griechenlands, Bulgariens, Serbiens und anderer Länder. Doch fünfeinhalb Millionen der ukrainischen Christen gehören zu der mit Rom unierten Ukrainischen Griechisch-katholischen Kirche. Sie feiert den Gottesdienst ebenfalls nach byzantinischem Ritus und ist äußerlich – nach den liturgischen Gewändern des Klerus, der Ausstattung der Kirchen, der Priesterehe – mit ihr zu verwechseln. Doch sie untersteht dem Papst. Ihr unmittelbares Oberhaupt ist der Großerzbischof von Kiew und Halytsch, der sich bis 2005 Großerzbischof von Lemberg nannte. Der derzeitige Inhaber der Kiewer Kathedra, Swjatoslaw Schewtschuk, der in Rom promoviert worden ist, befindet sich erst seit 2011 im Amt und ist nur darum noch nicht Kardinal; sein Vorgänger Ljubomyr Husar hat vom jetzt heiligen Johannes Paul II. den Purpur empfangen.
Die Ukrainische Griechisch-katholische Kirche ist fast ausschließlich im Westen der Ukraine zu finden. Sie verdankt ihre Entstehung Ende des 16. Jahrhunderts einer Anregung des polnischen Königs Sigismund III. Wasa. In der Union von Brest unterstellten sich 1596 sechs orthodoxe Bischöfe, deren Diözesen zu Polen-Litauen gehörten, dem Papst, um den Ansprüchen des wenige Jahre zuvor von Konstantinopel unabhängig gewordenen Moskauer Patriarchats zu entgehen und wie ihre römisch-katholischen Amtsbrüder einen Sitz im Senat des Königreichs zu erlangen. Diese Kirche ist mithin ein Relikt des polnisch-litauischen Staates, zu dem einst Lemberg wie Kiew gehörten, aber nie etwa die Krim oder der Nordrand des Asowschen Meeres bis Donezk. Es zeugt von elementarer historischer Unkenntnis vieler Kommentatoren, wenn sie diesen konfessionellen und damit auch kulturellen Unterschied übersehen. Die Ukraine hat historisch, ethnisch und konfessionell keine festen Grenzen; sie ist ein erst 1919 entstandenes und später mehrfach vergrößertes künstliches Gebilde.
Zu erwarten war der Jubel der Tausende, die den Petersplatz wie die Via della Conciliazione füllten – war doch der Ruf santo subito bereits unmittelbar nach dem Tode Johannes Pauls erschallt. Papst Franziskus, der nun zu Ende führte, was sein Vorgänger Benedikt XVI. vorbereitet hatte, erschien beinahe nur als Vollstrecker des Volkswillens. Um der Forderung nach schneller Kanonisierung gerecht werden zu können, wurden bei beiden Päpsten Verfahrensänderungen in Kauf genommen. Das ist ein revolutionäres Element – revolutionär in des Wortes eigenster Bedeutung des Zurück-Rollens. Ein geordnetes Verfahren zur Heiligsprechung unter Beteiligung des Papstes hat es nämlich im ersten Jahrtausend der Kirchengeschichte nicht gegeben. Die wirklich wichtigen und unbestrittenen Heiligen der Kirche – Maria, die Apostel und Evangelisten, die ersten Märtyrer – sind nie heilig gesprochen worden. Sie waren und sind es einfach durch allgemeine Übereinkunft – durch das schlichte Faktum, dass sie nun einmal als Heilige betrachtet werden. Zunächst verehrte man ausschließlich die Opfer der Christenverfolgungen, später wurde der Begriff des Märtyrers auf die innere Überwindung weltlicher Gesinnung ausgeweitet.
Der erste Heilige, der von einem Papst kanonisiert wurde, war 993 Ulrich von Augsburg; ein Privileg zur Heiligsprechung hat der Papst in der römischen Kirche erst seit dem 13. Jahrhundert. Wenn jetzt auf Druck der Masse zwei Symbolfiguren kirchenpolitischer Hauptströmungen der Gegenwart unter Umgehung von Verfahrensnormen kanonisiert worden sind, bedeutet das zweierlei: einmal die Abhängigkeit des Papstes vom massiven Druck der Straße und damit ein Aufgeben des eigentlichen Zieles des Heiligsprechungsverfahrens, nämlich einer immerhin irgendwie rationalen beziehungsweise rationalisierten, von unmittelbaren religiösen Stimmungen und persönlichen Ekstasen unabhängigen Entscheidung. Damit wird wie im Altertum das religiöse Massenerlebnis wieder zum Maßstab auf Kosten lateinischer, juridischer Rationalität. Man mag dies als Zeichen von Demokratisierung betrachten, ja sogar als einen protestantischen Zug: in Wahrheit ist es vielleicht doch nur jener Populismus, der immer die Kehrseite autoritärer Herrschaft bildet. Zum anderen: die dogmatische Seite der Heiligenverehrung, der Glaube an die Wirksamkeit ihrer Fürbitte aufgrund eines übervollen Schatzes guter Werke, das was den Reformatoren am übelsten aufgestoßen war, hat in der ganzen Jubelstimmung kaum eine Rolle gespielt. Nun mag das Nicht-Ausgesprochene untergründig durchaus das Bewusstsein bestimmen, trotzdem: Ich wage zu bezweifeln, dass es den Pilgern auf dem Petersplatz in der Hauptsache um die himmlischen Schätze ging. Es ging ihnen mehrheitlich um kirchliche oder nationale Symbolgestalten. Solche Identifikationsfiguren scheinen Menschen, scheinen soziale Gruppen zu brauchen – genauso wie irgendwelche materiellen Reste als Erinnerungsstützen, in der Kirche Reliquien genannt. Man kann das mit einem Lächeln und leichtem Ekel in gleicher Weise zur Kenntnis nehmen wie die Tatsache, dass Ronaldos verschwitzte Trikots zu Kultobjekten werden.
Ich für meinen Teil, wenn ich den mit seinen Pontifikalgewändern und einer Wachsmaske bedeckten Leichnam Johannes XXIII. in seinem heliumbefüllten Glassarg im Petersdom sehe, fühle mich dem Züricher Reformator Ulrich Zwingli sehr verbunden, der einst den Heiligen seiner Stadt nach Jahrhunderten öffentlicher Ausstellung endlich auf Staatskosten ein bürgerliches Begräbnis hat angedeihen lassen.