Comeback der Kalten Krieger – oder: Die vergessene Lektion des 13. August

Russlands handstreichartige Annexion der Krim und seine derzeitige Politik gegenüber der Ukraine sind auch als Reaktion auf antirussische Tendenzen in diesem Land und auf fortgesetzte Versuche des Westens, es dauerhaft an sich zu binden, kritikwürdig. Aktuell zeugt das Moskauer Verhalten darüber hinaus von vergleichbarer strategischer Kurzsichtigkeit wie im Vorfeld der jetzigen Eskalation die Attitüde des Westens, der USA wie der EU, in ukrainische Entwicklungen ohne Rücksicht auf Moskau einzugreifen.
Wer Russland derzeit kritisiert, tut dies im Übrigen umso glaubwürdiger, wenn er in früheren Jahren auch gegen das völkerrechtswidrige Vorgehen der NATO in Jugoslawien und später gegen den Einmarsch der USA samt ihrer Koalition der Willigen in den Irak Stellung bezogen hat.
Wer allerdings daran interessiert ist, Krisen dieser Art künftig präventiv erfolgreicher zu begegnen, der sollte nicht zögern, den Ursachen ohne Scheuklappen und doppelte Standards auf den Grund zu gehen und möglichst, wie man heute sagt, zielführende Schlüsse zu ziehen. Zugegeben – während internationaler Krisen neigen handelnde Akteure praktisch nie zu derartigen Analysen und auch später allenfalls ausnahmsweise. Es ist aber schon vorgekommen – und zwar mit historisch höchst bemerkenswerter Langzeitwirkung. Nach dem 13. August 1961.
Ob die jetzige Krise um die Ukraine und die dadurch offen ausgebrochene übergreifende Krise im Verhältnis zwischen dem Westen und Russland zum Ausgangspunkt einer ähnlichen Entwicklung werden könnte, ist derzeit nicht zu sagen. Nach dem Mauerbau dauerte es aber bekanntlich auch zwei Jahre, bevor sichtbar wurde, dass zumindest ein Teil der SPD-Führung und damit der damaligen westdeutschen Politik sich durchzuringen begann, den seit 1945 in immer neuen Varianten ausgelatschten Trampelpfad der Konfrontation gegenüber Moskau zu verlassen. Die Krise selbst war zunächst die Stunde der Kalten Krieger; speziell in Westberlin rechneten viele fest damit, dass die Westalliierten dem Spuk durch ein militärisches Ultimatum an Moskau ein Ende setzen würden.
Auch derzeit ist ein Comeback der Kalten Krieger – derjenigen, die aus den Jahren des Ost-West-Konfliktes noch übrig geblieben, und solcher, die trotz dessen Beendigung nachgewachsen sind, – zu erleben. In Teilen der deutschen Medienlandschaft und Politik wird wieder mit offenem Visier gegen „die Russen“ polemisiert, wird gegen Verständigung mit Moskau und für eine wirtschaftliche und militärische Knüppel-aus-dem-Sack-Politik plädiert. Das offensichtlich unausrottbare, ziemlich holzschnittartiges Feindbild dieser Kräfte zeugt dabei von jener schlichten, aber gefährlichen Gemüts- und Denkungsart, die in Deutschland bereits die Propaganda gegen den „Erbfeind“ Frankreich um die Zeit des Ersten Weltkrieges geprägt hat und später im Dritten Reich sowie in der alten Bundesrepublik gegen die Sowjetunion.
Einer aus der heutigen Phalanx ist Volker Zastrow, Leiter des Politik-Ressorts der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Sein Befund für die vorherrschende, offenbar zu wenig antirussische Stimmungslage im Lande: Die Deutschen hätten „nur wieder die Hose voll“, und zwar wegen der „Kriegsverbrechen, die Deutsche in Russland und Russen in Deutschland begangen haben“. Angesichts von 27 Millionen sowjetischen Opfern des deutschen Vernichtungskrieges nannte Götz Aly diese Gleichsetzung schamlosen Geschichtsrevisionismus. Dem ist nichts hinzuzufügen. Zastrow hat aber auch das angemessene Rezept zur Hand: „Die guten Jahre sind vorbei, der Westen muss aufrüsten.“
Nun wäre allerdings selbst am intellektuellen Stammtisch unschwer zu ermitteln, dass die Rahmenbedingungen für die Verabreichung dieser Therapie suboptimal sind. Die Bundeswehr hat im Vergleich zu 1989/90 ihren Mannschaftsbestand um 62 Prozent, die Anzahl ihrer Kampfpanzer um 94 Prozent und ihrer Kampfflugzeuge um 60 Prozent verringert. (Manche NATO-Partner waren noch konsequenter: Die niederländischen Streitkräfte haben 2011 die Panzerwaffe komplett abgeschafft.) Öffentliche Kassen- und Stimmungslage sprechen dagegen, dass in dieser Hinsicht eine grundlegende Trendwende – bisher hat sie kein verantwortlicher Politiker gefordert – gelingen könnte. Und Weckrufe wie der von Zastrow – sein FAS-Beitrag trug den Titel „Alarm“ – erhalten Gegenwind selbst aus der Union. Volker Kauder: „Die aktuelle Situation der Krim-Krise hat auf die Rüstungsprojekte der Bundeswehr null Einfluss.“
Zastrows Forderung ist im Übrigen auch deswegen sinnlos, weil man sich gegen eine nukleare Supermacht, die Russland bleiben wird, nichts „errüsten“ kann, was sich politisch oder gar militärisch gegen diese „verwenden“ ließe.
Andere Autoren, wie Jörg Lau in der Zeit, plädieren für „schmerzhafte Sanktionen. Sie wären jetzt an der Zeit.“ Und Bundeswirtschaftsminister Siegmar Gabriel wird mit dem Satz zitiert, „vor härteren Sanktionen gegen Moskau“ habe er „keine Angst“. Letzteres ist ja oft bloß ein Indiz für unzureichende Informiertheit und einen Mangel an Phantasie. Die Hauspostille der deutschen Wirtschaft, das Handelsblatt, hat daraufhin mal die Details zusammengetragen, die über den Sachverhalt, dass Deutschland ein Drittel seiner Erdgas- und Erdölimporte aus Russland bezieht, längst weit hinausgehen. Das Urteil des Handelsblatt-Herausgebers Gabor Steingart ist denn auch deutlich: „Wirtschaftssanktionen gegenüber Moskau“ seien „eine Waffe, aber eine die sich gegen uns selbst richtet“.
Und schließlich ist auch die Sichtweise mancher deutscher Politiker eigentümlich verkürzt. Norbert Röttgen (CDU), zwar bisher nicht merklich durch außenpolitische Kompetenz aufgefallen, aber seit einiger Zeit gleichwohl Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, vertritt die Auffassung, „dass Putin die europäische Friedensordnung, die sich am Ende des letzten blutigen Jahrhunderts entwickelt hat, infrage stellt“. Was Röttgen ausspart: Diese „europäische Friedensordnung“ wurde unter weitgehender Ausgrenzung Moskaus installiert – mit diversen Osterweiterungen von NATO wie EU und mit dem Kosovo-Krieg samt Beseitigung Jugoslawiens als Staat. Gleichzeitig lehnte der Westen russische Vorschläge für ein neues Sicherheitsarrangement „von Wladiwostok bis Vancouver“ ab.
Dass all dies aus Moskauer Blickwinkel als Verdrängung Russlands aus europäischen Angelegenheiten und als der russischen Sicherheit nicht zuträglich interpretiert wurde, ist nachvollziehbar. Umso mehr, als zugleich US-Raketenabwehrprojekte für Ost- und Südosteuropa sowie das Mittelmeer entwickelt wurden und weil gleichberechtigte Kooperation in dieser Frage von der NATO zwar verbal angeboten, praktisch aber verweigert worden ist. Bereits zuvor hatte der Westen den Prozess der konventionellen Abrüstung in Europa auf Eis gelegt – zu einem Zeitpunkt, als evident war, dass sich das konventionelle Kräfteverhältnis grundlegend zugunsten der NATO verschoben hatte. Und schließlich schickten die USA sowie andere Paktstaaten sich an, die NATO durch Aufnahme Georgiens und der Ukraine nun auch noch im Süden bis direkt an russische Grenzen vorzuschieben.
Der Kunsttheoretiker Bazon Brock fand kürzlich in einem Interview mit der FAS für das Agieren des Westens „seit dem Ende der Sowjetunion“ den passenden Begriff – „Siegerinfantilismus“. Und so brachten schließlich das wiederum an Russland vorbei verhandelte Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine und die dadurch ausgelösten Entwicklungen das Fass zum Überlaufen …
Gewisse Parallelen zu jener Entwicklung, die im August 1961 in den Mauerbau mündete, sind augenfällig. Seit der Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 hatte das primäre Interesse der Sowjetunion – angesichts der Kriegserfahrungen – darin bestanden, die Deutschen von jeder erneuten antisowjetischen Frontbildung in Europa fern zu halten. Vertraglich fixierte Neutralisierung (wie 1955 im Falle Österreichs realisiert) hätte Stalin und seinen Nachfolgern genügt. Dafür wurde die DDR (Jahrzehnte vor Gorbatschows finalem Plazet) mehrfach zur Disposition gestellt – nicht nur in der Stalin-Note von 1952, sondern auch noch im Friedensvertragsvorschlag von 1959. Der Westen hat jedoch keine dieser Initiativen ernsthaft ausgelotet. Stattdessen wurde die Linie, die DDR unter Ausnutzung der offenen Grenze in Berlin zu destabilisieren und damit auch die Sowjetunion zu schwächen, fortgesetzt. Diesem Kapitel setzte Moskau am 13. August 1961 mit dem Bau der Mauer ein rigoroses Ende. Die militärische Karte blieb aufseiten der NATO damals im Ärmel, denn einen nuklearen Weltkrieg wollten Washington, Paris und London wegen Westberlin denn doch nicht riskieren.
Das war, wie Egon Bahr später wiederholt berichtet hat, der entscheidende Anstoß für Willy Brandt und ihn selbst, grundsätzlich anders über das Verhältnis zur Sowjetunion nachzudenken, „[…] nachdem die bisherige Politik des Drucks und Gegendrucks nur zur Erstarrung des Status quo geführt hat“, wie er in seiner berühmten Tutzinger Rede vom 15. Juli 1963 bilanzierte. Den Schlüssel zur deutschen Einheit verortete Bahr dabei sehr richtig in Moskau und sprach sich dafür aus, ihn demzufolge auch dort abzuholen. Weil ihm dies aber, belehrt durch den Mauerbau, auf konfrontativem Wege aussichtslos schien, entwickelte er die Formel vom „Wandel durch Annäherung“ als neuen konzeptionellen Ansatz. Der hat ab 1969 in Gestalt der Neuen Ostpolitik zur Entspannung in den Beziehungen mit Moskau (und anderen Warschauer Paktstaaten) geführt und damit entscheidende Weichen dafür gestellt, dass die Ost-West-Konfrontation 1989/90 friedlich zu Ende ging.
Zuvor hatte 1982 die Internationale Palme-Kommission, in der Bahr ebenfalls mitwirkte, ihren Bericht vorgelegt, und war darin zu einer ebenfalls fundamentalen Erkenntnis gelangt, dass nämlich Sicherheit im Nuklearzeitalter nicht mehr gegen-, sondern nur noch miteinander erlangt werden kann. Sicherheitspartnerschaft und Kooperation statt Konfrontation lautete seinerzeit die Schlussfolgerung. Auf dieser Linie bewegte sich ab 1985 Gorbatschow in seiner Politik gegenüber dem Westen. Das war eine weitere entscheidende Voraussetzung für die gewaltfreie Beendigung des Ost-West-Konfliktes.
Wo wir wohl heute ständen, wenn die NATO-Staaten sich nach 1990 und über den Zerfall der Sowjetunion hinaus auf solch eine Linie begeben und die Perspektive einer möglichen russischen NATO-Mitgliedschaft sowie einer vertraglich geregelten engen Partnerschaft Moskaus mit der EU ernsthaft ins Auge gefasst hätten? Denn was ursprünglich für die Beziehungen antagonistischer Gegner ausgedacht war, hätte nach Beendigung der bisherigen Feindschaft zwischen diesen ja nicht unbedingt ein Leichtes, aber doch möglich sein müssen. Hat der Westen diese Chance nicht erkannt oder gar nicht erkennen wollen? Sie wurde jedenfalls verpasst.
Die jetzige Krise, in der militärische Mittel wieder einmal nicht und wirtschaftliche Mittel auch nicht wirklich zur Verfügung stehen, Moskau zurück in eine Position des Hinnehmen-Müssens, was immer der Westen im russischen Umfeld so treibt, zu zwingen, wäre Grund genug, über andere, und warum nicht die alten Ansätze neu und gründlicher nachzudenken. Nicht dass es für deren Realisierung derzeit Voraussetzungen gäbe; auf keiner Seite. Aber das ist vielleicht nur eine Frage der Zeit. Es brauchte seinerzeit ja auch sechs Jahre von Tutzing bis zur Neuen Ostpolitik.
Hilfreich dafür wäre es allerdings, die Augen nicht noch länger (oder wieder?) vor einer Konstante zu verschließen, die nun wirklich feststeht wie das sprichwörtliche Amen in der Kirche: Dauerhafte Sicherheit in Europa ist ohne oder gar gegen Moskau nicht zu haben. Das gilt im Übrigen auch und gerade für jene Nachbarstaaten Russlands, die früher zur Sowjetunion oder zumindest zum Warschauer Pakt gehörten und die derzeit in der NATO – zusammen mit den USA und anderen – am Säbel nesteln.