Raketenabwehr versus strategische Stabilität

Anstatt die gegenseitige Verwundbarkeit zu fördern,
was wiederum die Stabilität erhöhen würde,
wird die Raketenabwehr der USA
als destabilisierend angesehen.

Ankit Panda,
Stanton Senior Fellow
in the Nuclear Policy Program
at the Carnegie Endowment for International Peace

Die einseitige Aufkündigung des sowjetisch-amerikanischen ABM-Vertrages von 1972 zur Begrenzung der Raketenabwehrsysteme seitens der USA im Jahre 2002 war im Hinblick auf die russisch-amerikanischen Beziehungen ein destabilisierender Game Changer: Moskau sieht dadurch, dass die USA sich freie Hand zur Entwicklung neuartiger Raketenabwehrsysteme geschaffen haben, perspektivisch seine nukleare Zweitschlagskapazität und damit seine Fähigkeit gefährdet, auch nach einem atomaren Überraschungsangriff noch vernichtend zurückschlagen zu können.

Eine solche Sichtweise resultiert aus der jahrzehntelangen Konfrontation der nuklearen Supermächte, in der galt: „Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter.“ Das war angesichts gegenseitig gesicherter Vernichtung (Mutual Assured Destruction, MAD) infolge überbordender Nuklearpotenziale (zeitweise 30.000 bis 40.000 Kernwaffen auf beiden Seiten) zwar mad (verrückt), aber Tatsache.

Ab 1985 wurde diese Konfrontation schrittweise zurückgefahren und schien spätestens mit dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes und der Sowjetunion ein für alle Mal erledigt. Eine Fehlannahme, wie man heute weiß. Die Konfrontation war leider nur zeitweise suspendiert. Das genügte immerhin, um die atomaren Potenziale der USA und Russlands (teils durch Vereinbarungen, teils durch einseitige Schritte) um mehr als 90 Prozent zu reduzieren. Der Sachverhalt gegenseitig gesicherter Vernichtung als solcher blieb allerdings bestehen.

Vor dem Hintergrund der stark reduzierten Bestände an strategischen Kernwaffen käme einer funktionierenden Raketenabwehr (Ballistic Missile Defense, BMD) künftig ein qualitativ veränderter Stellenwert zu. Plötzlich könnte – im Rahmen einer eindimensionalen militärischen Logik, die zu erwartende existenzielle Kollateralschäden auch für den Angreifer (Stichwort; nuklearer Winter) ausblendet – gelten: „Wer zuerst schießt, überlebt und gewinnt.“ Dank Raketenabwehr.

Dass die Russen Washington derlei zutrauen, ist ihnen kaum zu verdenken, denn in den vergangenen Jahrzehnten war in den USA die „Fraktion“ der sicherheitstheoretischen und -politischen Entscheidungseliten, die stillschweigend davon ausging oder sich gar offen dazu bekannte, dass der einzige Zweck von Atomwaffen nur darin bestehen kann, ihren Einsatz durch andere abzuschrecken (so etwa die Ex-Verteidigungsminister Robert McNamara und William Perry), zwar in der Quintessenz die maßgebliche, aber selten die allein strategieprägende. Es gab immer und gibt auch heute Strategen, Militärs und Politiker, die sich an der Quadratur des nuklearen Kreises versuchen: Kernwaffen handhabbar, vulgo militärisch einsetzbar zu machen, und gegebenenfalls auch in einer entsprechenden Auseinandersetzung mit Russland zu obsiegen (siehe ausführlicher Blättchen, Sonderausgabe vom 08.01.2018).

Das ist in die sicherheitspolitische DNA der staatstragenden russischen Eliten eingestanzt. Moskau seinerseits hat daher auf die US-Kündigung des ABM-Vertrages und die nachfolgenden Entwicklungen mit der Konzipierung und Einführung von neuartigen Trägersystemen für strategische Kernsprengköpfe geantwortet, darunter Hyperschallwaffen, die im Falle des Falles Raketenabwehrsysteme durch vielfache Überschallgeschwindigkeit plus Manövrierfähigkeit überwinden sollen.

Russland hat damit seinerseits die Destabilisierungsspirale weitergedreht, weil solche Waffen durch extreme Verkürzung der Vorwarnzeit bei „Anspringen“ der Frühwarnsysteme praktisch keinen Spielraum mehr lassen, vor Auslösung des Gegenschlages zu überprüfen, ob es sich nicht um einen technisch bedingten Fehlalarm handelt. All dies ist in diesem Magazin erst kürzlich thematisiert worden (Ausgabe 22/2020).

In den Jahren nach 2002, als das Verhältnis zwischen dem Westen und Russland vom heutigen, dem Kalten Krieg ähnlichen Zustand noch weit entfernt war, wurde seitens der USA und der NATO immer wieder versichert, dass die amerikanischen Raketenabwehrpläne überhaupt nicht gegen Russland gerichtet seien, sondern vor allem solche im Bereich ballistischer Raketen mit immer größeren Reichweiten aktiv aufrüstende Regime wie jene im Iran und in Nordkorea im Visier hätten. Das gälte, so hieß es wiederholt, auch für die zur Stationierung in Rumänien und Polen vorgesehenen US-Raketenabwehrsysteme vom Typ Aegis Ashore.

Noch anlässlich des NATO-Gipfeltreffens in Chicago im Juni 2012 hatten die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer erklärt, dass die geplante Raketenabwehr nicht gegen Russland gerichtet sei. Das war allerdings zu einem Zeitpunkt, als die vollmundige Versicherung des NATO-Gipfels von Lissabon in Sachen BMD vom November 2010 – „Wir werden aktiv nach Kooperation mit Russland […] im Bereich der Raketenabwehr streben.“ – sich bereits als Muster ohne Wert, als Nebelvorhang erwiesen hatte, um ein Spiel „mit gezinkten Karten“ (siehe Blättchen 21/2011) zu kaschieren.

Auch bei der Indienststellung des Abfangraketenkomplexes im rumänischen Deveselu im Mai 2016 hatte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg versichert: „Die Nato-Raketenabwehr untergräbt oder schwächt Russlands nukleare Abschreckung in keiner Weise.“ Dafür seien es „zu wenige Raketen, und sie sind zu weit südlich oder zu nah an Russland stationiert, als dass sie russische Interkontinental-Raketen treffen könnten“. Das war, was den geographischen Aspekt anbetrifft, korrekt, „übersah“ aber die technischen Fähigkeiten von Aegis Ashore.

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Exkurs: Aegis war von den USA ursprünglich für den Einsatz von Kriegsschiffen aus entwickelt worden – als defensiv wie offensiv einsetzbares Multimissionsraketensystem zur gleichzeitigen Bekämpfung von Luft-, Land- und Seezielen sowie zur Abwehr von Raketen. Dafür wurde mit dem „Mark 41 Vertical Launch System“ (VLS) ein neuartiges Senkrechtstartsystem für den parallelen Einsatz von Raketen und Marschflugkörpern entwickelt, dessen Basismodul mit zusammen jeweils acht Startkanistern gleichzeitig sieben verschiedene Flugkörpertypen aufnehmen und abfeuern kann: zwei Arten von Boden-Luft-Raketen, zwei Arten von Flugkörpern zur Raketenabwehr, zwei Varianten von Cruise Missiles gegen Land- und Seeziele (unter anderem des Typs Tomahawk mit einer Reichweite von bis zu 2500 Kilometern) sowie eine Kurzstrecken-Flugabwehrrakete. (Siehe ausführlicher Blättchen 4/2019 und 5/2019.)

Baugleiche Mark 41 sind auch in Rumänien im Einsatz, was Russland als Verletzung des INF-Vertrages betrachtete, der nicht nur landgestützte Mittelstreckenraketen (ballistische sowie Cruise Missiles) mit Reichweiten zwischen 500 und 5500 Kilometern verbot, sondern auch deren Startgeräte. Die USA wiesen die russischen Vorhaltungen wiederholt zurück, ließen Vorortinspektionen jedoch nicht zu und kündigten den INF-Vertrag bekanntlich ihrerseits im vergangenen Jahr. Wegen russischer Vertragsverletzungen.

Drei Wochen nach Auslaufen des Vertrages führten die USA den ersten Test einer landgestützten Cruise Missile mit mehr als 500 Kilometer Reichweite durch – aus einem Mark 41-Startkanister.

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Am 17. November 2020 nun vermeldete das Pentagon offiziell: „Die U.S. Missile Defense Agency (MDA) und Matrosen der U.S. Navy an Bord der USS John Finn (DDG-113), einem mit dem Aegis Ballistic Missile Defense (BMD) System ausgerüsteten Zerstörer, haben am 16. November während einer Flugtest-Demonstration im […] Ozeangebiet nordöstlich von Hawaii eine bedrohungsrepräsentative Interkontinentalrakete (ICBM) mit einer Standard Missile-3 (SM-3) Block IIA-Rakete abgefangen und zerstört.“ Das Zielobjekt war von der Raketenabwehrteststation „Ronald Reagan“ auf dem Kwajalein Atoll (Marshall Inseln) gestartet worden. „Dies war eine unglaubliche Leistung und ein wichtiger Meilenstein für das Aegis BMD SM-3 Block IIA Programm“, so Vizeadmiral Jon Hill, der MDA Direktor. Und auch wenn solche Tests unter „Laborbedingungen“ stattfinden, war dies tatsächlich der erste erfolgreiche Raketenabwehrtest der USA mit einem nichtlandgestützten Abwehrsystem. (Nach zuvor zwei erfolgreichen Versuchen mit dem bodengestützten sogenannten Mittelkursverteidigungssystem, GMD, in den Jahren 2015 und 2017.)

Zum jetzigen Test schätzt der US-Experte Ankit Panda ein: Russland und China würden sich in ihren Befürchtungen bestärkt sehen, dass die US-Raketenabwehrpläne auf die Neutralisierung ihrer jeweiligen Zweitschlagsfähigkeit zielen. „Sie haben Gründe, dies zu glauben“, so Panda, der in Erinnerung rief, dass Präsident Trump im Zusammenhang mit dem U.S. Missile Defense Review 2019 erklärt hatte, dass das Kernziel der US-Raketenabwehr darin bestehe, „sicherzustellen, dass wir jede Rakete, die gegen die Vereinigten Staaten abgeschossen wird, aufspüren und zerstören können – […] jederzeit und überall“. Moskau und Peking befürchten, dass „die Vereinigten Staaten versuchen werden, Erstschlagsfähigkeit gegen sie zu erlangen, wobei BMD den Schaden begrenzen würde, der durch Vergeltungsschläge russischer und chinesischer Raketen entstehen könnte, die einen Erstschlag der USA überleben“.

Nach einer Information der US-amerikanischen Arms Control Association sehen die derzeitigen Pläne des Pentagon vor, bis 2030 Hunderte von Abfangraketen des Typs SM-3 Block IIA herzustellen und weltweit an Land wie auf See zu stationieren.

„Dieser Geist“, da liegt Panda leider wahrscheinlich völlig richtig, „ist aus der Flasche, und die Folgen für die künftige Rüstungskontrolle und strategische Stabilität werden erheblich sein.“