Zwei Strategien der Ostexpansion

Auszug aus den Marxistischen Blättern 03_2014: "1914-2014. Das Antikriegsheft"

In der Ukraine hat sich eine Koalition von Parteien an die Macht geputscht, die ihr Land stärker an die Europäische Union binden wollen und einen anti-russischen Kurs befürworten. Russland hat daraufhin die strategisch wichtige Halbinsel Krim in den eigenen Staatsverband eingegliedert. Sowohl die EU als auch die USA wurden vom Tempo und der Entschlossenheit Russlands überrascht. Die Medien überschlagen sich mit  anti-russischer Propaganda.  Blockdenken  ähnlich dem  des Kalten Krieges wird  reaktiviert.

Matthias Krupa und Michael Thumann nutzen den Konflikt, um die fehlende Identität der „Europäer“ aus der Abgrenzung zu Russland zu gewinnen: Auf der einen Seite die Demokratien der EU, auf der anderen Seite das autoritäre Moskauer System; die offenen Gesellschaften von Lissabon bis Helsinki und „ihr Gegenbild in dem von Putin verordneten, orthodox-intoleranten Staatskonservativismus“; die politisch interessierten Bürger der EU und die apolitischen Konsumenten in Russland.[1]

Die NATO will sich nach dem Abzug aus Afghanistan wieder mehr auf Europa konzentrieren. Die Patrouillenflüge im Baltikum wurden verstärkt, Aufklärungsflüge über Polen und Rumänien ausgeweitet. In Planung sind umfassende Militärübungen. Westliche Experten schließen nicht aus, dass die USA beträchtliche Truppenverbände – 10 000 bis 20 000 Soldaten – in Osteuropa stationieren. US-Vizepräsident Joe Biden will bis 2018 in Polen das Raketenabwehrsystem aufstellen. US-Atomwaffen bleiben in Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Italien und der Türkei.

Trotz Sanktionen hat der Westen die Krim abgeschrieben. Davon gehen die Bundesregierung und die Spitzen von CDU und SPD aus. Die russische Regierung warnt indessen den Westen davor, weiter an der Sanktionsspirale zu drehen: Der stellvertretende russische Ministerpräsident Dmitrij Rogosin erklärte, die Sanktionen würden wie ein Bumerang zurückkehren und auch die europäische Wirtschaft treffen. Die russische Wirtschaft werde dadurch gezwungen, besser zu werden und ohne Produkte aus dem Westen auszukommen.

Die Diskussion über Sinn, Zweck und Folgen von Sanktionen zeigt, dass der Westen nicht mit einer Stimme spricht. Während die USA und die baltischen Staaten ein  hartes Vorgehen – etwa mit wirtschaftlichen Sanktionen – befürworten, wollen Spanien, Italien, Zypern und Griechenland die Sanktionen möglichst beschränken. Frankreich ist hin und her gerissen, weil es zwei Kriegsschiffe der Mistral-Klasse an Russland verkaufen möchte. Bulgarien werde sich voreiligen und harten Sanktionen widersetzen, war in der regierungsnahen Sofioter Zeitung „Standart“ zu lesen. Man dürfe nicht erwarten, dass sein Land zu den Falken zähle, erklärte der Chef der regierenden Sozialisten, Sergej Stanischew. Selbst das traditionell US-freundliche Großbritannien will die russischen Oligarchen nicht gänzlich vom Finanzplatz London vergraulen. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn meint, dass auch die stärksten Sanktionen der Welt den Status quo ante nicht mehr herstellen werden.

Deutschland verfolge gegenüber Russland eine Doppelstrategie, schreibt Jörg Kronauer in der jungen Welt.[2] Einerseits strebe Deutschland nach Osten und bekämpfe jede Macht, die dort Einfluss hat und sich gegen die deutsche Expansion behaupten will. Andererseits kooperiere Deutschland mit Russland, um seine ökonomischen und politischen Interessen besser durchsetzen zu können. Beide Strategien seien alt und würden seit 1945 immer wieder angewandt, wobei sie auch  immer wieder durch die Bündnispolitik überlagert worden seien.

 

Transatlantiker und Putinversteher

Tatsächlich melden  sich aus der deutschen Bourgeoisie  gegenwärtig zwei Gruppen zu Wort. In den Medien hat es sich eingebürgert, zwischen „Transatlantikern“ und „Putinverstehern“ zu unterscheiden. Die ersteren, wie der Vorsitzende der Atlantik-Brücke Friedrich Merz, treten für „harte und langandauernde Sanktionen“ ein. In Kauf genommen wird, dass diese „vor allem die sehr stark in Russland engagierte deutsche Wirtschaft betreffen, aber das muss die deutsche Wirtschaft akzeptieren. Mit diesem Risiko war und bleibt bis auf weiteres jedes wirtschaftliche Engagement in Russland behaftet“.[3]

Die Warnung vor künftigem Engagement in Russland dürfte ganz im Sinne der US-Regierung sein, die der wachsenden Kooperation der deutschen mit der russischen Wirtschaft misstrauisch gegenüber steht. Wenn Kanzlerin Merkel in den Chor einstimmt, um zum wiederholten Male die Verringerung der Energieabhängigkeit von Russland zu fordern, kommt sie zugleich dem von EU-Kommissar Oettinger erneuerten Wunsch entgegen, in Deutschland endlich „wenigstens probeweise“ die umstrittene Technologie des Fracking einzuführen.

Auf den Interessenwiderspruch zwischen deutscher und US-Wirtschaft machen „Putinversteher“, wie der TUI-Aufsichtsratsvorsitzende Mangold aufmerksam: „Der russisch-europäische Handel hat ein Volumen von nahezu 340 Milliarden Euro. Auf die europäische Wirtschaft entfallen über 75 Prozent aller Auslandsinvestitionen in Russland. Die USA stehen demgegenüber lediglich für ein Handelsvolumen von 40 Milliarden Euro, also etwa ein Zehntel des Betrags der EU mit Russland,  und sie stehen lediglich für 15 Prozent der Auslandsinvestitionen.“

Für Mangold zeigt die Ukraine-Krise das Fehlen einer klaren Oststrategie der EU und zugleich „ein nicht einheitliches Verständnis zwischen der EU und ihren Mitgliedsländern einerseits und den USA andererseits: „Auch hier sprechen wir nicht mit einer Sprache und tun uns in der Abstimmung klarer Interessen schwer.“ Das werde künftig noch deutlicher werden, „wenn es um die Umsetzung von Begrifflichkeiten wie ‚Sanktionen‘ und ‚Deeskalation‘“ gehe.[4]

Mangolds Vorhersage sollte sich schnell bewahrheiten. Der Putin-Besuch des Siemens-Chefs Joe Kaeser und sein Gespräch mit dem auf der US-Sanktionsliste stehenden, russischen Eisenbahnchef Jakunin wurde von „Transatlantikern“ scharf angegriffen. Aus der Wirtschaft kam Zustimmung, vor allem vom Vorsitzenden des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft Eckhard Cordes. Cordes nannte es „gut und richtig, dass deutsche Unternehmen in Abstimmung mit der Bundesregierung geplante hochrangige Treffen weiter wahrnehmen“. Weitere Wirtschaftssanktionen lehnte er strikt ab: „Niemand will sie. Sie wären eine Belastung für die gesamte europäische Wirtschaft. Deutschland wäre betroffen, weil wir innerhalb der EU den intensivsten Handel mit Russland haben“.[5] Auch Vertreter der Großen Koalition verteidigten Kaeser. Die Merkel/Steinmeier-Regierung verfolgt parallel beide Optionen: sowohl den Schulterschluss USA-EU gegen Russland als auch den baldigen Ausstieg aus der Sanktionsspirale.

 

Östliche Partnerschaftspolitik

Die  Entwicklung der letzten Monate habe die Beziehungen der EU sowohl mit Russland als auch mit den Staaten der Östlichen Partnerschaft (ÖP) in mancher Hinsicht in Frage gestellt, schreibt Susan Stewart von der einflussreichen, politikberatenden und meinungsbildenden Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.[6] Im Jahr 2009 hat  die EU  mit  der Ukraine, Moldawien, Georgien, Belarus, Armenien und Aserbaidschan die sogenannte „Östliche Partnerschaft“ ins Leben gerufen. Damit sollten die politische Bindung an die EU und die wirtschaftliche Integration vorangetrieben werden, was unter anderem durch „tiefe und umfassende Freihandelsabkommen“ gewährleistet werden sollte.[7]

Die Frage des Verhältnisses der „Östlichen Partnerschaft“ zu Russland blieb dabei offen. In bürgerlichen Strategiediskussionen geäußerte Vorstellungen reichen von der Einbeziehung Russlands in einen „eurasischen Wirtschaftsraum“, über die Eindämmung Russlands, bis zur „Balkanisierung“ Russlands. Auf dem Hintergrund der EU-Müdigkeit eines Teils der deutschen Bourgeoisie träumen manche Kreise auch von einer verstärkten Kooperation „Kerneuropas“ mit Russland als alternativem Integrationsmodell. Nicht zufällig hat der AfD-Europa-Parteitag Sanktionen gegen Russland abgelehnt.[8]

Das EU-Projekt der „Östlichen Partnerschaft“ konkurriert mit Putins Projekt der „eurasischen Zollunion“, der bisher Russland, Weißrussland und Kasachstan angehören. Armenien bereitet seinen Beitritt vor. In der Ukraine waren vor dem EU-Gipfel in Vilnius, auf dem die Assoziierungsabkommen der Östlichen Partnerschaft paraphiert werden sollten, gleich große Anteile von je etwa 40 Prozent der Bevölkerung für ein Assoziierungsabkommen mit der EU oder mit der Zollunion.  Das Land war in der Frage gespalten und der Putsch in Kiew vertiefte die Spaltung.

Für Susan Stewart werfen  die Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit  die Frage auf, ob sich die EU mit der Östlichen Partnerschaftspolitik auf ein geopolitisches Spiel mit Russland einlassen wolle oder dies nicht schon längst getan habe. „Äußerungen aus einigen Mitgliedsstaaten [der EU – B.M.] im Vorfeld des Vilnius-Gipfels, vor allem in Bezug auf die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der Ukraine, zeugen von einem ausgeprägten geopolitischen Denken einer wachsenden Zahl von Akteuren. So wurde etwa häufig erklärt, dass es notwendig sei, die Ukraine zu 'retten' und zu verhindern, dass sie weiter in Richtung Russland abdrifte“. „Geopolitische Ansätze“ würden aber, so Stewart, die Beziehungen zu Russland  verschlechtern.[9]

Absichten in Bezug auf die ÖP-Länder müssten sowohl diesen wie auch Russland so transparent wie möglich vermittelt werden – mit dem Hintergedanken: Russland werde mittel- bis langfristig nicht mehr in der Lage sein, „seine Nachbarn zu dominieren“. Stewart spekuliert: „Russland wird vermutlich innenpolitisch schwächer, zumal es noch keinen ernsthaften Modernisierungskurs eingeschlagen hat. Das macht russische Kompensationshandlungen in der Nachbarschaft umso wahrscheinlicher, was die Wirtschafts- und Sicherheitsbeziehungen mit der EU noch problematischer werden lässt. Mittel- bis langfristig dürfte Russland allerdings zusehends weniger willens und in der Lage sein, erhebliche finanzielle Mittel für seine Nachbarn bereitzustellen“.[10]

 

Wirtschaftliche Verflechtungen

Neben der Strategie, heute einen Ausgleich mit Russland zu finden, um es in ein paar Jahren dennoch zurückdrängen zu können, gibt es handfeste aktuelle wirtschaftliche Interessen in Russland, die einen Ausgleich erstrebenswert machen. So mahnt Philip Mißfelder, außenpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion im Bundestag, zur Zurückhaltung. Bei Sanktionen müsse man aufpassen, dass  man sich nicht ins eigene Fleisch schneide. Den Amerikanern sei das vielleicht egal, aber sie hätten auch nicht diese intensiven Handelsbeziehungen mit Russland, wie sie zum Beispiel Deutschland habe.[11]

Die Wirtschaftsbeziehungen mit Russland seien beträchtlich sagt Jürgen Fitschen, Präsident des Bankenverbandes und Co-Chef der Deutschen Bank.[12] Es gebe mehr als 6 000 Unternehmen mit deutscher Kapitalbeteiligung, die über 20 Milliarden US-Dollar in Russland direkt investiert hätten. Deutsche Banken hätten  außerdem mehr als 50 Milliarden US-Dollar Kreditforderungen gegenüber russischen Kreditnehmern.[13] Dabei ist das Engagement anderer Banken Europas, das bei den französischen weitaus stärker ist, noch unberücksichtigt.

Konjunkturforscher des Instituts für Weltwirtschaft in Halle (IWH) warnen: Politische Spannungen mit Russland könnten das Wachstum in Deutschland schwächen. Die wirtschaftliche Schwächung Russlands führe zur verminderten Nachfrage nach Waren aus Deutschland. Besonders Ostdeutschland sei dann betroffen, weil es engere Handelsverbindungen gebe.

Betroffen von wirtschaftlichen Sanktionen wären Konzerne wie VW, Siemens und die angeschlagenen Energieriesen E.on und RWE. Sollte sich die Krim-Krise verschärfen, könnte dies für VW kritisch werden, hatte Martin Winterkorn, Vorstandsvorsitzender von Europas größtem Autokonzern gesagt. Der Konzern verkaufte im letzten Jahr rund 290 000 Autos in Russland und produziert in der Nähe der Region Kaluga, gut 100 Kilometer südwestlich von Moskau, in einem eigenen Werk mit 5 000 Arbeitern. Noch im November 2013 hatte Winterkorn Russland als strategischen Wachstumsmarkt Nummer eins in Europa bezeichnet. Seit 2006 hat VW 1,3 Milliarden Euro in die lokale Produktion investiert und bis 2018 sollen es weitere 1,2 Milliarden werden.

Die meisten betroffenen Unternehmen finden sich im Mittelstand. Sie sind in den Bau von Fabriken eingebunden oder in strategischen Wirtschaftszweigen tätig. Die russische Regierung hat die Land- und Ernährungswirtschaft, die Auto- und Energiewirtschaft sowie die Pharmabranche zu strategischen Wirtschaftszweigen erklärt, in denen Unabhängigkeit erreicht werden soll. Bisher ist das Land auf den Import von Fleisch- und Milchprodukten sowie Medikamenten angewiesen.

Russland galt in den letzten Jahren für die Agrarindustrie und daran hängende Zulieferindustrien wie Maschinenbau als wachstumsstärkste Region. Deutsche Unternehmen haben in Logistikzentren, Montage- und Fertigungsanlagen investiert. So eröffnete der Stallanlagenbauer Big Dutchman, der seinen Sitz im niedersächsischen Vechta hat, im Industriepark Detchina in der Region Kaluga ein Warenlager für rund 20 Millionen Euro. Big Dutchman verdient jeden fünften Euro in Russland. Der US-Traktorenhersteller John Deere hat eine Fabrik für 60 Millionen Euro gebaut und auch der Pflughersteller Lemken hat Millionen investiert. Der Saatgutkonzern KWS hat zwei Zuchtstationen für rund sieben Millionen Euro gebaut. Der deutsche Schlachtkonzern Tönnies und das Agrarunternehmen KTG gründeten ein Gemeinschaftsunternehmen und haben begonnen, riesige Anlagen zur Schweineerzeugung vom Stall bis zum Schlachthaus zu bauen. Sie hätten schon mehr als 280 Millionen Euro in Russland investiert und wollen weitere 320 Millionen investieren, erklärte KTG-Chef Siegfried Hofreiter.[14]

Der Maschinenbauer DMG Mori Seiki AG (vormals Gildemeister) erwirtschaftet Erlöse von 100 Millionen Euro in Russland. „Die Zeichen in Russland stehen klar auf Industrialisierung, und die erste Wahl der Russen beim Maschinenkauf sind deutsche Anlagen“, sagt Rüdiger Kapitza, Vorstandsvorsitzender des Unternehmens. Das Unternehmen hat im Ural eine Fabrik und in Moskau ein Technologiezentrum gebaut. Dafür wurden mehr als 50 Millionen Euro investiert. Die deutsche Industrie sei in Russland viel stärker engagiert und umworben, als öffentlich bekannt, so Kapitza.[15]

 

Konfrontationskurs

Die USA und die baltischen Staaten kritisierten die deutsche Haltung: Sie sei zu zögerlich. Die Bundesregierung sei zu sanft mit Putin umgegangen, weshalb er nicht gezwungen gewesen wäre, seinen Kurs zu ändern. Der Versuch, Moskau zur Entspannung der Lage in Gespräche zu verwickeln, sei nicht erfolgreich und diplomatisch sinnlos gewesen. Gleichzeitig werden in den USA Stimmen lauter, die Russland wieder zum Hauptfeind Nummer eins erklären. Befürworter des Konfrontationskurses dominieren auch in den deutschen Medien. So schreibt Jörg Lau in „Die Zeit“, dass es jetzt darum gehe, den russischen Expansionsdrang einzudämmen.[16]

Friedrich Merz fordert, Russland müsse bestraft werden, weil es das Völkerrecht verletzt habe. Europa und Amerika müssten jetzt handeln, weil der UN-Sicherheitsrat nicht handlungsfähig sei. Die „Gemeinschaft Amerika-Europa“ sei dazu berufen, denn sie sei eine Wertegemeinschaft des Völker- und Menschenrechts. Wenn der Westen dieses Mal glaubwürdiger und ernsthafter reagieren wolle, „dann können die Wirtschaftsbeziehungen mit Russland nicht unberührt bleiben“. Merz fordert einen Importstopp von russischem Erdgas. Nach dem milden Winter seien die Speicher in Europa gut gefüllt. So wäre die russische Staatsführung am nachhaltigsten und wirksamsten zu beeinflussen.[17]

Etwa ein Jahr könnte die EU ohne russisches Öl auskommen. Länder, die Mitglied der Internationalen Energieagentur (IEA) sind, haben sich verpflichtet, eine strategische Reserve für Öl anzulegen, die der Importmenge von mindestens 90 Tagen entspricht. 20 der 28 EU-Länder sind Mitglied der IEA. Die IEA hat bestätigt, dass in der EU genug Reserven vorhanden seien, um den Bedarf von 128 Tagen zu decken.[18] Da nur etwa ein Drittel des benötigten Öls aus Russland importiert wird, würde es die EU – rein rechnerisch – ein Jahr durchhalten, auf russisches Öl zu verzichten.

Zahlreiche Politiker fordern, die Abhängigkeit von russischem Erdgas zu verringern – allen voran und lautstark die Grünen-Politiker Werner Schulz, Hans-Josef Fell und Rebecca Harms. Russland habe die EU im Energiewürgegriff, erklärt Fell.[19] Harms und Schulz plädieren dafür, den Bau der South-Stream-Pipeline zu verhindern, die Südeuropa mit russischem Gas versorgen soll. Zudem sollen große landwirtschaftliche Flächen in der Ukraine genutzt werden, um Rohstoffe für Biogas zu erzeugen – und Deutschland solle die nötige Technik dazu liefern.[20]

Doch so einfach wäre es nicht. Die EU-Kommission hat errechnen lassen, was nötig wäre, um die Importabhängigkeit beim Erdgas bis zum Jahr 2030 zu senken: Nur ein ambitioniertes Klimaschutzziel von minus 45 Prozent Kohlendioxid zum Vergleichsjahr 1990, dazu eine Zielmarke von 35 Prozent bei den Erneuerbaren Energien und eine ehrgeizige Energieeffizienzpolitik könnten die Importabhängigkeit um 28 Prozent senken. Doch danach sieht es ganz und gar nicht aus.[21] So hat auch Wirtschaftsminister Gabriel, der für die Energiewende zuständig ist, sofort abgewunken: Zum Import von Erdgas aus Russland gebe es derzeit „keine vernünftige Alternative“.[22]

Ökonomische Verflechtungen erhöhen die Schwelle für einen Eskalations- und Kriegskurs, können die Gefahr aber nicht bannen. Die Scharfmacher drängen nach Entflechtung mit Russland.  Es bedarf des Drucks von unten, des Engagements der Bevölkerung, um Kooperation statt Konfrontation durchzusetzen. Voraussetzungen gibt es. „In den Kommentarspalten der Nachrichtenportale schlagen die Leser eine Schlacht um die Deutung der Krim-Krise: Putin als ‚scharfsinniger Stratege‘, die Maidan-Mitglieder als ‚Putschisten Merkels‘. Ist das russische Propaganda? […] Vielleicht drückt sich in den Kommentaren tatsächlich ein Unmut über die Politik der Bundesregierung aus“, wundert sich die FAZ.[23]

 

Anmerkungen:

[1] Matthias Krupa / Michael Thumann: Krim-Annexion. Stolz, Europäer zu sein, www.zeit.de/2014/13/europa-macht-russland-konflikt (25.3.2014)

[2] Jörg Kronauer:„Konfrontative Kooperation, in: Junge Welt vom 06.3.2014

[3] Friedrich Merz: Nun ist der Westen gefordert, in: Handelsblatt 47 (2014), S. 52

[4] Klaus Mangold: Sanktionen helfen nicht, in: Handelsblatt 47 (2014), S. 47

[5] „Wirtschaftsverband wegen Siemens-Chef in der Kritik“, in: Handelsblatt 28.3.2014

[6] Susan Stewart: Die EU, Russland und eine zusehends weniger gemeinsame Nachbarschaft, in: SWP-Aktuell 6 (2014), S. 8

[7] Auswärtiges Amt: Östliche Partnerschaft der EU, www.auswaertiges-amt.de/DE/Europa/Aussenpolitik/Regionalabkommen/OestlichePartnerschaft.html (20.3.2014)

[8] „AfD lehnt Sanktionen gegen Russland ab“, in: Süddeutsche.de vom 23.3.2014

[9] Stewart: „SWP-Aktuell 6, 2014“, S. 3

[10] Ebenda, S. 8

[11] Arne Delfs: Missfelder warnt in Krim-Krise vor Sanktionen gegen Russland, in: Welt Online (03.6.2014)

[12] Jürgen Fritschen, Mark Schieritz und Arne Storn: Niemand war vorbereitet, www.zeit.de/2014/12/juergen-fitschen-deutsche-bank (13.3.2014)

[13] Dietmar Neuerer: Das Spiel mit dem Feuer, www.handelsblatt.com/politik/deutschland/risiko-russland-sanktionen-das-spiel-mit-dem-feuer/9664766.html (25.3.2014)

[14] Alfons Deter: Tönnies und KTG bauen Schweinemast in Russland auf, www.topagrar.com/news/Home-top-News-Toennies-und-KTG-bauen-Schweinemast-in-Russland-auf-1257978.html (25.3.2014)

[15] http://issuu.com/casopis.hr/docs/frankfurter_allgemeine_-_13.03.2014 (2.4.2014)

[16] Jörg Lau und Uwe Jean Heuser: Helfen Sanktionen gegen Russland?, in: Die Zeit vom 20.3.2014

[17] Friedrich Merz: Nun ist der Westen gefordert, in: Handelsblatt 47 (2014), S. 52

[18] Fritz Vorholz: Unangenehm verflochten, www.zeit.de/2014/12/energielieferungen-russland (25.3.2014)

[19] Hans-Josef Fell: „Russland hat die Ukraine fest im Griff - und auch die Nato und die EU“, siehe unter www.hans-josef-fell.de

[20] www.euractiv.de/ukraine-und-eu/artikel/eu-muss-putin-100-nadelstiche-verpassen-008615 (25.03.2014

[21] Fritz Vorholz: Pro Klima, contra Russland, www.zeit.de/2014/12/europa-erneuerbare-energien-gas-russland (25.03.2014)

[22] „Siegmar Gabriel: Konflikt nicht weiter eskalieren“, in: Neue Osnabrücker Zeitung vom 28.3.2014

[23] „Meinungsschlacht um die Krim“, in: FAZ.net vom 26.3.2014