Martin Schulz ist als deutscher Sozialdemokrat derzeit Präsident des Europäischen Parlaments. Den Beitritt Kroatiens zur Europäischen Union, der offiziell am 1. Juli 2013 erfolgte, begrüßte er mit der Sentenz, das sei dessen „Rückkehr auf seinen angestammten Platz in Europa“. Was er damit meinte, war jedoch nicht so richtig klar. In den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts war Kroatien Verbündeter Deutschlands, im ersten Weltkrieg als Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie und im zweiten Weltkrieg als Vasallenstaat Hitlerdeutschlands.
Diesen Bezug wird der Sozialdemokrat wohl kaum gemeint haben. Aber welchen dann? Im 19. Jahrhundert, in der Zeit des erwachenden Nationalbewusstseins auch im Südosten Europas, gab es in Kroatien zwei entgegengesetzte Tendenzen: eine kroatisch-nationalistische Richtung und einen „Jugoslawismus“, der auf den Zusammenschluss der slawischen Völker in Südosteuropa zielte. Die einen wollten eine stärker eigenständige Position innerhalb der Habsburger Monarchie, die anderen einen übergreifenden Zusammenschluss. Als der erste Weltkrieg für die Mittelmächte verloren ging, beschloss der Zagreber „Nationalrat der Südslawen“ am 29. Oktober 1918 die Auflösung der Bindungen an Österreich-Ungarn und den Zusammenschluss mit dem Königreich Serbien, das zur Entente gehörte – und damit eine der Siegermächte des ersten Weltkrieges war. Wenige Wochen darauf wurde das „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ gegründet. Daraus wurde später das Königreich Jugoslawien, in dem jedoch der König ein diktatorisches Regime errichtete und der Einheitsstaat die angemessene Form der Vorherrschaft der serbischen Bourgeoisie sein sollte. Es keimte ein neuer kroatischer Nationalismus auf, der sich bald gegen den Gesamtstaat richtete.
Die Wunden, die der zweite Weltkrieg den Völkern Jugoslawiens zugefügt hatte, waren auch 1989 nicht vernarbt. Der Ustascha-Bewegung, die sich vom extremen Nationalismus zum Faschismus mauserte, hatte Hitler 1941 bei der Zerschlagung Jugoslawiens die Macht in Kroatien übergeben; Bosnien und die Herzegowina wurden diesem Kroatien gleich mit zugeschlagen. Die Ustascha errichtete unter ihrem „Führer“ Ante Pavelić ein Terrorregime, dem etwa 400.000 Menschen zum Opfer fielen, darunter 300.000 Serben. Von den 31.000 kroatischen Juden wurden 25.000 im KZ Jasonovac umgebracht, und das Morden begann als kroatische Eigeninitiative und nicht erst nach der „Wannseekonferenz“.
Nach ihrem Sieg übte Titos Partisanenarmee grausame Rache, tausende Ustascha-Leute und andere Militärangehörige, die nach der deutschen Kapitulation verblieben waren, wurden erschossen und in Massengräber geworfen. Nach dem Ende Jugoslawiens berichteten deutsche Medien ausführlich über die durch Partisanen Ermordeten, nicht aber über die vorangegangenen Mordtaten der Faschisten.
Der Journalist Ulrich Schiller hat im Jahre 2010 ein Buch über „Deutschland und ,seine‘ Kroaten. Vom Ustascha-Faschismus zu Tudjmans Nationalismus“ publiziert. Er hatte als einer der ersten jungen Deutschen Anfang der 1950er Jahre in Jugoslawien studiert und war später ARD-Korrespondent in Belgrad. In seinem Buch stellt er die Hintergründe der jugoslawischen Zerfallskriege und die deutsche Rolle dabei dar. Über die katholische Kirche, die eine wesentliche Stütze der Ustascha-Organisation war, wurde nach dem Krieg eine „Rattenlinie“ geschaffen, über die zahllose Ustascha-Verbrecher in Sicherheit gebracht wurden, darunter auch Pavelić, der über Österreich und Rom schließlich in Argentinien Unterschlupf fand. Nach Beginn des kalten Krieges hielten es auch die westlichen Alliierten für nicht mehr angezeigt, derartige Personen zu verfolgen; sie würden ja im kommunistischen Jugoslawien keinen „fairen Prozess“ bekommen. Die Ustascha organisierte sich vom Ausland her neu und begann, Mord- und Bombenanschläge gegen jugoslawische Botschaftsangehörige und Einrichtungen im Ausland zu verüben – am 29. November 1962, dem Nationalfeiertag Jugoslawiens, auch auf die Handelsvertretung in der Nähe Bonns.
Die Mehrheit der Bevölkerung im Lande verstand das neue Jugoslawien damals jedoch nicht als „Völkergefängnis“, wie die antikommunistische und antijugoslawische Emigration meinte, sondern als historische Chance. Erst mit der Zuspitzung innerer Widersprüche, die vor allem wirtschaftliche Ursachen hatten, traten die nationalen Bruchlinien wieder offen zu Tage – warum sollten die Kroaten die Entwicklung der Kosovo-Albaner finanzieren, wie es die Bundesregierung in Belgrad verlangte? Franjo Tudjman, einst Partisanengeneral Titos, wandelte sich zum kroatischen Nationalisten, der zunächst die Geschichte umzuschreiben bestrebt war. Ende der 1980er Jahre stellte er enge Kontakte zur kroatischen Diaspora im Westen her und stand dann 1990 bereit, die neue Staatlichkeit auf den Trümmern Jugoslawiens zu begründen. Die noch 1990 verabschiedete neue Verfassung Kroatiens vollzog das, was Milosevic ein Jahr zuvor in Serbien getan hatte: den Minderheiten, hier den Serben, wurde die durch die Tito-Verfassung von 1974 verbürgte Autonomie entzogen, die „Serbismen“ wurden aus der Sprache getilgt, nichtkroatische Journalisten entlassen.
1991 fand das erste Treffen zwischen Milosevic und Tudjman statt, auf dem sie die Aufteilung Bosniens verhandelten. Das aber bedeutete Krieg. Der Nationalismus beider Seiten hat die Zerfallskriege herbeigeführt und ihre blutige Austragung bewirkt.
In vielen deutschen Darstellungen wird bis heute behauptet, die einseitige diplomatische Anerkennung Kroatiens und Sloweniens durch Deutschland habe Schlimmeres verhindert. Tatsächlich wurde dadurch jedoch der Plan der damaligen Europäischen Gemeinschaft vereitelt, zunächst alle Nachfolgestaaten zur Regelung der Probleme der neuen Staatlichkeit, einschließlich der wechselseitigen Anerkennung der Minderheitenrechte, zu veranlassen, und erst danach alle Republiken gleichzeitig anzuerkennen (also nicht nur zwei). Deutschland unter Kanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher hat letztlich durch sein einseitiges Eingreifen zugunsten von Kroatien den Krieg befördert, nicht eingedämmt. Hans Koschnik, einst Bürgermeister von Bremen und dann EU-Administrator in Mostar, der nach dem Krieg den Wiederaufbau auf multikultureller Grundlage zu betreiben versuchte und deshalb besonders von den dortigen Kroaten bekämpft wurde, nennt in seinem Vorwort zu Schillers Buch die Anerkennung ohne tatsächlich gesicherten Minderheitenschutz einen folgenreichen Fehler, und verweist auf die Hintergründe, die im zweiten Weltkrieg und in der Entfesselung des Faschismus in Kroatien 1941 liegen.
Es gibt aber keine Zwangsläufigkeit, die sich linear von 1941 herleitet. Die Bundesregierung hatte vielmehr Milosevic und sein Regime zum Spät-Kommunismus erklärt, auch weil nach dem Schisma vor fast tausend Jahren Serbien zum Osten zählte, während das katholische Kroatien als Teil des Westens angesehen wurde, das es zu befreien galt. So hat Deutschland diejenigen unterstützt, mit denen es in seinen beiden Weltkriegen verbündet war, und Serbien bekämpft, gegen das es in eben diesen Weltkriegen brutal Krieg geführt hatte und erneut im Jugoslawienkrieg von 1999 führte.
Nach dem Tode Tudjmans 1999 folgten die kroatischen Regierungen den Vorgaben der EU, bis das Land schließlich als beitrittsreif angesehen wurde. Die Euphorie im Westen hielt sich allerdings angesichts von Finanzkrise, Schuldenproblemen in den EU-Ländern und des anhaltenden Eindrucks, in Sachen Bulgarien und Rumänien über den Tisch gezogen worden zu sein, jetzt in engen Grenzen – auch Teile der CDU waren nun gegen den EU-Beitritt Kroatiens. Selbst unter der kroatischen Bevölkerung übrigens hält nur ein Drittel der Befragten die EU-Mitgliedschaft für eine gute Sache – fürchten viele doch, dass ihnen die EU ein eher griechisches Schicksal bereithält.
Gleichwohl ist der Beitritt nun vollzogen. Serbien seinerseits wird nach der Niederlage im Krieg der NATO gegen das Land und nach der Abtrennung des Kosovo von der EU jetzt ebenfalls der Status eines Beitrittskandidaten zugebilligt; Verhandlungen sollen im nächsten Jahr beginnen. Und Deutschland hat „seine“ Kroaten wieder an seiner Seite. Ist das also doch der „angestammte Platz“?