Die vielleicht gewiefteste Leserin der Textsorte Policy, die Theoretikerin in Sachen Gender and Race, Sara Ahmed, schlägt vor, sich darauf zu konzentrieren, was in diesen performativen Dokumenten nicht gesagt wird. Und sich nicht darauf zu verlassen, dass auch getan wird, was gesagt wird: „In a way, our task must be to refuse to read such documents as performatives, as bringing into effect what they name. That is not to say that such documents do not matter, or that they do not do anything.“[1]
Eine gegenüber Tücken der Policies hoffentlich genauso wenig naive Lektüre der Deklarationen der ersten World Conference on Arts Education 2006 in Lissabon und ihrer Nachfolgekonferenz 2010 in Seoul, bei denen sich nichts weniger als eine „Weltgemeinschaft kultureller Bildung“ formiert haben soll[2], ist Ausgangspunkt von Another Roadmap. Das vom Institute for Art Education in Zürich initiierte Projekt möchte sich mit dem auseinandersetzten, was die offizielle Roadmap to Arts Education[3] verdeckt und was sie herstellt: mit der Hegemonialität und Kolonialität, in die Politiken und Praktiken von Kunstvermittlung verwickelt sind – nicht weniger seit sie im kognitiven Kapitalismus oben auf der Agenda kreativer Mobilisierung steht. Ohne die Effekte dieses machtvollen internationalen Lobbying geringzuschätzen, von der ein notorisch deklassiertes Feld durchaus profitieren mag, oder die Relevanz der Horizonterweiterung hin zu einer globalen Imagination ist die Allianz von dominanter Kulturgewissheit und neoliberaler Verwertungslogik der Roadmap aus Perspektive einer kritischen Praxis nicht unwidersprochen zu lassen.
Dem Universalismus, mit dem die Roadmap Arts Education auf die globale Agenda setzt, stellt Another Roadmap ein programmatisch und strukturell de-zentrales Setting gegenüber: Entstanden ist eine Konfiguration von derzeit 18 Recherchegruppen aus den Feldern Pädagogik und Kunst, formaler und nicht formaler Bildung, aus Wissenschaftler_innen, Vermittler_innen und Künstler_innen, die das Interesse teilen, Kunstvermittlung in aktuellen politischen, ökonomischen und symbolischen Regimen zu situieren und weder Arts noch Education apologetisch zu affirmieren. Erste Lektüren der Road Map haben, durchaus divergierende Linien der Kritik hervorgebracht, die in einem langfristig angelegten kollaborativen Forschungsvorhaben vertieft werden sollen: an einer neoliberal getunten Version von Art Education, die sich sozialer Kohäsion und Konfliktvermeidung verschrieben hat, Kunst- und Kulturproduktion und Kulturgüter ökonomisch verwerten möchte und durch Vermittlung von Kunst kreative, flexible und lernbereite Subjektivitäten hervorbringen will, die den postfordistischen Regimen und der systemerhaltenden Prekarisierung gewachsen sind. Die Politik der Differenz der Policy steht dabei in einer Kontinuität des Kolonialen, mit der sich Another Roadmap insbesonders befassen möchte. Schon am Aufrechterhalten einer Leitdifferenz zwischen Kultur (die mit dynamischen innovativen urban-westlich-nördlichen Kunstpraxen identifiziert wird) und Kulturen (die mit statischen und immer als bedroht imaginierten indigenen Traditionen assoziiert wird) wird deutlich, wie ungeniert sich die Roadmap eine „sanctioned ignorance“ (Gayattri Spivak) gegenüber den Erkenntnissen und Forderungen post- und dekolonialer Kritik leistet. Another Roadmap versucht ausgehend von dieser Kritik den dominanten Diskursen andere Genealogien und Praxen entgegenzusetzen.
Hier eingeladen, das Projekt aus meiner Perspektive vorzustellen (die ich ungefragt etwas multipliziert habe), nur ein Argument dafür, Another Roadmaps durchaus auch von den Promenaden der Goldküsten[4] und Ringstraßen her zu denken: Derzeit laut Wealth Report im 5. und 9. reichsten Land der Welt lokalisiert, und noch dazu in Ländern, die nicht nur auf die Kapitalisierung von Bergpanoramen und Kunstschnee, sondern auch von Kunst und Kultur und auch deren Vermittlung setzen, scheint mir eine Rechercheperspektive relevant, die auf die Verwicklungen von Arts Education in symbolische und reale Ökonomien und Politiken und den daraus sich ergebenden Widersprüchen, die immer auch die eigene Praxis durchziehen, nicht ausweicht, sondern ihnen nachgeht und sich ihnen aussetzt. In zwei Ländern lokalisiert, die dem Kolonialismus und Imperialismus glücklich übersprungen zu haben meinen, um direkt im postmigrantischen Zeitalter angekommen zu sein, scheint mir eine Rechercheperspektive relevant, die sich gerade mit den Kontinuitäten des Kolonialen auseinandersetzt, zumal diese sich in der aktuellen Politik der Differenz im Feld der Kunst und Kunstvermittlung deutlich zeigt, besonders im Hinblick auf die Migrant_innen, die im sozialen Imaginären mithin als neue „Wilde“ fungieren und auf die sich Begehren, Verwertung und Regulierung von Alterität auch im kulturellen Feld konzentriert. Davon ausgehend, dass Art Education in den eroberten Territorien als Empire’s Workshop[5] geformt, erprobt und unterwandert und umgeformt wurde, um in vielfachen Transfers zwischen Imperien und Kolonien in den globalen Migrationsgesellschaften zu landen, sind historische und geopolitische Perspektivwechsel für das Denken einer anderen, nicht, oder zumindest weniger paternalistisch und kolonial agierenden Kunstvermittlung wichtig. Another Roadmap mit seiner sehr offenen Topografie erlaubt es, diesen Verflechtungen und Verschiebungen nachzugehen.
Another Roadmap, derzeit als selbst-organisierter Forschungszusammenhang noch dabei, sich zu formieren und, vor allem, zu finanzieren, versucht den harmonisierend-universalisierenden Gestus der Roadmap nicht selber zur reproduzieren und Raum für Differenz und Diskrepanz zu schaffen. Und nicht eine Art von selbstgerechter Global Criticality zu produziere, und Radical Art Education und die kritischen Praxis zu idealisieren. Vielmehr geht es darum, die Roadmaps, Dokumente und Diskurse und ihre Effekte zu verfolgen, bis zu den Punkten, an denen sie, produktiv, Probleme machen: „Following documents around begins with an uncertainty about what these documents will do. They might, at certain points, even cause trouble.“[6]
Exemplarisch für ein vielstimmiges Projekt stelle ich zwei Forschungsperspektiven vor:
Javier Rodrigo Montero (Barcelona)[7]
Im spanischen Kontext nimmt die Bildungspolitik nicht direkt auf die Roadmap Bezug. Es lassen sich aber in den unterschiedlichen Kulturpolitiken verwandte koloniale und neoliberale Diskurse in Bezug auf Kreativität, creative industries und die Verwertung von Kultur finden. Der zentrale Angelpunkt jeder kritischen Diskussion aber ist die Wende, die die Kultur- und Bildungspolitik mit der Rezession und dem wilden Abbau des Öffentlichen genommen haben. Die Neoliberalisierung der öffentlichen Dienste wie etwa des Bildungs- und Gesundheitssystems, der Anstieg der Arbeitslosigkeit und der Armut, die Kürzung oder Streichung der Förderung für Sozial- und Kulturarbeit und die täglichen Räumungen bilden ein anderes Szenario für eine kritische Lektüre der Roadmap.
Die aktuelle Regierung privatisiert Kultur und Bildung, indem sie Finanzierung entzieht und ihr die Luft abschnürt. Die sozialen Bewegungen rund um 15-M haben hier glücklicherweise neue Formen von Widerstand, Solidarität und kollektiver Arbeit gefunden, die sich auch mit älteren Kämpfen und politischen Prozessen artikulieren. Es gibt mehr ökologische Kooperativen, innovative Formen sozialer Ökonomien, militante Arbeits- und Forschungsgruppen, Plattformen gegen die Räumungen, die sich künstlerisch-politischer Strategien bedienen, freie Schulen und Volksuniversitäten, neue selbstverwaltete Sozialzentren für mittellose Menschen und Aktionen gegen Banken und andere politische Institutionen, die für den Neoliberalismus stehen.
Diese Vielfalt an neuen Zusammenhängen bildet den Rahmen, um zu überdenken, welche Praxis derzeit in Spanien mach- und denkbar ist, aber vor allem, welche Szenarien für den politischen Kampf nötig sind. Das heißt zu allererst, die Kunstvermittlung zu überdenken, in einer Weise die zwei Aspekte einschließt: erstens die neuen Ciudadanías[8], und die Rolle, die dafür die sozialen und politischen Kämpfe spielen, als widerständige Stimmen der Krise (freie Schulen, Schulstreiks, selbstverwaltete Räume, wo Schulen und AnwohnerInnen zusammenarbeiten, freie Radios...). Zweitens müsste eine solche künstlerische Bildung andere aktivistische Genealogien von Kunst und kritischer Bildung entwerfen, die mit den neuen Formen in Dialog treten (Erbe der escuela moderna, Lernkooperativen, Arbeit von Museen mit communities ...). In anderen Worten geht es darum, die Kultur- und Bildungspraxis als Teil von anderen sozialen Bewegungen zu repolitisieren und emergente Ciudadanías hervorzubringen, die auf die räuberische Kultur und Ökonomie gegenüber öffentlichem Raum, Gemeingut und aktivistischer Arbeit politische Antworten entwickeln, es geht um eine andere Form politischer Bildung im ungeschützten Raum.
Ana Rodríguez (Quito)
Es geht für uns, wenn wir über Kunstvermittlung nachdenken, um Politiken, die aus gesellschaftlichen Forderungen entstehen, und nicht aus Mandaten internationaler Organisationen. Wir verstehen Politiken als allgemeine Rahmungen, die sicherstellen, dass Programme und Aktionen die Ausübung von gesellschaftlichen und kulturellen Rechten gewährleisten. Ebenso ist für uns klar, dass eine Kritik an einem nationalistischen und fixierten Bildungsprojekt – Kennzeichen der meisten Bildungsprojekte der westlichen Moderne – sich nur infolge von bedeutenden Transformationen der Bedingungen zivilgesellschaftlicher Beteiligung an öffentlichen Institutionen und ihren normativen Rahmen formieren kann. In Ecuador, einem plurinationalen Staat, ist heute eine nationalistische, einstimmige Bildung verfassungswidrig. Dennoch ist der Diskurs des nationalistischen Bürgersinns derjenige, den Lehrer_innen häufig als erstes zur Hand haben.
Wie entstehen neue Bildungsinhalte? Inwiefern gehen neue Inhalte mit neuen Methodologien einher, die im Einklang mit partizipativen und reflexiven Prozessen stehen? Was steht uns, als Mitgliedern der Gesellschaft zur Verfügung, um unsere Bildung neu zu denken und zu reflektieren, anhand von kritischen, instabilen und vielstimmigen Inhalten? Zwischen dem Öffentlichen (generelle Rahmen und Bedingungen) und dem Privaten (Recht auf Eigentum und Ökonomisierung) sehen wir zwei Sphären, die wir als „lo común“, als Gemeingut fassen: zum einen die Interpretation (in Räumen der künstlerischen Bildung) der großen normativen Rahmen und der Politiken der öffentlichen Hand (d.h. Konzepte wie z.B. Plurinationalität, Diversität und Interkulturalität „auf den Boden“ zu bringen), zum anderen die Vorgehensweisen, die Methodologien künstlerischer Bildung, als Fluchtlinien gegenüber der Normativierung.
Das Gemeingut als soziale Konstruktion ist, was in emanzipatorischer Perspektive die Pädagogik von einer Zwangsjacke zu einem Horizont macht, auf dem künstlerische Bildung zwar Subjektivierung bedeutet, aber zugleich eine Repolitisierung der Sprache, in dem eine Hegemonie des „común“ möglich ist, eine nicht homogenisierende und unterwerfende Hegemonie. Wir fragen uns, auch in und mit unserem Forschungsprojekt, ob das möglich ist.
Übersetzung aus dem Spanischen: Nora Landkammer
Ana Rodríguez, Kuratorin, Leiterin der Fundación Museos de la Ciudad und des Centro de Arte Contemporáneo in Quito.
Javier Rodrigo, unabhängiger Forscher und Kunstvermittler, Mitgründer des Vermittlungsprojekts Transductores und der Contact Zones am Centre d’Imatge La Virreina in Barcelona.
Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien), Nr. 29, Sommer 2013, „un/vermittelt“.
[1] Sara Ahmed: The Non-Performativity of Anti-Racism. In: Borderlands 3 (2005).
[2] So der Vorsitzende des deutschen Kulturrates Max Fuchs in einem Bericht, http://www.kulturrat.de/dokumente/kkb/kkb-4.pdf
[3] Titel der Deklaration der ersten Konferenz. Alle Dokumente zur Unesco Road Map for Arts Edcuation auf: http://www.unesco.de/kulturelle-bildung.html
[4] Ein populärer Begriff für das noch reichere Ufer des Züricher Sees.
[5] Ich stehle hier den Titel eines Buchs von Greg Grandin zur Lateinamerikapolitik der USA.
[6] Ahmed, a.a.O.
[7] Der Text ist in der Arbeitsgruppe aus Barcelona mit Aida Sánchez de Serdio und Judit Vidiella entstanden und hier umgearbeitet und ergänzt.
[8] Das komplexe Konzept der Ciudadanía ist mit Zivilgesellschaft vielleicht am besten zu übersetzen.