Notizen zu Fremdheit und Anarchismus
Der internationale Anarchismus, schreibt Achille Mbembe, war Ende des 19. Jahrhunderts zum „wichtigsten Träger des Widerstands gegen Kapitalismus, Sklaverei und Imperialismus“[1] geworden. Die Anarchistinnen und Anarchisten traten für eine herrschaftslose Gesellschaft ein, die im Weg dahin schon vorweg genommen werden sollte. Zumindest dem Anspruch nach. Dieser jedenfalls hielt sie davon ab, bei allen möglichen Übeln noch ein geringeres Übel auszumachen, das man vorübergehend unterstützen, strategisch benutzen oder sonst wie hofieren konnte. So wie das etwa in der kommunistischen Bewegung vielfach mit dem Nationalstaat gehandhabt wurde.
Der 2006 verstorbene Sozialforscher Murray Bookchin, der sich auf seine alten Tage noch vom Anarchismus losgesagt hatte, lobt an seinem Ex-Glaubenssystem immerhin noch diese unstrategische Haltung (um sie in anderer Hinsicht als Trennungsgrund zu beschreiben, aber das führt hier zu weit). Die „Anarchist_innen waren in jeder Hinsicht moralische Sozialist_innen“[2], schrieb Bookchin, und meinte damit ihre auf gegenseitige Hilfe ausgerichtete Sozialethik. Aus dieser ergab sich schließlich auch ihre unbedingte Ablehnung eines die Menschheit teilenden (und falsch, nämlich in erfundene Gruppen wieder zusammensetzenden) Nationalismus. Diese Unbedingtheit hält zwar aktuellen Forschungsergebnissen nicht mehr ganz stand: Ausgerechnet während der viel gerühmten Spanischen Revolution 1936 war es zu nationalistischen Argumentationsweisen und nationalistischen literarischen Selbstdarstellungen unter AnarchistInnen gekommen, die, wie der Romanist Martin Baxmeyer herausgearbeitet hat, „den erklärten revolutionären Zielen ihrer Bewegung zuweilen ganz praktisch zuwiderlief.“ [3]
Dennoch hatten die AnarchistInnen etwas Wichtiges erkannt: Um Leute zu Fremden zu machen, braucht es auf Herrschaft basierende Institutionen. Und sie hatten erkannt, dass diese Fremdheit etwas mit Eigentum zu tun hat. Um die jeweils bestehenden Macht- und Eigentumsverhältnisse zu stützen und zu schützen, wird Fremdartigkeit hergestellt, also das, was anders ist als merkwürdig beschrieben. Dann wird diese Merkwürdigkeit erstens einer Gruppe als festes Charakteristikum angeheftet und dieses Merkmal wird zweitens schließlich in eine Hierarchie von Merkmalen einreiht. Wobei die „eigenen“ den „fremden“ selbstverständlich als überlegen gedacht werden.
Der oder die Fremde ist dabei allerdings nicht, wie Georg Simmel einst schrieb, derjenige (oder diejenige), der (die) heute kommt und morgen bleibt. Zwar hatte der Soziologe mit dieser Formel durchaus vorausschauend die fordistische „Gastarbeiter“-Konstellation vorweggenommen. Aber den Kolonialismus hatte er in seiner Analyse vernachlässigt. Denn die kolonialen Gesellschaften haben Fremde produziert, die nicht gekommen sind: Sie waren schon da und wurden mit der Bezeichnung Indios oder Indigene vereinheitlicht. Oder sie sind nicht einfach gekommen, sondern man hat sie gebracht, auf Schiffen als Sklavinnen und Sklaven. In beiden Fällen hat man die Kategorie der „Rasse“ (als angeborene Fremdheit) erfunden, um die neue politisch-ökonomische Systematik – basierend auf Menschenraub und tödlicher Ausbeutung – moralisch zu rechtfertigen. Auch gegenwärtig braucht das Kapital, worauf u.a. Mbembe hinweist, zur Überwindung von Akkumulationskrisen die Kategorie der „Rasse“ und all ihre Effekte.
Die Kämpfe gegen die Sklaverei verknüpften sich hier und da mit denen gegen den internationalen Kapitalismus. Manchmal war dabei Anarchismus im Spiel und Malatesta wurde auch in Manila gelesen.[4] Und die Pariser Kommunardin Louise Michel, die sich in der Verbannung auf den zum französischen Kolonialreich gehörenden, neukaledonischen Inseln für die Einheimischen einsetzte, formulierte erstmals in der Geschichte der europäischen ArbeiterInnenbewegung die Forderung nach einer „antikolonialen Ethik“.[5] In der Gesamtheit antikolonialer Kämpfe war die quantitative Präsenz anarchistischer AktivitInnen aber wohl zu vernachlässigen. Was zählt ist umso mehr die im Anarchismus propagierte Haltung: dass ein Nationalstaat im Grunde keine Legitimität besitzt, Menschen den Aufenthaltsort vorzuschreiben; dass den Besitzenden ihr Eigentum nicht zusteht, nur weil man gewohnt ist, dass die Reichen reich sind; dass also auch die Geburt im Rahmen einer Klasse und/oder einer Nation rein gar nichts mit Anrechten auf Geld, Anerkennung, Prestige, Wohlbefinden, Glück etc. zu tun hat (bzw. haben darf).
Diese grundsätzliche Haltung ist letztlich auch der Hintergrund, vor dem Mbembe dann von allen Linken vor allem den AnarchistInnen „eine kompromisslose Kritik am Kolonialismus“[6] bescheinigt. Insbesondere angesichts der gegenwärtigen Verschärfung der Grenzregime lohnt es sich, an sie zu erinnern.
Oskar Lubin ist Anarchist und Autor von Triple A. Anarchismus, Aktivismus, Allianzen. Kleine Streitschrift für ein Upgrading. Münster 2013 (edition assemblage).
Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien), Nr. 38, „Fremde im Inneren (Neugierde & Gewalt I)“.
[1] Achille Mbembe: Kritik der schwarzen Vernunft. Berlin: Suhrkamp Verlag 2014, S. 68.
[2] Murray Bookchin: „Nationalismus und die ‚nationale Frage’“. In: Ders.: Die nächste Revolution. Libertärer Kommunalismus und die Zukunft der Linken. Münster: Unrast Verlag 2015, S. 131-161, hier S. 143.
[3] Martin Baxmeyer: Das ewige Spanien der Anarchie. Die anarchistische Literatur des Bürgerkriegs (1936-1939) und ihr Spanienbild. Berlin: edition tranvia 2012, S. 478.
[4] Vgl. Benedict Anderson: Under Three Flags. Anarchism and the Anti-Colonial Imagination. London/ New York: Verso 2005, S. 223, siehe außerdem Steven Hirsch/ Lucien van der Walt (Hg.): Anarchism and Syndicalism in the Colonial and Postcolonial World, 1870-1940. Leiden und Boston: Brill 2010, https://libcom.org/files/Anarchism1870_1940.pdf
[5] Vgl. Alfredo Gómez Muller: Anarquismo y anarcosindicalismo en América Latina. Colombia, Brasil, Argentina, México. Medellín: La Carreta editores 2009, S. 52.
[6] Mbembe, a.a.O., S. 149.