Gewaltverhältnisse im Buch

in (01.06.2010)
Gewalt ist ein schillernder Begriff, insofern er in alle möglichen Richtungen ausstrahlt und scharfe Konturen nicht gerade sein eigen nennen kann: Soll sie von den ausübenden AkteurInnen her beschrieben werden oder eher vom erleidenden Opfer? Dient sie immer rationalen Zwecken oder ist sie im Grunde kontingent? Ist sie ganz normal oder Anzeichen eines Ausnahmezustands, liegen ihre Ursachen im Individuum oder sind sie gesellschaftlich zu verorten, lässt sich das überhaupt noch trennen und sollte man eher nach Effekte statt nach Gründen forschen? Und Wie- statt Warum-Fragen stellen? Da auch hinsichtlich der Phänomene, die als Gewalt gelten, die Palette äußerst bunt und breit gefächert ist, lohnt nicht zuletzt die Lektüre des Soziologen Michel Wieviorka, der die Debatten etwas systematisiert. Auch wenn er sich für strukturelle Gewalt wenig interessiert, macht Wieviorka doch einige sehr plausible Vorschläge. Beispielsweise den, dass Gewalt und ihre öffentliche Rezeption Konjunkturen unterliegen. Es hängt daher von sozialen Kämpfen ab, inwiefern die Opfer von Gewalt ihre Anliegen zu Gehör bringen und ihre Rechte durchsetzen können. „Die private oder tief in den Institutionen verankerte Gewalt geht dort zurück“, schreibt er, „wo es Protestbewegungen gelingt, sie sichtbar zu machen und dafür zu sorgen, dass sie im öffentlichen Raum als solche anerkannt wird.“
Einem solchen Verständnis von Gewalt widmet sich auch die Sonderausgabe der traditionsreichen Berliner Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, Das Argument. Hier diskutiert Étienne Balibar über Gandhi vs. Lenin (als die „beiden bedeutendsten Vertreter der Verbindung von revolutionärer Theorie und Praxis in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“) und verschiedene lokale Schauplätze gewalttätiger gesellschaftlicher Auseinandersetzungen werden besprochen. Loïc Wacquant schreibt ebenso beispielhaft über die „Militarisierung städtischer Marginalität“ wie Birgit Sauer die Verschiebungen herausarbeitet, die der Neoliberalismus in Bezug auf Gewalt gegen Frauen gezeitigt hat. Dass Gewalt hier durchwegs in sozialen Relationen gedacht und nicht in allzu menschliche Untiefen herabessenzialisiert wird, macht die paradigmatische Überschrift des Heftes unzweifelhaft übernehmenswert.
Während Das Argument die neomarxistische Diskussion abdeckt, finden sich die eher poststrukturalistisch-diskursanalytischen Texte – inklusive der Schnittmengen wie Althusser, Feminismus oder postkolonialer Theorie – in zwei Sammelbänden zum Thema. „Zur Aktualität eines unscharfen Begriffs“ haben die HerausgeberInnen von Diskurse der Gewalt – Gewalt der Diskurse mit ihrem zu Unrecht kaum beachteten Buch ein Themenfeld eröffnet, das einige Zeit später aufgegriffen und fruchtbar ausgeweitet wurde: Es geht dabei um den Zusammenhang von sprachlich verfasster Wirklichkeit und ihren brutalsten, physischen und psychischen Auswirkungen. In Rationalitäten der Gewalt wird dieser Konnex auf die Frage der veränderten „staatlichen Ordnungsformen“ zugespitzt, die sich laut Einführung „vor allem in den alltäglichen Praktiken und Mechanismen der Herstellung von Staatlichkeit“ und keineswegs bloß im Ausnahmezustand aktualisieren. Dieser an Michel Foucault orientierte Zugang bietet den Vorteil, einerseits deutlich über Repressionsanalysen hinauszugehen und dabei andererseits weder materielle Verhältnisse noch neuere Diskussionen um „epistemische Gewalt“ (Gayatri Spivak) auszuschließen.


Jens Kastner ist Soziologe, Kunsthistoriker und Autor von Die ästhetische Disposition. Eine Einführung in die Kunsttheorie Pierre Bourdieus, Wien 2009 (Turia + Kant).



Das Argument: Gewaltverhältnisse, 47. Jg., Nr. 263, Heft 5/6, 2005, Hamburg (Argument Verlag).

Susanne Krasmann/Jürgen Martschukat (Hg.): Rationalitäten der Gewalt. Staatliche Neuordnungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, Bielefeld 2007.

Michael Schulze/Jörg Meyer/Britta Krause/Dietmar Fricke (Hg.): Diskurse der Gewalt – Gewalt der Diskurse, Frankfurt a.M. 2005 (Verlag Peter Lang).

Michel Wieviorka: Die Gewalt, Hamburg 2006 (Hamburger Edition).


Dieser Artikel erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien), Sommer 2010, „Gewaltverhältnisse“.