Elektrohippies und andere Störer im Cyberspace

Vom zivilen Ungehorsam zum elektronischen Widerstand

Der elektronische zivile Ungehorsam wurde Mitte der 1990er Jahre von einer Reihe von Kollektiven an den Schnittstellen von Kunst, radikaler Politik und Technologie als neue Protestform im Cyberspace

zunächst theoretisch propagiert. Die damals zunehmende Kommerzialisierung des Internet bewog AktivistInnen wie KünstlerInnen gleichermaßen, das Internet auch als politischen und sozialen Aktionsraum zu etablieren. Im Umfeld der pro-zapatistischen Solidaritätsbewegungen und später der globalisierungskritischen Bewegungen wurden kurz darauf Aktionsformen und Taktiken entwickelt, die sich explizit auf die in den USA einflussreiche Tradition des zivilen Ungehorsam bezogen und dessen Methoden für den virtuellen Widerstand adaptierten. US-amerikanische Kollektive wie das Critical Art Ensemble oder das Electronic Disturbance Theater haben wesentlich zur Theoriebildung des elektronischen Widerstandes einerseits sowie zur Entwicklung effektiver Methoden und Werkzeuge andererseits beigetragen.
Ricardo Dominguez vom Electronic Disturbance Theater beschreibt Onlinedemonstrationen als "Versammlungen vernetzter Gemeinschaften auf einer Webseite (...) mit dem Ziel, durch die kollektive Präsenz eine gewisse Störung zu verursachen". Virtuelle Sit-Ins - auch als Internet-Blockaden, elektronische Abstimmungen sowie direkte Aktionen im Internet bezeichnet - zielen durch Überlastung der "attackierten" Webseite(n) auf einen temporären Ausfall derselben ab, ohne - und damit rekurriert der elektronische zivile Ungehorsam explizit auf die von der "analogen" Vorgängerbewegung propagierte Gewaltfreiheit und richtet sich gleichzeitig gegen Hackerpraktiken - Daten oder Computersysteme zu zerstören. Grundsätzlich neu ist die unmittelbar globale Komponente. Elektronischer ziviler Ungehorsam ermöglicht Protest- und Widerstandsbewegungen, in gemeinsamen, gleichzeitig stattfindenden Aktionen "glokal" zu agieren. Erste Wellen schlagende virtuelle Sit-Ins, an denen sich weltweit tausende Internetuser beteiligten, fanden z. B. 1998 als Solidaritätsaktionen mit den Zapatistas nach dem Massaker von Acteal/Chiapas (1997) statt. Zu den Aktionen hatten zahlreiche Zapatista-Solidaritätsgruppen sowie das Electronic Disturbance Theater aufgerufen. Das dadurch erzeugte öffentliche Interesse hat maßgeblich zur Verbreitung der Forderungen der Zapatistas beigetragen und sie gleichzeitig vor repressiven Maßnahmen durch die mexikanische Regierung geschützt. Auch die für die globalisierungskritischen Bewegungen wegweisenden Proteste gegen das WTO-Treffen in Seattle (1999) wurden von einem virtuellen Sit-In begleitet, zu dem die Elektrohippies aufgerufen hatten und an dem sich 500.000 Menschen beteiligten. 2001 gab es die erste Onlinedemo in Deutschland gegen das Abschiebegeschäft der Lufthansa, die zum ersten Mal juristische Konsequenzen nach sich zog.

Die technische Beschreibung eines virtuellen Sit-In ist "Destributed Denial of Service Attack". Praktisch gesehen wird durch das ständige Wiederholen des "Aktualisieren"-Befehls die "attackierte" Seite immer wieder aufgerufen, was bei massenhafter Beteiligung zur Verlangsamung oder dem temporären Totalausfall der betroffenen Webseite(n) führt. Nachdem es einer enorm großen TeilnehmerInnenzahl bedarf, um eine Webseite auf diese Weise zu überlasten, wird meist eine Protest-Software bereitgestellt, die den "Aktualisieren"-Befehl automatisiert. Die erste, inzwischen legendäre Software dieser Art war "Flood Net", die von Carmin Karasic und Brett Stalbaum vom Electronic Disturbance Theater programmiert wurde. "Flood Net" war ein einfaches Schleifenprogramm, das die "attackierte(n)" Webseite(n) alle drei Sekunden abrief und somit zu einer Effizienzsteigerung des Sit-In beitrug. Erstmals wurde es im Rahmen der weltweiten Proteste nach dem bereits erwähnten Massaker von Acteal, bei dem 45 Indigene getötet wurden, begleitend zu den Demonstrationen auf der Straße eingesetzt. Das virtuelle Sit-In sollte, so Ricardo Dominguez "die globale Unterstützung für die Aufständischen elektronisch symbolisieren und Medienaufmerksamkeit für deren Anliegen erzeugen". 1999 veröffentlichte das Electronic Disturbance Theater den Quelltext des Programms, was zusammen mit dem von ihnen bereitgestellten "Disturbance Developer Kit" zu einer Zunahme an virtuellen Sit-Ins führte. Für die Onlinedemonstration auf der Lufthansa Seite wurde ebenfalls ein eigenes Programm geschrieben, dass jedoch schon sehr viel komplexer war bzw. sein musste, um überhaupt noch zu funktionieren, da sich die "Gegenseite" immer besser vor "feindlichen" Attacken zu schützen weiß. Das kann einerseits in Form von "Gegenattacken" geschehen - bei einem virtuellen Sit-in, das vom Electronic Disturbance Theater während ihrer Teilnahme am Ars Electronica Festival 1998 durchgeführt wurde, kam es zu einem Gegenangriff von US-Amerikanischen Department of Defense in Form eines Java Scripts, das die Zerstörung beteiligter Computer zur Folge hatte - oder einfach in dem sich Zielscheiben wie die Lufthansa durch Zukauf von Speicherkapazität vor der gesteigerten "Nachfrage" ihrer Webseite schützen (oder es zumindest versuchen).

Der technologische Aspekt spielt bei virtuellen Sit-Ins zwar eine große Rolle in Bezug auf die Durchführung und stellt für viele Aktionsgruppen bis heute eine nicht zu unterschätzende Problematik bei der Organisation dar (Vgl. Initiative Libertad!), dennoch stehen nicht Methoden oder gar die Technologie im Vordergrund, sondern die Motivationen und Ziele der Aktionen. Elektronischer ziviler Ungehorsam ist kein Coup aus der Computerfreakecke, sondern vielmehr eine symbolische Protestform, die parallel und unterstützend zu umfassenderen Kampagnen eingesetzt werden kann, um öffentlichen Druck auf Regierungen, Konzerne oder Organisationen auszuüben. Letztendlich geht es darum, Medienecho für die vertretenen Anliegen zu erzeugen, wie es z. B. die weltweiten Aktionen in Zusammenhang mit den Zapatistas oder die Onlinedemo gegen die Lufthansa geschafft haben. Die "deportation.class" Kampagne wurde vom antirassistischen Netzwerk "kein mensch ist illegal" und der Solidaritätsgruppe für politische Gefangene Libertad! gemeinsam organisiert und zielte darauf ab, die Lufthansa durch die Erzeugung öffentlichen Drucks zum Ausstieg aus dem einträglichen und mitunter tödlichen Geschäft mit Abschiebungen illegalisierter Flüchtlinge zu bewegen.

Obwohl das erste (dokumentierte) virtuelle Sit-In auf einer Webseite bereits 1995 stattgefunden hat (nach einem Aufruf der italienischen Gruppe Strano Network auf mehreren Webseiten der französischen Regierung als Protest gegen Atomtests auf dem Mururoa-Atoll) und seitdem zu zahlreichen virtuellen Sit-Ins aufgerufen wurde, überrascht es doch, dass es nicht zu einer massenhaften Verbreitung dieser Protestform gekommen ist. Theoretisch beinhalten virtuelle Sit-Ins großes Potential für global koordinierte, finanziell erschwingliche Aktionen von großer Reichweite. Andererseits ist bis heute die technische Umsetzung elektronischer Protestformen nicht einfach. Das liegt einerseits an der (immer noch) mangelnden technologischen Alphabetisierung von AktivistInnen, andererseits am ungleichen Kräfteverhältnis zwischen Protestierenden und denen, gegen die protestiert wird und die sich immer besser gegen "Attacken" zu schützen wissen. Hinzu kommt das Prinzip der Transparenz, demzufolge elektronischer ziviler Ungehorsam nicht heimlich und anonym stattfindet sondern vorab mit genauen Angaben zu Zeit, Ort (Webseite), Motivation und Zielsetzung angekündigt wird. Die bewusste Veröffentlichung der eigenen Computeradresse (IP-Adresse) und somit die Bekanntgabe der Identität ist in diesem Zusammenhag erwünscht und betont das Recht auf Demonstrationsfreiheit auch im virtuellen Raum. Im fehlenden Gemeinschaftsgefühl - bei der Onlinedemo ist jede/r für sich - sehen viele ein Problem in Bezug auf die Mobilisierung. Hinzu kommen die vielen verschiedenen (politischen) Gruppierungen, die es für eine Massenaktion, an der sich tausende beteiligen müssen, sofern diese Aussicht auf Erfolg haben soll, zu gewinnen gilt. Das Beispiel der gut dokumentierten und kritisch analysierten Lufthansa Onlinedemo behandelt die Mobilisierungsproblematik anschaulich und mitunter humoristisch, wenn der Mobilisierungsmisserfolg in der radikalen Linken mit der fehlenden "Anleitung zur Vermummung" begründet wird.

Die Onlinedemonstration gegen die Lufthansa ist auch bezüglich der Frage der Legalität/Illegalität von Aktionen im Cyberspace und im Hinblick auf die - für zivilen Ungehorsam zentrale - Gewaltfrage relevant. Die Lufthansa zeigte den Betreiber der Domain libertad.de wegen Nötigung an. Vier Jahre später wurde er in erster Instanz verurteilt, erst in zweiter Instanz erfolgte der Freispruch. Die Begründung des Erstgerichts, dass durch den Aufruf zur Teilnahme am Sit-In andere zur Ausübung von Gewalt (durch den Mausklick) aufgefordert wurden, konnte sich in der Revision nicht durchsetzen. Dieser Prozess war weltweit die erste juristische Konsequenz eines virtuellen Sit-Ins und hat einen Präzedenzfall geschaffen: Onlinedemos sind keine Gewalt und Nötigung, sondern zielen auf die Meinungsbildung der Öffentlichkeit ab.

Dies führt indirekt zu einer weiteren Problematik des elektronischen Widerstands: Seit dem ersten Auftreten elektronischen zivilen Ungehorsams ist dieser dem Vorwurf des Cyberterrorismus sowie der Assoziation mit Hackern ausgesetzt. Neue Wortschöpfungen wie "Hacktivismus", eine Zusammensetzung von "Hacker" und "Aktivismus", entstanden. Gerade von den klandestinen Aktionen von Hackern, deren Motivationen unklar sind, haben sich AktivistInnen distanziert. Ironischerweise wurde zu Beginn der theoretischen Propagierung des elektronischen zivilen Ungehorsams gerade die Tatsache beklagt, dass AktivistInnen das technologische Wissen und HackerInnen, die über dieses Wissen verfügen, die notwendige Politisierung fehle. Tatsache ist, dass Webseiten unter Zuhilfenahme von Hacker-Methoden relativ leicht "abgeschossen" werden können. Das entspricht aber nicht den Prinzipien des elektronischen zivilen Ungehorsams, der sich in erster Linie als symbolische Protestform versteht, der es nicht um zusammenbrechende Server sondern um die Schaffung einer Medienöffentlichkeit geht.

Die Notwendigkeit, den Protest von der Straße in den Cyberspace zu verlagern bzw. in diesen auszudehnen, wurde zunächst theoretisch vom Critical Art Ensemble formuliert, ehe es zu den ersten praktischen Anwendungen kam. Mit den beiden Publikationen The Electronic Disturbance (1994) und Electronic Civil Disobedience and Other Unpopular Ideas (1996) legten sie einerseits den Grundstein für elektronischen zivilen Ungehorsam und andererseits eine scharfsinnige Netzkritik vor. Ausgangspunkt ihrer Analyse war der Machtzuwachs transnationaler Großkonzerne und die damit einhergehende Schwächung nationalstaatlicher Ökonomien, vor allem aber die von Konzernen und Regierungen gleichermaßen betriebene Technologisierung der Verwaltung. Zentrale These ist das Verschwinden sichtbarer und konkreter Gegner in den Cyberspace und der damit einhergehende Bedeutungsverlust der Straße für effektiven Protest. Durch den Rückzug in den virtuellen Raum wird KritikerInnen der herrschenden Machtverhältnisse das Bezugsobjekt für Widerstand und in letzter Instanz die Möglichkeit zu einer Veränderung der Verhältnisse entzogen. "Der Ort der Macht - und der Sitz des Widerstandes - befindet sich in einer uneindeutigen Zone ohne klare Grenzen". In der "Machtelite des Spätkapitalismus" sehen sie die BetreiberInnen dieser Transformation in eine "nomadische Macht" übergehen, die erst durch die technologische Erschließung des Cyberspace ermöglicht wurde und die einer globalen Ökonomie zuspielt. Die Tatsache, dass sich sowohl Regierungen als auch transnationale Großkonzerne in den Cyberspace zurückgezogen haben und deren Funktionieren auf herkömmlichem Weg - d. h. durch den Widerstand physischer Körper auf der Straße, nicht mehr gestört werden kann - nahm das Critical Art Ensemble zum Anlass, mögliche Strategien für elektronischen zivilen Ungehorsam in der Theorie zu konzipieren, mit dem Ziel, nicht wie bisher Arbeitskraft sondern Information zu unterbinden.

Das taktische Mittel des elektronischen zivilen Ungehorsams verfügt über ein enormes Protestpotential, birgt aber auch Schwächen und Problematiken in sich. Viele der in der Anfangszeit vielleicht auch aus einer virtuellen Euphorie geborenen Prognosen bezüglich der Wirksamkeit elektronischen Widerstands haben sich nicht bewahrheitet. Vor allem die kategorische Absage an den Protest auf der Straße, wie sie vom Critical Art Ensemble mit dem Slogan "Wenn es um die Macht geht, sind die Straßen totes Kapital!" formuliert wurde, kann so nicht bestehen. Elektronischer ziviler Ungehorsam wird heute vielmehr als eine von vielen möglichen Taktiken gesehen, die, so Dominguez, "nur ein Element eines viel größeren und langfristiger angelegten Protests sein kann (...) und ohne Aktionen auf der Straße bedeutungslos" ist.

Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, "nicht alles tun", Wien, Sommer 2008.