Realitäten des Multikulturalismus

Editorial

"Schüler der Neuköllner Thomas-Morus-Oberschule begrüßen den Mord an der 23jährigen Hatun Sürücü."

"Schüler der Neuköllner Thomas-Morus-Oberschule begrüßen den Mord an der 23jährigen Hatun Sürücü. Sie beleidigen und provozieren zudem islamische Mitschülerinnen, die kein Kopftuch tragen wollen. (Â…) Die türkischstämmige Hatun Sürücü war vergangene Woche erschossen worden, Grund war offenbar ihr westlicher Lebensstil. Als Tatverdächtige sitzen drei ihrer Brüder in Untersuchungshaft." (Morgenpost, 17.2.2005)
"(Â…) Wenn Angela Merkel (CDU) im Nachrichtenmagazin Focus endlich einsieht, dass ‚die Idee der multikulturellen Gesellschaft dramatisch gescheitert' ist, spricht dies nur von politischer Blindheit. Diese Idee ist schon vor Jahren gescheitert. ‚Wer in Deutschland lebe,' forderte Merkel weiter, ‚muss ohne Wenn und Aber auf dem Boden des Grundgesetzes stehen und unsere christlich-abendländischen Wurzeln tolerieren'. Genau das haben die Kameraden der NPD, welche wegen solcher Forderungen als Volksverhetzer und Staatsfeinde über Jahre defamiert (sic!) wurden, seit Jahrzehnten bereits gefordert." (NPD Zwickau)

Es sind genau solche Nachrichten und Statements, die in den vergangenen Monaten zu einer erhitzten Debatte über den Multikulturalismus führten. Dass über ihn und die real existierende multikulturelle Gesellschaft kontrovers diskutiert wird, ist zunächst durchaus erfreulich. Denn trotz aller notwendiger Kritik an der Ausgrenzung von MigrantInnen und an deutschen Leitkulturdebatten (siehe S. 22) besteht gerade aus antirassistischer Sicht die Notwendigkeit, den Multikulturalismus zu hinterfragen. Als liberale politische Ideologie weist er in der Regel ein harmonistisches Weltbild auf, in dem MigrantInnen jeglicher ethnischer, kultureller und religiöser Herkunft unter Bewahrung eben dieser Herkunft mit "den" Deutschen zusammen leben - zwecks gegenseitiger Bereicherung und in friedlicher Koexistenz. Kein Wunder, dass die Werbewirtschaft sich einer Multikulti-Ästhetik bemächtigte, maskiert die ‚kulturelle Vielfalt' doch bestens die Gleichförmigkeit der Warenwelt (siehe S. 34). Kein Wunder aber auch, dass der vorherrschende liberale und staatskonforme Multikulturalismus versagte, als die Konflikte der multikulturellen Gesellschaft sich zuspitzten und ernste Bewährungsproben anstanden (siehe das Beispiel der Niederlande, S. 26).
Beispiel Islamismus: Nachdem dieser auch in westlichen migrantischen Milieus Fuß zu fassen begann und terroristische Aktivitäten von Islamisten nicht mehr nur den Mittleren Osten erschütterten, erwies sich der liberale Multikulturalismus als kaum in der Lage, eine eigenständige Position zwischen repressiver Law-and-Order-Politik à la Otto Schily & Günther Beckstein und kulturrelativistischer Inschutznahme aller Muslime à la Claudia Roth & Marieluise Beck zu beziehen. Wäre der liberale Multikulturalismus wirklich so aufgeklärt, wie er sich gab, dann hätte er sich folgenden Fragen gestellt: Wie kann die Ideologie des Islamismus politisch bekämpft werden, ohne dass alle Muslime stigmatisiert und durch Repression generalverdächtigt werden? Wie kann eine Religionskritik am Islam(ismus) formuliert werden, die keinen Kulturkampf des ach so friedlichen ‚christlichen Abendlandes' gegen alle Muslime inszeniert? Wie sieht eine universalistische Position der Aufklärung aus, die einerseits nicht in kulturrelativistische Verharmlosung religiös begründeter Gewalt verfällt, aber andererseits um die instrumentelle Herrschaft westlicher Aufklärungskonzepte weiß - und die daher weder von einer grundlegenden Überlegenheit der "westlichen Zivilisation" ausgeht noch glaubt, diese mit Waffengängen herstellen zu müssen?

Mit bestürzend wenigen Ausnahmen mangelt es der mehrheitsdeutschen Gesellschaft am Willen und an der analytischen Fähigkeit, MigrantInnen als eigenständige politische Akteure ernst zu nehmen. Das gilt auch für Teile der antirassistischen Linken, die MigrantInnen zwar richtigerweise als Opfer von staatlichem und gesellschaftlichem Rassismus wahrnehmen, über diese Viktimisierung aber nicht hinauskommen. Das führt dazu, dass einerseits zu Recht bedingungslos Partei für MigrantInnen ergriffen wird, wenn diese von Abschiebung, Anschlägen oder Diskriminierung betroffen sind, andererseits aber eine kritische Auseinandersetzung mit ihren Positionen und Handlungen unterbleibt (siehe S. 30).
Dabei ist offensichtlich: Die verschiedenen migrantischen Milieus sind noch weitaus heterogener als die ebenfalls nicht homogene mehrheitsdeutsche Gesellschaft. Dies resultiert allerdings gerade nicht aus der unterschiedlichen geographischen und ‚kulturellen' Herkunft der MigrantInnen. Faktoren wie die - noch oder nicht mehr vorhandene - Bindung an die Herkunftsländer und die konkreten Lebensumstände in Deutschland, vor allem aber politische Überzeugungen spielen eine wesentlich größere Rolle bei der gesellschaftlichen Positionierung. Es gibt nicht "die" türkische Community, allenfalls verschiedene Communities. Das zeigt sich deutlich in den aktuellen Auseinandersetzungen zwischen neokonservativen, meist männlichen Traditionsbewahrern türkischer Herkunft und Frauenrechtlerinnen wie Necla Kelek, Seyran Ates oder Serap Cileli. In solchen Konflikten Partei zu ergreifen für jene MigrantInnen, die emanzipatorische Ziele vertreten, und gegen jene, die ihre Umsetzung verhindern, ist nicht nur legitim, sondern notwendig. Unter einer Bedingung: Diese Parteinahme muss einhergehen mit dem kompromisslosen Einsatz gegen rassistische Sondergesetze, Abschiebungen und dergleichen.
"Nur gemeinsam werden wir eine Gesellschaft schaffen, in der man ohne Angst verschieden sein kann" - was Adorno 1944 in seinen Minima Moralia formulierte, hat nichts an Aktualität verloren. Gerade weil sich diese Aufforderung unterschiedslos an alle richtet.

die redaktion