Das Argument 312: Literatur und geschichtliche Erfahrung

Editorial

in (29.08.2015)

In einer Welt, die »eingesponnen ist in das Netz der Medien«, wird »alles sofort Oberfläche«, bemerkte Heiner Müller 1995 (W 12, 728). Die »totale Besetzung mit Gegenwart«, die er wenige Jahre früher mit Blick auf die westlichen Industrieländer konstatierte, sah er unter Aufbietung aller ökonomischen Macht »zur Auslöschung von Vergangenheit und zur Auslöschung von Zukunft« treiben (W 11, 369). Am Gegenpol zum medialen Entzug von Geschichte liegt, was in der an Bertolt Brecht anschließenden Tradition »eingreifende Literatur« genannt wird. Sie interessiert sich für das Gewordensein der Gegenwart und für ihre Veränderbarkeit, sprengt die »Trennungen zwischen Abbilden und Eingreifen« und hält an dem Gedanken fest, »dass es um die Aneignung der wirklichen Welt und um eine wirkliche Aneignung« gehen muss (Schlenstedt, Wirkungsästhetische Analysen, 1979, 148; 140).

Das Wirklichkeitsmaterial, das die Literatur ergreift, um es der Aneignung zuzuführen, ist von gesellschaftlichen Widersprüchen und antagonistischen Interessen durchzogen. Sie sind der Grund für die »gesellschaftliche Multiakzentuierung«, die das sprachliche Zeichen, wie Voloŝinov sagt, zur »Arena des Klassenkampfes« macht (Marxismus und Sprachphilosophie, 1975, 71). Das Umkämpftsein der Bedeutungen gibt dem Interpretieren seine Unvermeidlichkeit. Peter Jehle führt dies am Beispiel des auf verrückte Weise vernünftigen Don Quijote vor. Die Widersprüche, in die ihn die edlen Motive der literarischen Illusion verwickeln, führten den Zeitgenossen vor Augen, dass es einer anderen Interpretation der Verhältnisse bedurfte. Das Verändern, das Aussicht auf Erfolg haben will, ist an eine Kunst der Weltauslegung gebunden, die wie bei Cervantes, dem Schöpfer des Don Quijote und dessen komplementärer Gegenfigur, dem Sancho Pansa, »mit den Einfachen in Kontakt« zu treten versteht, denn »nur durch diesen Kontakt wird eine Philosophie ›geschichtlich‹, reinigt sie sich von den intellektualistischen Elementen individueller Art und wird ›Leben‹« (Gramsci, H. 11, §12, 1381).

Die »Politisierung der eigenen Klasse«, erklärte Walter Benjamin, ist die einzige Wirkung, »die ein schreibender Revolutionär aus der Bürgerklasse heute sich vorsetzen kann«, als »Lumpensammler«, der »mit seinem Stock die Redelumpen und Sprachfetzen aufsticht«, um den »einen oder den anderen dieser ausgeblichenen Kattune ›Menschentum‹, ›Innerlichkeit‹, ›Vertiefung‹ spöttisch im Morgenwinde flattern zu lassen« (GS III, 225). Umgekehrt galt es, jene Elemente aus dem literarischen Erbe hervorzuheben, die im Kampf für eine neue Gesellschaft von Nutzen waren. Frank Voigt macht in seinem Beitrag an bislang unveröffentlichten Exzerpten aus der marxistischen Wochenschrift Die Neue Zeit nachvollziehbar, wie Benjamin sein methodisches Bewusstsein schärfte, indem er sich an eine Kritik der Bildungs- und Kulturpolitik der SPD machte. Die Arbeit an den Exzerpten, von denen drei in diesem Heft erstmals zugänglich gemacht werden, nimmt Benjamin im durch den Nazismus erzwungenen Exil auf, als er im Juni 1934 zeitweise in Svendborg im Hause Brechts unterkommt. Die Zeitschrift Krise und Kritik, die Brecht und Benjamin noch 1930 zusammen mit Brentano und Ihering planten, zeugte bereits von der Stoßrichtung, im »klaren Bewusstsein von der kritischen Grundsituation der heutigen Gesellschaft [...] eine eingreifende, von Folgen begleitete Produktion« zu ermöglichen (Benjamin, GS VI, 619).

Im Exil rücken die Aufgaben der Kritik noch dringlicher ins Zentrum der entstehenden Zeitschriftenprojekte. Die jüngst in drei umfangreichen Bänden veröffentlichten Briefe, die Brecht im Exil erhielt, zeugen von den ungeheuren Schwierigkeiten, mit denen das vom Publikum abgeschnittene literarische Leben und die antifaschistische Bündnispolitik konfrontiert waren. Robert Cohen gibt einen Eindruck davon, was die Briefe uns erzählen – über Freundschaften, Not und Hilfe, über Enttäuschungen, Hoffnungen und den antifaschistischen Kampf. Aber auch hier bezeichnet, wie Cohen zeigt, Benjamins Prinzip der rettenden Kritik eine notwendige Aufgabe: die geschichtlichen Erfahrungen, die die Briefsammlung zugänglich macht, müssen vor einer Überlieferung gerettet werden, die den editorischen Kommentar zum Mittel der Entpolitisierung macht.

Dass die rettende Kritik auch etwas mit der Schreibweise zu tun haben kann, zeigt Erich Hackl am Beispiel von Robert Streibels historisch-dokumentarischem Roman April in Stein, dessen Handlung kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs beginnt. Seine Struktur erzwinge »geradezu die Gewissheit, dass ich, lesend, nicht allein gelassen bin, sondern einem Kollektiv angehöre, das in den Verfolgten von früher Gefährten entdeckt«.

Vor 20 Jahren titelte Das Argument mit der aus Helmut Gollwitzers Paulskirchenrede aus dem Jahr 1985 stammenden Parole »Der 8. Mai ist nie vorbei«. »Für die Gestaltung der Zukunft«, heißt es im Editorial, »brauchen wir den 8. Mai: Was den Franzosen die Revolutionserinnerung, ist uns Deutschen notgedrungen die Konterrevolutionserinnerung: Mahnung zur Demokratie und Kenntnis ihrer Gefährdung.« (DA 209/1995, 172) Das reagierte auf die mit der deutschen Vereinigung einsetzende Ächtung von Antifaschismus und Faschismustheorie. Mit der historischen Niederlage des europäischen Staatssozialismus, die den Kapitalismus wieder als »Schicksal der Menschheit« (W 8, 609) einsetzte, schienen die finstersten Visionen, die Heiner Müller lange zuvor in seiner dramatischen Auseinandersetzung mit der ›deutschen Misere‹ zeichnete, eine unheilvolle Aktualität zu gewinnen. »Nach dem Purgatorium«, meinte Müller 1992 im Blick auf die untergegangene DDR, »käme an sich das Paradies, aber jetzt ist nur das Inferno da, und das Paradies wird simuliert.« (W 12, 113) Jost Hermand zeigt, wie Müller in seinem Werk dennoch das »Andre in der Wiederkehr des Gleichen« (W 2, 118) bewahrte, um der Zerstörung, die sich gegen die zukunftshaltigen Eigenschaften des Untergegangenen richtete, eine Erinnerung an Zukunft zu entreißen.  

Jan Loheit