Der Begriff „Kultur“ deckt ein großes Bedeutungsspektrum ab: Die Rede ist von einer Kultur der Azteken oder des Mittelalters, von einer Hoch- oder Volkskultur, ebenso wie auch von einer „Betriebs-“ „Mehrheits“– oder gar „Aktienkultur“. Diese vielfältige Rede über „Kultur“ sieht auf den ersten Blick nach konzeptioneller Konfusion aus. Jedoch ist diese terminologische Mehrdimensionalität letztlich zur Komplexität der Sache selbst vermittelt: Mit dem Kultur-Begriff wird durchaus Verschiedenes bezeichnet – das jedoch einen gemeinsamen Kern besitzt.
Zwar macht nicht jedes Bindestrich-Wort, in dem der Kulturbegriff vorkommt, Sinn – jedoch ist Kultur, um vorweg einer verbreiteten Einengung zu begegnen, mehr als das, was in Konzertsälen dargeboten oder in den Museen präsentiert wird. Dennoch kann keine kritische Beschäftigung mit den Basisformen der Kultur diese sogenannten hochkulturellen Äußerungsformen ignorieren. Denn was Kunst, Musik und Literatur in ihren besten Beispielen (!) präsentieren, stellt etwas dar, was wir als kollektives Gedächtnis der Menschheit bezeichnen können: Die Künste setzen sich in elementarer Weise mit Fragen der sozialen und der individuellen Existenz der Menschen auseinander; sie thematisieren menschliche Wünsche und Niederlagen, Hoffnungen und Enttäuschungen. Sie können auch eine Ahnung davon vermitteln, wie ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben aussehen könnte, was Selbstachtung und Solidarität auch in widrigen Zeiten bedeutet. Ihre Beiträge sind deshalb unverzichtbar bei der Fundierung eines humanistischen Menschenbilds und einer Kultur des Widerstands.
Kunst und Kultur als Ideologie
Diese Perspektivität und progressive Funktionalität muss der Künstler bei der Gestaltung seiner Werke sich erarbeiten, denn das Mögliche seines Schaffens stellt sich nicht automatisch ein. Der Kunst die progressiven Fähigkeiten pauschal zuzurechen (wie es im spät-modernistischen Kulturbetrieb geschieht), führt in die Irre. Denn es lässt sich heute nicht nur in Einzelfällen beobachten, dass künstlerische Aktivitäten in einem entscheidenden Punkt dem herrschenden (Un-)Geist die Reverenz erweisen, auch wenn dies regelmäßig mit einer „kritischen“ Geste geschieht: Sie bestätigen vorherrschende Verdinglichungsvorstellungen („Die Umstände beherrschen uns!“), sowie eine verbreitete Resignation („Man kann ja doch nichts ändern!“); sie transportieren damit Ideologieelemente, die für den spätkapitalistischen Prozess ideologischer Herrschaftsreproduktion eine Basisfunktion haben.
Typisch für diese weltanschauliche Funktionalität sind viele der als besonders bedeutsam herausgestellten Produktionen des Gegenwartstheaters. Ihre Vorgehensweise ist zur Konvention erstarrt: Sie reagieren auf strukturelle Deformationen der Gesellschaft mit Bildern einer chaotischen Welt und der Darstellung deformierter Menschen als deren Inbegriff. Nicht aufgrund seiner historischen Überlebtheit versinkt das gegenwärtige Zivilisationsmodell im Schlamm, Blut und Kot, sondern, so legt es auch die Stuttgarter Hamlet-Inszenierung des Volker Lösch von 2009 nahe, der Morast soll als das eigentliche Fundament der Welt verstanden werden. Verabsolutiert wird ein negatives Allgemeines: Die sozialen Verhältnisse sind in diesem Darstellungsmodus nicht aufgrund realer Entwicklungen deformiert, sondern in ihrer grundsätzlichen Charakteristik ein „Saustall“. Symbolisiert wird diese Verfasstheit durch sich im Schlamm wälzende und übereinander herfallende (dabei wie Schweine quiekende) Darsteller.
Zu einem humanistischen Horizont vermittelte Kunst geht anders vor: Nicht nur um den Tatbestand der Entfremdung zu konstatieren, sondern gleichzeitig auch, um auf ein denkbar Anderes zu verweisen, lässt Thomas Mann im „Zauberberg“ seinen Settembrini sagen: „Sie werden auf allen Vieren gehen, bald werden sie zu grunzen beginnen.“ Eine solche Differenz fehlt gewöhnlich in den aktuellen Theaterinszenierungen: Sie thematisieren ein „lebensweltliches“ Grauen, das gleichzeitig zum Existenzrahmen stilisiert wird, dem angeblich nicht zu entkommen sei. Die Signatur dieses „Regietheaters“ ist die Alternativlosigkeit. Die als Spekulanten und Ausbeuter bei Lösch konkretisierten Protagonisten füllen in diesem System eine vorgeprägte „Rolle“ aus; sie agieren mit Skrupel- und Rücksichtslosigkeit, ohne jedoch wirkliche „Akteure“ zu sein. Dem Zuschauer wird ein Hamlet präsentiert, der über den wirtschaftlichen und politischen Morast seines Landes verzweifelt ist, jedoch wirkt diese Verzweiflung absurd, weil dieser Zustand als unüberwindlich dargestellt wird. Das Publikum wird in „der Monotonie einer ewigen Gegenwart“ zurück gelassen.1
Thematisiert werden in solchen Inszenierungen (die sich meist auch in einer Respektlosigkeit gegenüber der literarischen Vorlage gefallen) zwar aktuelle Krisensymptome und Katastrophenerfahrungen, die jedoch durch Endzeitszenarien überlagert werden und bestenfalls eine emotionale „Betroffenheit“ provozieren. Ausgegrenzt und verdrängt „wird im Grunde genommen alles, was bearbeitet werden müsste, damit die Menschen nicht blind wiederholen, was immer schon war“.2 Die naturalistische Abbildung der „Welt so wie sie ist“, provoziert ein verschwiegenes Einvernehmen mit ihr, weil alle Alternativen ausgeblendet bleiben.
Ein solcher Modus resignativer „Unmittelbarkeit“ prägt auch viele Beispiele einer bildenden Kunst, die sich als „gegenwartsbezogen“ und „subversiv“ versteht, jedoch durch ihre bloß konstatierenden Gesten die gesellschaftlichen Zusammenhänge ausblendet: Es wird etwas beleuchtet, um den eigentlichen Sachverhalt im Schatten zu belassen. So „skandalisiert“ ein nachgebautes und mit den Habseligkeiten eines Obdachlosen beladenes Fahrrad (museal präsentiert) zwar eine gesellschaftliche Widerspruchserscheinung, thematisiert jedoch nicht deren Ursachen, geschweige denn die Perspektiven ihrer möglichen Überwindung.3 Es ist ein topologisches Vorgehen, wie Adorno es nennt, „das von jedem Phänomen weiß, wo es hingehört, und von keinem, was es ist“.4 Konstitutiv für dieses Kunstschaffen ist die Abwesenheit des Gehalts als einer „Form der Abstraktion, in der das Einzelne, Besondere, das Situative, die Erfahrung von unter her, die Perspektive des Leids ... verschwunden ist. Man könnte es auch die Dominanz der Leere nennen, der Unverbindlichkeit, des Belanglosen, das nirgendwo aneckt, keinem wehtut, allenfalls anödet.“5
Überboten wird solche ästhetische Dürftigkeit nur noch vom Raunen einer als „Kunstkritik“ sich kaschierenden Hofberichterstattung über den Kunstbetrieb, die ohne begriffliche Durchdringung des dargebotenen, ohne vergleichende Bewertung und ohne die Frage des Gelingens oder des Scheiterns der Absichten auch nur noch ansatzweise aufzuwerfen sich artikuliert. Es dominiert ein semantischer Automatismus: Wiederholt werden die immer gleichen Nichtigkeiten: gesprochen wird von der „Wirkung der Skulptur im Raum“ (die aus einer gebogenen Metallstange besteht), oder „von nackten Tischlerplatten an der Wand, von simplen Eisenplatten, die angeblich das Universum symbolisieren“ würden.6
Interpretationsmonopol und Verdrängungspraxis
Zweifellos ist, ihrer verbreiteten Praxis zum Trotz, die Intention vieler Kunstproduzenten und Kulturschaffenden kritisch und distanzierend – ohne in der Regel diese Absichten jedoch umsetzen zu können. Sie bleiben in ihrer Mehrheit nicht nur hinter den progressiven Selbstansprüchen, sondern auch den Möglichkeiten der Künste zurück, weil in den als „repräsentativ“ geltenden Versuchen ein entwickeltes Formen- und Ausdrucksspektrum künstlerischer Gestaltung nicht mehr existiert. Fast immer führt diese Situation zu einer unproduktiven Positionierung, entweder auf die Seite des Objektivismus oder des Subjektivismus, sodass es nicht gelingt, die Vermittlungsstrukturen der Objektivität zu thematisieren und die „Subjektivität ... durch ihre Verwurzelung in der objektiven Welt“7 zur Kenntlichkeit gelangen zu lassen.
Zwar existieren auch im quasi-offiziösen Kunstbetrieb Gegentendenzen, jedoch ohne Beherrschung der notwendigen Techniken scheitert ein regelmäßig wiederkehrendes Bedürfnis nach realistischer Gestaltung. Zu betonen ist, dass unter „Realismus“ (im Brechtschen Sinne) nicht eine Stilrichtung, sondern eine Arbeitsweise verstanden werden soll, die das Konkrete der thematisierten Wirklichkeit erfasst, also zu zeigen in der Lage ist, wie die Dinge wirklich sind, und nicht nur wirkliche Dinge dokumentiert.
In den Künsten bedeutet Verlust des Handwerks den Verlust der Welt, hat Giorgio Strehler einmal gesagt. Ein Zustand des Unvermögens hat sich verfestigt, weil den jungen Künstlergenerationen schon seit langem an den Akademien die erforderliche Ausbildung verweigert wird, denn solche Versuche – so wird allen Ernstes behauptet – würden eine „spontane Gestaltungskraft“ deformieren. Kein Wunder also, dass sehr oft die Fähigkeit fehlt, Inhalt und Form mit der Gestaltungsabsicht in Überseinstimmung zu bringen. Denn entgegen der herrschenden Kunstideologie mit ihrer Fetischisierung formaler „Innovationen“ ist tatsächlich der Inhalt „das determinierende Prinzip ... Die künstlerische Form entsteht als Mittel, einen gesellschaftlich notwendigen Inhalt so auszudrücken, dass eine – ebenfalls ein gesellschaftliches Bedürfnis bildende – konkrete und allgemeine Wirkung“ entstehen kann.8
Kunst, die dies tatsächlich leistet, wird vom Kulturbürokratischen Komplex der Bundesrepublik jedoch meist sorgfältig verborgen: Sie besitzt nur eine geringe Chance, in den repräsentativen Kunstschauen berücksichtigt zu werden. Durch das Raster fällt nicht nur die Kunst, die den kapitalistischen Verhältnissen mit einer radikalen Negationshaltung begegnet. Auch der Restbestand eines subtilen bürgerlichen Kunstschaffens wird so weit als möglich verdrängt. Ein Beispiel dieser Praxis der Missachtung sind die Porträtbilder eines Lucien Freud (die bisher in der BRD nur einmal einer Mini-Ausstellung in Frankfurt am Main für würdig erachtet wurden), der sich den Subjekten ebenso eindrucksvoll, wie schonungslos-realistisch nähert, dabei keineswegs deren Beschädigungen verschweigt und auch eine Ahnung ihres inneren Widerstandes gegen die gesellschaftlich erzeugten Deformationen vermittelt.
Peinlichst vermieden wird vor allem jedoch jeder Vergleich der bundesrepublikanischen Offizialkunst, sei es in Gestalt Beuysscher „Fettflecken“, oder in den kunsthandwerklichen Schöpfungen eines Baselitz (dessen epigonaler Neo-Expressionismus versucht, durch ein Auf-den-Kopf-Stellen der Bilder Bedeutung zu erheischen) mit der DDR-Kunst als dem für den deutschen Kunstraum in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts naheliegenden Beispiels einer intensiven Auseinandersetzung mit den Menschen in ihren gesellschaftlichen Verhältnissen. Diese Kunst ist weitgehend in die Museumsdepots verbannt. Hervorgeholt wird sie meist nur für Ausstellungen mit delegitimierender und denunziatorischer Absicht.9 Die Auseinandersetzung mit ihr geschieht im Stil intellektuellen Halbstarkentums: Baselitz bezeichnete die DDR-Künstler samt und sonders als Arschlöcher. Im Katalog der Austellung zum BRD-Jubiläum „60 Jahre. 60 Kunstwerke“ wird die DDR als „ästhetischer Zoo“ bezeichnet und der Kurator der Ausstellung „qualifiziert“ sich mit der Aussage: „Die DDR spielt für die Entwicklung der Kunst eigentlich keine Rolle.“10
Jedoch gerade die herrschende Verdrängungspraxis sollte die Lust stimulieren, die stigmatisierte Kunst zur Kenntnis zu nehmen, auch wenn das aufgrund der verbreiteten Zensurpraxis und der institutionellen „Selektionsmacht“ (K.-S. Rehberg) der Sieger erschwert wird.
Vom Absolutheitsanspruch des Modernismus ist jedoch nicht nur eine DDR-Kunst betroffen, in der sich mit durchaus unterschiedlicher Schwerpunktsetzung ein alternativer Anspruch äußerte und in der eine von den Nazis verfolgte, und von den BRD-Kulturbürokraten verdrängte „andere deutsche Kunst auf vielfältige und einzigartige Weise überlebt und sich zum Teil in bedeutenden Formen fortentwickelt“11 hatte.
Auch ältere, der sozialistischen Parteinahme und Thematik unverdächtige Kunst erfährt eine schleichende Umwertung: In immer neuen Anläufen wird versucht, wesentliche Teile der Kunstgeschichte auf die Maßeinheiten des hegemonialen Minimalismus zu reduzieren. Das historische Material wird als bloße Vor- und Zwischenstufen gegenwärtiger Banalität dargestellt. Die Leitinstitution des westlichen Modernismus, das New Yorker Museum of Modern Art, das schon seit der Zeit des „Kalten Krieges“ definierte, was als „Kunst der freien Welt“ zu gelten habe (und u. a. auch mit Hilfe des CIA vornehmlich in den NATO-Staaten weitgehend durchsetzen konnte12), inszeniert die ganze Traditionslinie der klassischen Moderne so, als ob deren zwangsläufiger Gipfelpunkt der „abstrakte Expressionismus“ eines Jackson Pollok, sein „Actionpainting“ wäre, durch das, wie das Lexikon treffend schreibt, „völlig gegenstandsfreie Werke aus engmaschigen, durch Gieß-, Tröpfel- und Spritzverfahren hervorgerufenen Farbrinnsalen“ entstehen.
Je banaler das „Werk“, um so angestrengter die Versuche, kunsthistorische Reputation zu erschleichen – womit faktisch auch die Referenz-Kunst auf das krude Niveau des Spätmodernismus hinab gezogen wird. So soll ein eingefärbtes Kissen („Mystische Verlobung“ von Gotthard Graubner), präsentiert in der schon erwähnten Offizial-Schau „60 Jahre. 60 Werke“, wie die Bildzeitung den Kunstkritiker P. Iden ihren Lesern erklären lässt, von der „Sixtinischen Madonna“ Raffaels angeregt worden sein.13
Dass „auch die unter- und übergehende Ideologie (gemeint ist auch eine entsprechende Kulturpraxis) des Bürgertums durchaus dialektisch zum Aufbau der neuen Welt“ beitragen könnte (wie Ernst Bloch 1926 an Siegfried Krakauer schrieb14), war schon damals eine Fehleinschätzung. Heute eine solche Auffassung zu hegen, gar Chancen des „Erbes“ im Ästhetizismus eines dekadenten Spätmodernismus zu sehen, ist Ausdruck einer kaum noch zu überbietenden theoretischen und ideologiekritischen Unbedarftheit, die so ziemlich alles ignoriert, was an kritischem Wissen über den Prozess der Bedrohung kulturellen Vermögens und zivilisatorischer Substanz15, aber auch der Wirkungsweise ideologischer Herrschaftsreproduktion im Spätkapitalismus zur Verfügung steht.16 Für eine alternative Kulturbeschäftigung stellt sich eher die Aufgabe, die progressive und selbstkritische Kunst der bürgerlichen Epoche gegenüber den Versuchen ihrer Destruktion zu verteidigen, nachdrücklich ihren Verkleinerungsversuchen auf resignative Weltbildmuster zu widersprechen, die bemüht sind, die fundamentalen Widerspruchstendenzen bürgerlicher Vergesellschaftung als Ausdruck einer angeblichen Perspektivlosigkeit aller Geschichte erscheinen zu lassen.
Solch ideologische Formierungsarbeit erreicht natürlich nur eine kleine „Kultur-Elite“ (der Umfang der regelmäßigen Museums- und Theaterbesucher bewegt sich im 2-Prozent-Bereich – und der Kreis derjenigen, die eine entsprechenden weltanschauliche Basisliteratur der Nietzsche, Heidegger, Foucault, Derrida, Agamben etc. lesen ist noch beträchtlich geringer). Jedoch wird eine „Zielgruppe“ erreicht, die Träger profilierter Widerspruchshaltungen sein könnte, für die heute jedoch die Vorstellung einer „Alternativlosigkeit“ gegenwärtiger Zustände und die Formel vom „Ende der Utopien“ als unhintergehbarer Orientierungshorizont gelten. Es geht dieser Weltanschauungsarbeit also nicht darum, diese Kreise „zu begeisterten Anhängern der bürgerlichen Gesellschaftsordnung, zu fanatischen Verehrern ihrer gegenwärtigen Kultur zu machen. Im Gegenteil ... [diese ästhetischen Praktiken und intellektuellen Desorientierungsmanöver erfüllen] für die Bourgeoisie ihren Zweck vollkommen, wenn durch sie eine Schicht der Intelligenz, die infolge der Einwirkungen der ökonomischen und der Kulturkrise zum Feind und Verächter der gegenwärtigen Gesellschaft geworden ist, davon abgehalten wird, aus dieser ihrer Feindschaft und Verachtung wirkliche praktische Konsequenzen zu ziehen.“17
Ästhetischer Möglichkeitshorizont
Obwohl die Selbstzurechnungen des Neo-Avantgardismus in der Regel keine Entsprechungen in seinen ästhetischen Hervorbringungen haben, werden sie dennoch auch in vielen linken Kunstbeschäftigungen mit bemerkenswerter Naivität akzeptiert. Nicht einmal die naheliegenden Fragen werden gestellt, beispielsweise, ob in den präsentierten Werken die angesprochenen Probleme hinreichend bearbeitet und die behaupteten Vermittlungsleistungen, etwa die „Versöhnung von Kunst und Alltag“ durch die museale Präsentation von Hauhaltsgeräten, tatsächlich erbracht werden. Ebenso wenig problematisiert wird, ob es sinnvoll ist, von einer „Demokratisierung der Kunst“ zu reden, wenn der Ausstellungsbesucher die Möglichkeit hat, farbige Würfel neu zu „arrangieren“.
Selten geworden ist die Thematisierung des Möglichkeitshorizonts der Künste, weitgehend verloren gegangen das Wissen darüber, dass sie auf menschliche Selbstentfaltungsansprüche und eine mögliche Welt der Schönheit verweisen können, auch wenn sie das Hässliche und die Probleme der Fremdbestimmung thematisieren, dabei jedoch die Differenz zwischen problembeladener Wirklichkeit und emanzipatorischem Anspruch herausarbeiten.
Die Vertreter einer Ästhetik des Hässlichen und des „Schocks“ können für sich vordergründig zwar einen historischen „Realismus“ reklamieren: Bisherige Geschichte ist eine der Zerstörung und des Leids, der Unterdrückung und des Schreckens gewesen. Die Darstellung des geschichtlichen Dramas bleibt jedoch unvollständig, ja sie ist geradezu manipulativ, wenn nicht gleichzeitig auch die andere Seite, der Kampf um eine bessere Welt, thematisiert wird. Niederlage und Widerstand sind oft eng miteinander verbunden und das Scheitern selten nur das letzte Wort der Geschichte gewesen.
Gelungene Kunst erinnert gerade im Bewusstsein der Übermacht der Deformationen und Irrwege daran, was sein könnte, wenn die hemmenden Faktoren der Gesellschaftsentwicklung überwunden würden. Dazu benötigt sie jedoch Ausdrucksmittel, „mit dem sich die Erfahrungen der Benachteiligten, der Erniedrigten gestalten lassen“.18 Diese fallen ihr jedoch nicht in den Schoß: Kunst muss sie sich „erobern“, wie Peter Weiss sagt. Gelingen kann ihr das gegenwärtig nur in der nachdrücklichen Auseinandersetzung mit der sozialen Widerspruchentwicklung und den zivilisatorischen Rückschrittstendenzen.
Indem die Künste die (oft auch regressiven) Auswirkungen objektiver Prozesse auf die Individualitätsformen, die psychischen und mentalen Reaktionen der Menschen thematisieren, können sie das Orientierungsbemühen in einer zunehmend „unübersichtlich“ und erinnerungslos geworden Welt unterstützen und im Kampf der Weltanschauungen (als eine Ebene des Klassenkampfes) ihre progressive Rolle spielen. Peter Weiss hat in seiner „Ästhetik des Widerstands“ die Wechselwirkung von historischer Bedrängnis und barbarischer Regression, widerständiger Praxis und ästhetischer Selbstvergewisserung durchdekliniert und nachvollziehbar dargestellt.
Die Erwartung einer unmittelbaren Wirkung von Kunst bei der Entwicklung eines progressiven Massenbewusstseins wäre jedoch illusionär. Dessen unmittelbarer Konstitutionsort sind die sozialen Kämpfe, vor allem in den Betrieben. Diese können jedoch über einen bloßen Reformismus nur durch profilierte Gegenbilder und Alternativvorstellungen hinaus gelangen. Bei deren Entstehung können künstlerische Phantasie und ästhetisches Gestaltungsvermögen einen wichtigen Beitrag leisten.
Eine progressive Perspektive zu schaffen und sich herrschender Ideologie der Unterwerfung zu entziehen, gelingt künstlerischer Gestaltung jedoch nur im Modus der Differenzierung und der konkreten Beschäftigung mit den Details eines Problemkomplexes, bei Berücksichtigung seiner Mehrschichtigkeit und oft auch dessen innerer Widersprüchlichkeit. Nur auf eine „Faktizität“ zu verweisen reicht nicht aus.
Im Vordergrund steht dabei, das muss angesichts grassierender Ignoranz immer wieder betont werden, nicht eine (in einem vordergründigen Sinne) „politische Kunst“. Es geht vielmehr um die ästhetischen Formen sozialer Problemverarbeitung und individueller Welterfahrung und nicht zuletzt auch um die Erinnerung daran, das ein selbstbestimmtes Leben möglich ist. Es geht nicht um politischen Reduktionismus, sondern darum, dass die Kunst zu sich selbst kommen, ihre ästhetischen Möglichkeiten voll entfalten kann. Dieses ästhetische „Leistungspotential“ ist übrigens an keine besondere Form gebunden, jedoch sind Gestaltungsprinzipien und eine Materialbearbeitung erforderlich, die den inhaltlichen Absichten und Notwendigkeiten angemessen sind und im Resultat die zugrunde liegenden „Konstruktionsprinzipien“ in der Qualität des Ganzen aufgehoben sind. Dem Problemverständnis Adornos ist uneingeschränkt zuzustimmen, auch wenn er es in seiner kunst- und literatursoziologischen Praxis sehr oft unberücksichtigt lässt: „Nicht wegzudenken ist von Rang und Qualität eines Kunstwerks das Maß seiner Artikulation. Generell dürften Kunstwerke desto mehr taugen, je artikulierter sie sind: wo nichts Totes, nichts Ungeformtes übrig ist; kein Feld, das nicht durch Gestaltung hindurchgegangen wäre. Je tiefer es von dieser ergriffen ward, desto gelungener das Werk. Artikulation ist die Rettung des Vielen im Einen.“19
Kultur und Aneignung
Bevor wir uns weiter in den Details herrschender Kunstpraxis und, als Gegenentwurf dazu, in den Reflexionen über die Prinzipien einer progressiven und selbstreflexiven Ästhetik verlieren, soll noch einmal ein Blick auf den besonderen Charakter des Kulturellen geworfen werden. In einer allgemeinen Weise lässt sich sagen, dass Kultur in ihrer Gesamtheit die Form ist, wie die Menschen sich in ihren Lebensverhältnissen einrichten. „Kultur [ist dabei] nicht nur mit der geistigen Sphäre des gesellschaftlichen Lebens, mit der Entwicklung des Bewusstseins zu identifizieren ... Vielmehr umfasst die Kultur alle Gebiete der menschlichen Produktionstätigkeit, alle Formen der ‚Teilnahme‘ des Menschen an der Geschichte.“20 Darin eingeschlossen ist die ästhetische Aktivität als irreversibler Bestandteil der menschlichen Reproduktionstätigkeit. Sie ist ein „Reflexionsvorgang“ im Kontext sozialer Selbstschöpfung und kultureller Selbstvergewisserung des Menschen21, eine wesentliche Ebene innerhalb des Prozesses realer Menschwerdung. Nur der Mensch kennt Kunst und Kultur, nur er verfügt über ästhetische Artikulationsformen. In ihren entwickeltsten Formen können sie als „höchster Ausdruck der Wirklichkeit“22 gelten.
Kultur ist seit grauer menschlicher Vorzeit Aneignung, zunächst einmal als „Einverleibung“ des die Menschengruppen unmittelbar umgebenden Naturraums. Und zwar nicht nur im Sinne von Anpassung, sondern zunehmend auch durch verändernde Eingriffe. Homers Odysseus beklagte zu Recht das Fehlen von Kultur, wenn systematischer Weinanbau nicht betrieben wurde. Bevor der Mensch jedoch den Naturraum umformte, ihn im wahrsten Sinne des Wortes kultivierte, hatte er schon eine lange Zeit des produktiven, veränderten Umgangs mit Naturstoffen hinter sich, die er nach seinen Zwecken und Vorstellungen einsetzte und „manipulierte“.
Menschliche Naturaneignung ist nicht nur nach Nützlichkeitserwägungen organisiert: Der Mensch, so hat Marx es formuliert, produziert auch nach „dem Maße der Schönheit“. Die ästhetische Artikulation ist jedoch nicht auf materielle Gestaltung beschränkt. Sie ist von nicht minderer Bedeutung in den immateriellen Bereichen: Schon bevor der Mensch die Materie nach künstlerischen Gesichtspunkten umformte, bediente er sich ästhetischer Mittel bei dem Bemühen symbolischer Entäußerung und kollektiver Selbsterfahrung. Ein vielleicht gar nicht so fernes Echo dieser Ebene erleben wir heute noch in den Tänzen und Gesängen sogenannter „Naturvölker“.
An dieser gattungsgeschichtlichen Bedeutungsdimension schließt eine Theorie ästhetischer Selbstvergewisserung innerhalb der marxistischen Theorie an: Den Künsten ist es möglich, ein Wissen und eine Überzeugung darüber zu vermitteln, warum die Verhältnisse der Knechtung, Demütigung und Erniedrigung umgestoßen werden sollten.23
Über lange Phasen der menschlichen Entwicklungsgeschichte hatte das kulturelle Entwicklungsniveau einen kollektiven Charakter: Die Kulturtechniken waren allen gemeinsam. Mit der Herausbildung der Klassengesellschaft und der sie begleitenden Arbeitsteilung spalteten sich die kulturellen Formen auf. Es bilden sich eigenständige, wenn auch zueinander vermittelte Herrenkulturen und die kulturellen Regelsysteme der Beherrschten heraus.
Eine der objektiven Herrschaftsfunktionen der Adelskulturen im Feudalismus war es, durch zivilisatorische Praktiken (beispielsweise durch Tischsitten und ritualisierte Verhaltensweisen) die angebliche Höherwertigkeit der eigenen sozialen Position zu demonstrieren und dadurch die eigenen Privilegien zu legitimieren. Die Alltagskulturen der Volksmassen vermittelten dagegen vorrangig Techniken der Lebensbewältigung. Indem sie auch die soziale Funktionalität der Unterschichten sicher stellten (beispielsweise in den religiösen Formen als kulturellem Normensystem) wird Kultur Bestandteil der Reproduktionsmechanismen bestehender Herrschaft. Jedoch ging sie niemals ganz darin auf. Selten zwar waren die kulturellen Artikulationsformen in einem profilierten Sinne widerständig. Aber es existierte in den alltagskulturellen Nischen ein Erfahrungsfundus und Orientierungskosmos mit durchaus subversivem Charakter. Der Herrenkirche war die Ohrenbeichte auch deshalb wichtig, um der Widerspenstigkeit des Alltagsglaubens auf die Schliche kommen zu können. Sie interessierte sich beispielsweise dafür, ob das religiöse Erlösungsversprechen, nicht doch – was gar nicht so selten geschah – auf das Diesseits bezogen wurde.
Dialektik der Kultur
Trotz seines zunächst reproduktiven Charakters kristallisieren sich im Alltag Widerspruchstendenzen heraus, die nur mit einem gewissen Aufwand herrschaftskonform kanalisierbar sind.24 Die latente Widerständigkeit der Alltagskulturen ist zu dem Bemühen der Menschen vermittelt, ihre Lebenszufriedenheit zu steigern und ihr „Lebensglück“ zu sichern. Dass sie gewöhnlich mit diesen Begehren ihre Schwierigkeiten haben, nicht selten daran auch scheitern, ändert nichts zu der Existenz dieses Prinzips.
Weil dem Alltagsleben ein unaufhebbarer Geltungsanspruch auf Lebensglück und in gebrochener Weise auch Selbstbestimmung inhärent ist, stellen diese Regungen eine kulturelle „Produktivkraft“ dar, die daran erinnert, dass der (selbst-)unterdrückende „Reproduktionsprozess noch nicht alle Spuren menschlicher, individueller Phantasie und gesellschaftlichen Erinnerungsvermögens ausgelöscht hat“25 – obwohl der historische Gedächtnisverlust und der Zerfall kritischer Realitätsversicherung (daran darf es keinen Zweifel geben!) schon ein beträchtliches Stück vorangeschritten ist. Nicht wenige Lebensbereiche sind von einer antizivilisatorischen Veränderungsdynamik geprägt26, und pathologische Erscheinungen der vielfältigsten Art breiten sich aus: Esoterik und Drogensucht, Sinnlosigkeitssyndrome und Alkoholismus, autoritäre bis faschistoide Einstellungsmuster, Aggressionen und Rücksichtslosigkeit gehören ebenso dazu wie Fremdenfeindlichkeit und die Bedeutungszunahme eines religiösen Fundamentalismus.
Jedoch sind Restbestände spontaner Widerständigkeit ebenso Elemente der (Alltags-) Realität, wie die manifesten Formen der Selbstentfremdung (die gleichzeitig solche der emotionalen und zunehmend auch zivilisatorischen Deformation sind) und der passiven Hinnahme des Gegebenen. Würde jedoch ein Horizont des Wünschens und Hoffens nicht existieren, hätten auch die medialen Manipulations- und kommerziellen Werbestrategien keine Anknüpfungspunkte: Denn sie sind es ja, die immer wieder „Glück“ versprechen und „Schönheit“ inszenieren – wenn auch in einem sehr vordergründigen Sinne und in der Absicht der Unterwerfung der Menschen (vornehmlich durch die Koppelung von Befriedigung an vorangegangene Leistung) unter ein selbstunterdrückendes „Realitätsprinzip“.
Dennoch gilt es, die alltäglichen Versuche der Selbstartikulation ernst zu nehmen, ohne jedoch ihre Hilflosigkeit und faktische Begrenztheit zu ignorieren. Die utopische Substanz des Alltagsbewusstseins27 reicht nicht aus, um sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf der Entfremdung zu ziehen. Um seine widerständigen Momente zur Geltung bringen zu können, ist eine radikale Kritik des Alltags unabdingbar, zumal er sich in allen seinen Bezügen außerordentlich zwiespältig zeigt. Denn eine Tendenz zur Selbstverwirklichung ist nur die eine Seite seiner Wirklichkeit; die andere ist eine Beharrungs- und Unterwerfungsbereitschaft. Eine kritische Beschäftigung mit dem Alltag muss sich hüten, alles, was in seinem Rahmen geschieht, als Ausdruck von „Authentizität“ misszuverstehen: Es muss thematisiert werden, wie sich Fremdbestimmung und das Selbstartikulationsbemühen miteinander vermengen.
Kultur und Emanzipation
Eine Beschäftigung mit der Alltagskultur ist von dramatischer Aktualität, weil die neoliberalistischen Angriffe auf die Sozialstandards auch den Charakter eines Kulturkampfes haben. Vom Kapital wird seit zwei Jahrzehnten ein Kurswechsel von grundsätzlicher Bedeutung angestrebt: Viele von der Arbeiterbewegung erkämpften Errungenschaften sollen rückgängig gemacht werden. Es wird Abschied von der gesellschaftlichen Selbstverpflichtung einer materiellen Grundsicherung für alle genommen. Gekoppelt ist diese soziale Destruktionsstrategie an die Infragestellung selbstbestimmter Lebensgestaltung. Nicht zufällig steht der Kampf um die Arbeitszeit im Mittelpunkt. Es geht dabei nicht um die eine oder andere Stunde Mehrarbeit, sondern um die Stabilisierung der ausbeutungsorientierten Verfügungsmöglichkeiten über die arbeitenden Menschen.
Um das Prinzip Profitmaximierung uneingeschränkt durchzusetzen, werden die Lohnabhängigen einer permanenten Verunsicherung ausgesetzt. Weil alleine schon durch die verbreiteten Ängste vor dem sozialen Absturz ihr Selbstbewusstsein unterminiert wird, fehlt oft die Bereitschaft, sich perspektivischen Orientierungen überhaupt noch zu öffnen. Existenzielle Verunsicherung erweist sich besonders in zugespitzten Krisensituationen als ideologischer Herrschaftsmodus.
Das Kapital nimmt bei der ausbeutungsorientierten Umgestaltung der Lebensverhältnisse auch kulturelle Verfallsprozesse billigend in Kauf. Nicht mehr nur im Verborgenen existieren Tendenzen einer „passiven Verfaulung“ (Marx/Engels), die als Konsequenzen stationärer Armut schon Friedrich Engels in seiner „Lage der Arbeitenden Klassen“ beschrieben hat. Sie reichen aktuell von selbstdestruktiven Verhaltensformen bis hin zur sozialen Verwahrlosung. Auch die Gewalt der Amokläufer, die in immer kürzeren Abständen aufbricht, kann als eines dieser Symptome zivilisatorischen Rückschritts begriffen werden. Denn oft ist sie die hilflose Reaktionsform von Menschen, die sich in ihren bedrängenden Lebensverhältnissen kaum anders zur Geltung bringen können, als durch ein wildes Umsichschlagen.
Ein Skandal ist die Tatsache, dass die Bevölkerungsgruppen wachsen, die selbst von elementaren kulturellen Partizipationschancen abgeschnitten sind: Die Stadtteilbibliotheken und wohngebietsnahen Schwimmbäder werden geschlossen, die Schulen verfallen und für Migrantenkinder stehen keine qualifizierten Lehrer zur Verfügung. Die Konsequenzen sind nicht mehr zu übersehen: Wir leben angeblich in einer „Wissensgesellschaft“ – und dennoch sind 20 Prozent der Hauptschulabgänger kaum des Lesens und Schreibens fähig.
Trotz der dramatischen sozialen und kulturellen Widerspruchsentwicklung hält sich wirkungsvoller Widerstand dagegen in Grenzen. Und nicht nur, weil es dem herrschenden Block durch den ökonomischen Krisen- und Anpassungsdruck gelungen ist, die Opfer der sozial-destruktiven Umwälzungen zu disziplinieren und einzuschüchtern. Er hat es auch geschafft, seine Weltanschauungsmuster (etwa von der Alternativlosigkeit des Kapitalismus) bis in die Schichten der Krisenopfer hinein zu verallgemeinern. Ein ganzes Netz ideologischer Aktivitäten dient diesem Zweck – und ästhetisch vermittelte Festlegungen spielen, wie zu sehen war, ebenfalls ihre Rolle darin.
Was nurall zu oft in der herrschenden Kultur der Resignation auf der Strecke bleibt, sind Hinweise darauf, welche Möglichkeiten emanzipatorischen Handelns trotz aller Fremdbestimmung existieren. Gerade diese Konformitätsgrenze wird strikt eingehalten. Wo sie verläuft, hat der Fernsehfilm über das Leben von Marcel Reich-Ranicki verdeutlicht: In seiner Autobiographie gibt es eine ergreifende Stelle (es ist einer dieser Sätze, für die es sich manchmal alleine schon lohnt ein Buch zu lesen!), wo der arbeitslose Buchdrucker und Zigarrendreher, der die Ranickis versteckt, mit seiner Frau streitet, die Angst vor der Entdeckung durch die Nazis hat. Er weist sie mit den Worten zurecht: „Adolf Hitler will, dass diese beiden Menschen sterben. Ich will dass sie leben!“ Dass der Film dieses Beispiel einer alltäglichen Widerstandshaltung verschweigt, ist kein Zufall!
Auch den kapitalismuskritischen Gegenkräften ist es bisher nicht gelungen dem Klima der „Alternativlosigkeit“ überzeugendes entgegen zu setzen. Auch weil sie über zu wenige alltagspraktisch nachvollziehbare Gegenbilder und profilierte Vorstellungen über ein nicht nur wünschenswertes, sondern auch mögliches anderes Leben verfügen. Ob sie solche Lücken zu füllen in der Lage sind, wäre ein Maßstab bei der Beurteilung kultureller Aktivitäten.
Um eine alternative Kultur muss gerungen werden: sie ist eher Programm, denn fertige Verfügungsmasse. Und nur, wenn sie durch politische Widerstandsstrukturen und intellektuelle Gegenbilder beeinflusst ist (was wäre aus Brecht ohne Marxismusbeschäftigung und Arbeiterbewegung geworden?), kann sie positive Auswirkungen auf den Verständigungsprozess über emanzipatorische Formen des Lebens und des Arbeitens als Antwort auf die Krisenprozesse haben.
1 Vgl.: M. Wekwerth, Mut zum Genuss. Ein Brecht-Handbuch, Berlin 2009, S. 24
2 K. Baum, Der Schock des Immergleichen. Anmerkungen zur Gegenwartskunst, in: Zeitschrift für kritische Theorie, H. 4/1997, S. 112
3 Vgl.: W. Seppmann, Rituale der Unterwerfung. Kunst und Gesellschaft heute, in: Kunst als politische Waffe oder als Mittel der Aufklärung, Schriften der Erich Mühsam Gesellschaft. Heft 30, 2008
4 Th. W. Adorno, Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1976, S. 29
5 K. Baum, Ebd., S. 117
6 Ebd., S. 121
7 N. Tertulian, Die Lukácssche Ästhetik, in: G. Paternak (Hg.), Zur späten Ästhetik von Georg Lukács, Frankfurt/M. 1990, S. 28
8 Georg Lukács, Ästehetik Teil I - Die Eigenart des Ästhetischen, I. Halbbd. , Berlin und Weimar 1981, S. 412
9 Vgl.: H. Rauterberg, Kesseltreiben in Weimar. Aus Bilderstreit wird Bilderkampf, in: Die Zeit vom 27. 5. 1999
10 Zit. nach Die Zeit vom 30. 4. 2009
11 E. Beaucamp, Der verstrickte Künstler. Wider die Legende von der unbefleckten Avantgarde, Köln 1998, S. 91
12 Vgl.: S. Guilbaut, Wie New York die Idee der modernen Kunst gestohlen hat. Abstrakter Expressionismus, Freiheit und Kalter Krieg, Dresden und Basel 1997
13 Dass die Bild-Zeitung einer der Sponsoren der Jubiliäumsschau des offiziösen BRD-Kunstbetriebs im Berliner Gropius-Bau im Frühjahr 2009 war, passt in das Bild, dass sie sich schon seit geraumer Zeit um die Popularisierung „Moderner Kunst“, unter Verwendung der pseudokritischen Phraseologie einer affirmativen „Kunstkritik“ bemüht. Ohne jeden Anflug von Ironie wird den Lesern die Kunst der Exkremente und Spanplatten, der monochronen Farbfelder und der aufeinander geworfenen Dachlatten als gegenwartsangemessene ästhetische Ausdrucksformen „erklärt“.
14 E. Bloch, Briefe, Bd. I, Frankfurt/M. 1985, S. 270
15 Vgl.: W. Seppmann, Zivilisierung und Unterdrückung. Über die Zukunftsfähigkeit einer kapitalistischen „Moderne“, in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 45, 2001; vgl. auch: M. Bermann, Kultur vor dem Kollaps?, Frankfurt/M. 2002
16 Vgl.: W. Seppmann, Was heißt heute „herrschendes Denken“?, in: Ch. Jünke (Hg.): Am Beispiel Leo Koflers. Marxismus im 20. Jahrhundert, Münster 2001
17 G. Lukács, Grand Hotel „Abgrund“, in: F. Benseler (Hg.), Revolutionäres Denken: Georg Lukács, Darmstadt und Neuwied 1984, S. 184 f.
18 P. Weiss, Notizbücher. 1971 – 80, Bd. II, Frankfurt/M. 1981, S. 817
19 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1972, S. 284
20 W. Meshujew, Kultur und Geschichte, Berlin/DDR 1983, S. 77
21 Vgl. die grundlegende, jedoch bedauerlicherweise auch in der marxistischen Diskussion weitgehend ignorierten Arbeit von E. Neumann, Funktionshistorische Anthropologie der ästhetischen Produktivität, Berlin 1996
22 P. Weiss, Ästhetik des Widerstands, Bd. III, Frankfurt/M. 1981, S. 130f.
23 Vgl. den Beitrag von Thomas Metscher in diesem Band.
24 Vgl.: L. Kofler, Der Alltag zwischen Eros und Entfremdung, in: H. Friauf (Hg.), Eros und Politik. Wider die Entfremdung des Menschen, Köln 2009
25 Th. Leithäuser, Kapitalistische Produktion und Vergesellschaftung des Alltags, in: Th. Leithäuser/W. R. Heinz, Produktion, Arbeit, Sozialisation, Frankfurt/M. 1976, S. 56
26 Vgl.: Th. Metscher, Imperialismus und Moderne, Essen 2009
26 Vgl.: W. Seppmann, Widerspruchserfahrung und Utopie, in: Sozialistische Hefte, Nr. 8, Mai 2005
Zwar macht nicht jedes Bindestrich-Wort, in dem der Kulturbegriff vorkommt, Sinn – jedoch ist Kultur, um vorweg einer verbreiteten Einengung zu begegnen, mehr als das, was in Konzertsälen dargeboten oder in den Museen präsentiert wird. Dennoch kann keine kritische Beschäftigung mit den Basisformen der Kultur diese sogenannten hochkulturellen Äußerungsformen ignorieren. Denn was Kunst, Musik und Literatur in ihren besten Beispielen (!) präsentieren, stellt etwas dar, was wir als kollektives Gedächtnis der Menschheit bezeichnen können: Die Künste setzen sich in elementarer Weise mit Fragen der sozialen und der individuellen Existenz der Menschen auseinander; sie thematisieren menschliche Wünsche und Niederlagen, Hoffnungen und Enttäuschungen. Sie können auch eine Ahnung davon vermitteln, wie ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben aussehen könnte, was Selbstachtung und Solidarität auch in widrigen Zeiten bedeutet. Ihre Beiträge sind deshalb unverzichtbar bei der Fundierung eines humanistischen Menschenbilds und einer Kultur des Widerstands.
Kunst und Kultur als Ideologie
Diese Perspektivität und progressive Funktionalität muss der Künstler bei der Gestaltung seiner Werke sich erarbeiten, denn das Mögliche seines Schaffens stellt sich nicht automatisch ein. Der Kunst die progressiven Fähigkeiten pauschal zuzurechen (wie es im spät-modernistischen Kulturbetrieb geschieht), führt in die Irre. Denn es lässt sich heute nicht nur in Einzelfällen beobachten, dass künstlerische Aktivitäten in einem entscheidenden Punkt dem herrschenden (Un-)Geist die Reverenz erweisen, auch wenn dies regelmäßig mit einer „kritischen“ Geste geschieht: Sie bestätigen vorherrschende Verdinglichungsvorstellungen („Die Umstände beherrschen uns!“), sowie eine verbreitete Resignation („Man kann ja doch nichts ändern!“); sie transportieren damit Ideologieelemente, die für den spätkapitalistischen Prozess ideologischer Herrschaftsreproduktion eine Basisfunktion haben.
Typisch für diese weltanschauliche Funktionalität sind viele der als besonders bedeutsam herausgestellten Produktionen des Gegenwartstheaters. Ihre Vorgehensweise ist zur Konvention erstarrt: Sie reagieren auf strukturelle Deformationen der Gesellschaft mit Bildern einer chaotischen Welt und der Darstellung deformierter Menschen als deren Inbegriff. Nicht aufgrund seiner historischen Überlebtheit versinkt das gegenwärtige Zivilisationsmodell im Schlamm, Blut und Kot, sondern, so legt es auch die Stuttgarter Hamlet-Inszenierung des Volker Lösch von 2009 nahe, der Morast soll als das eigentliche Fundament der Welt verstanden werden. Verabsolutiert wird ein negatives Allgemeines: Die sozialen Verhältnisse sind in diesem Darstellungsmodus nicht aufgrund realer Entwicklungen deformiert, sondern in ihrer grundsätzlichen Charakteristik ein „Saustall“. Symbolisiert wird diese Verfasstheit durch sich im Schlamm wälzende und übereinander herfallende (dabei wie Schweine quiekende) Darsteller.
Zu einem humanistischen Horizont vermittelte Kunst geht anders vor: Nicht nur um den Tatbestand der Entfremdung zu konstatieren, sondern gleichzeitig auch, um auf ein denkbar Anderes zu verweisen, lässt Thomas Mann im „Zauberberg“ seinen Settembrini sagen: „Sie werden auf allen Vieren gehen, bald werden sie zu grunzen beginnen.“ Eine solche Differenz fehlt gewöhnlich in den aktuellen Theaterinszenierungen: Sie thematisieren ein „lebensweltliches“ Grauen, das gleichzeitig zum Existenzrahmen stilisiert wird, dem angeblich nicht zu entkommen sei. Die Signatur dieses „Regietheaters“ ist die Alternativlosigkeit. Die als Spekulanten und Ausbeuter bei Lösch konkretisierten Protagonisten füllen in diesem System eine vorgeprägte „Rolle“ aus; sie agieren mit Skrupel- und Rücksichtslosigkeit, ohne jedoch wirkliche „Akteure“ zu sein. Dem Zuschauer wird ein Hamlet präsentiert, der über den wirtschaftlichen und politischen Morast seines Landes verzweifelt ist, jedoch wirkt diese Verzweiflung absurd, weil dieser Zustand als unüberwindlich dargestellt wird. Das Publikum wird in „der Monotonie einer ewigen Gegenwart“ zurück gelassen.1
Thematisiert werden in solchen Inszenierungen (die sich meist auch in einer Respektlosigkeit gegenüber der literarischen Vorlage gefallen) zwar aktuelle Krisensymptome und Katastrophenerfahrungen, die jedoch durch Endzeitszenarien überlagert werden und bestenfalls eine emotionale „Betroffenheit“ provozieren. Ausgegrenzt und verdrängt „wird im Grunde genommen alles, was bearbeitet werden müsste, damit die Menschen nicht blind wiederholen, was immer schon war“.2 Die naturalistische Abbildung der „Welt so wie sie ist“, provoziert ein verschwiegenes Einvernehmen mit ihr, weil alle Alternativen ausgeblendet bleiben.
Ein solcher Modus resignativer „Unmittelbarkeit“ prägt auch viele Beispiele einer bildenden Kunst, die sich als „gegenwartsbezogen“ und „subversiv“ versteht, jedoch durch ihre bloß konstatierenden Gesten die gesellschaftlichen Zusammenhänge ausblendet: Es wird etwas beleuchtet, um den eigentlichen Sachverhalt im Schatten zu belassen. So „skandalisiert“ ein nachgebautes und mit den Habseligkeiten eines Obdachlosen beladenes Fahrrad (museal präsentiert) zwar eine gesellschaftliche Widerspruchserscheinung, thematisiert jedoch nicht deren Ursachen, geschweige denn die Perspektiven ihrer möglichen Überwindung.3 Es ist ein topologisches Vorgehen, wie Adorno es nennt, „das von jedem Phänomen weiß, wo es hingehört, und von keinem, was es ist“.4 Konstitutiv für dieses Kunstschaffen ist die Abwesenheit des Gehalts als einer „Form der Abstraktion, in der das Einzelne, Besondere, das Situative, die Erfahrung von unter her, die Perspektive des Leids ... verschwunden ist. Man könnte es auch die Dominanz der Leere nennen, der Unverbindlichkeit, des Belanglosen, das nirgendwo aneckt, keinem wehtut, allenfalls anödet.“5
Überboten wird solche ästhetische Dürftigkeit nur noch vom Raunen einer als „Kunstkritik“ sich kaschierenden Hofberichterstattung über den Kunstbetrieb, die ohne begriffliche Durchdringung des dargebotenen, ohne vergleichende Bewertung und ohne die Frage des Gelingens oder des Scheiterns der Absichten auch nur noch ansatzweise aufzuwerfen sich artikuliert. Es dominiert ein semantischer Automatismus: Wiederholt werden die immer gleichen Nichtigkeiten: gesprochen wird von der „Wirkung der Skulptur im Raum“ (die aus einer gebogenen Metallstange besteht), oder „von nackten Tischlerplatten an der Wand, von simplen Eisenplatten, die angeblich das Universum symbolisieren“ würden.6
Interpretationsmonopol und Verdrängungspraxis
Zweifellos ist, ihrer verbreiteten Praxis zum Trotz, die Intention vieler Kunstproduzenten und Kulturschaffenden kritisch und distanzierend – ohne in der Regel diese Absichten jedoch umsetzen zu können. Sie bleiben in ihrer Mehrheit nicht nur hinter den progressiven Selbstansprüchen, sondern auch den Möglichkeiten der Künste zurück, weil in den als „repräsentativ“ geltenden Versuchen ein entwickeltes Formen- und Ausdrucksspektrum künstlerischer Gestaltung nicht mehr existiert. Fast immer führt diese Situation zu einer unproduktiven Positionierung, entweder auf die Seite des Objektivismus oder des Subjektivismus, sodass es nicht gelingt, die Vermittlungsstrukturen der Objektivität zu thematisieren und die „Subjektivität ... durch ihre Verwurzelung in der objektiven Welt“7 zur Kenntlichkeit gelangen zu lassen.
Zwar existieren auch im quasi-offiziösen Kunstbetrieb Gegentendenzen, jedoch ohne Beherrschung der notwendigen Techniken scheitert ein regelmäßig wiederkehrendes Bedürfnis nach realistischer Gestaltung. Zu betonen ist, dass unter „Realismus“ (im Brechtschen Sinne) nicht eine Stilrichtung, sondern eine Arbeitsweise verstanden werden soll, die das Konkrete der thematisierten Wirklichkeit erfasst, also zu zeigen in der Lage ist, wie die Dinge wirklich sind, und nicht nur wirkliche Dinge dokumentiert.
In den Künsten bedeutet Verlust des Handwerks den Verlust der Welt, hat Giorgio Strehler einmal gesagt. Ein Zustand des Unvermögens hat sich verfestigt, weil den jungen Künstlergenerationen schon seit langem an den Akademien die erforderliche Ausbildung verweigert wird, denn solche Versuche – so wird allen Ernstes behauptet – würden eine „spontane Gestaltungskraft“ deformieren. Kein Wunder also, dass sehr oft die Fähigkeit fehlt, Inhalt und Form mit der Gestaltungsabsicht in Überseinstimmung zu bringen. Denn entgegen der herrschenden Kunstideologie mit ihrer Fetischisierung formaler „Innovationen“ ist tatsächlich der Inhalt „das determinierende Prinzip ... Die künstlerische Form entsteht als Mittel, einen gesellschaftlich notwendigen Inhalt so auszudrücken, dass eine – ebenfalls ein gesellschaftliches Bedürfnis bildende – konkrete und allgemeine Wirkung“ entstehen kann.8
Kunst, die dies tatsächlich leistet, wird vom Kulturbürokratischen Komplex der Bundesrepublik jedoch meist sorgfältig verborgen: Sie besitzt nur eine geringe Chance, in den repräsentativen Kunstschauen berücksichtigt zu werden. Durch das Raster fällt nicht nur die Kunst, die den kapitalistischen Verhältnissen mit einer radikalen Negationshaltung begegnet. Auch der Restbestand eines subtilen bürgerlichen Kunstschaffens wird so weit als möglich verdrängt. Ein Beispiel dieser Praxis der Missachtung sind die Porträtbilder eines Lucien Freud (die bisher in der BRD nur einmal einer Mini-Ausstellung in Frankfurt am Main für würdig erachtet wurden), der sich den Subjekten ebenso eindrucksvoll, wie schonungslos-realistisch nähert, dabei keineswegs deren Beschädigungen verschweigt und auch eine Ahnung ihres inneren Widerstandes gegen die gesellschaftlich erzeugten Deformationen vermittelt.
Peinlichst vermieden wird vor allem jedoch jeder Vergleich der bundesrepublikanischen Offizialkunst, sei es in Gestalt Beuysscher „Fettflecken“, oder in den kunsthandwerklichen Schöpfungen eines Baselitz (dessen epigonaler Neo-Expressionismus versucht, durch ein Auf-den-Kopf-Stellen der Bilder Bedeutung zu erheischen) mit der DDR-Kunst als dem für den deutschen Kunstraum in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts naheliegenden Beispiels einer intensiven Auseinandersetzung mit den Menschen in ihren gesellschaftlichen Verhältnissen. Diese Kunst ist weitgehend in die Museumsdepots verbannt. Hervorgeholt wird sie meist nur für Ausstellungen mit delegitimierender und denunziatorischer Absicht.9 Die Auseinandersetzung mit ihr geschieht im Stil intellektuellen Halbstarkentums: Baselitz bezeichnete die DDR-Künstler samt und sonders als Arschlöcher. Im Katalog der Austellung zum BRD-Jubiläum „60 Jahre. 60 Kunstwerke“ wird die DDR als „ästhetischer Zoo“ bezeichnet und der Kurator der Ausstellung „qualifiziert“ sich mit der Aussage: „Die DDR spielt für die Entwicklung der Kunst eigentlich keine Rolle.“10
Jedoch gerade die herrschende Verdrängungspraxis sollte die Lust stimulieren, die stigmatisierte Kunst zur Kenntnis zu nehmen, auch wenn das aufgrund der verbreiteten Zensurpraxis und der institutionellen „Selektionsmacht“ (K.-S. Rehberg) der Sieger erschwert wird.
Vom Absolutheitsanspruch des Modernismus ist jedoch nicht nur eine DDR-Kunst betroffen, in der sich mit durchaus unterschiedlicher Schwerpunktsetzung ein alternativer Anspruch äußerte und in der eine von den Nazis verfolgte, und von den BRD-Kulturbürokraten verdrängte „andere deutsche Kunst auf vielfältige und einzigartige Weise überlebt und sich zum Teil in bedeutenden Formen fortentwickelt“11 hatte.
Auch ältere, der sozialistischen Parteinahme und Thematik unverdächtige Kunst erfährt eine schleichende Umwertung: In immer neuen Anläufen wird versucht, wesentliche Teile der Kunstgeschichte auf die Maßeinheiten des hegemonialen Minimalismus zu reduzieren. Das historische Material wird als bloße Vor- und Zwischenstufen gegenwärtiger Banalität dargestellt. Die Leitinstitution des westlichen Modernismus, das New Yorker Museum of Modern Art, das schon seit der Zeit des „Kalten Krieges“ definierte, was als „Kunst der freien Welt“ zu gelten habe (und u. a. auch mit Hilfe des CIA vornehmlich in den NATO-Staaten weitgehend durchsetzen konnte12), inszeniert die ganze Traditionslinie der klassischen Moderne so, als ob deren zwangsläufiger Gipfelpunkt der „abstrakte Expressionismus“ eines Jackson Pollok, sein „Actionpainting“ wäre, durch das, wie das Lexikon treffend schreibt, „völlig gegenstandsfreie Werke aus engmaschigen, durch Gieß-, Tröpfel- und Spritzverfahren hervorgerufenen Farbrinnsalen“ entstehen.
Je banaler das „Werk“, um so angestrengter die Versuche, kunsthistorische Reputation zu erschleichen – womit faktisch auch die Referenz-Kunst auf das krude Niveau des Spätmodernismus hinab gezogen wird. So soll ein eingefärbtes Kissen („Mystische Verlobung“ von Gotthard Graubner), präsentiert in der schon erwähnten Offizial-Schau „60 Jahre. 60 Werke“, wie die Bildzeitung den Kunstkritiker P. Iden ihren Lesern erklären lässt, von der „Sixtinischen Madonna“ Raffaels angeregt worden sein.13
Dass „auch die unter- und übergehende Ideologie (gemeint ist auch eine entsprechende Kulturpraxis) des Bürgertums durchaus dialektisch zum Aufbau der neuen Welt“ beitragen könnte (wie Ernst Bloch 1926 an Siegfried Krakauer schrieb14), war schon damals eine Fehleinschätzung. Heute eine solche Auffassung zu hegen, gar Chancen des „Erbes“ im Ästhetizismus eines dekadenten Spätmodernismus zu sehen, ist Ausdruck einer kaum noch zu überbietenden theoretischen und ideologiekritischen Unbedarftheit, die so ziemlich alles ignoriert, was an kritischem Wissen über den Prozess der Bedrohung kulturellen Vermögens und zivilisatorischer Substanz15, aber auch der Wirkungsweise ideologischer Herrschaftsreproduktion im Spätkapitalismus zur Verfügung steht.16 Für eine alternative Kulturbeschäftigung stellt sich eher die Aufgabe, die progressive und selbstkritische Kunst der bürgerlichen Epoche gegenüber den Versuchen ihrer Destruktion zu verteidigen, nachdrücklich ihren Verkleinerungsversuchen auf resignative Weltbildmuster zu widersprechen, die bemüht sind, die fundamentalen Widerspruchstendenzen bürgerlicher Vergesellschaftung als Ausdruck einer angeblichen Perspektivlosigkeit aller Geschichte erscheinen zu lassen.
Solch ideologische Formierungsarbeit erreicht natürlich nur eine kleine „Kultur-Elite“ (der Umfang der regelmäßigen Museums- und Theaterbesucher bewegt sich im 2-Prozent-Bereich – und der Kreis derjenigen, die eine entsprechenden weltanschauliche Basisliteratur der Nietzsche, Heidegger, Foucault, Derrida, Agamben etc. lesen ist noch beträchtlich geringer). Jedoch wird eine „Zielgruppe“ erreicht, die Träger profilierter Widerspruchshaltungen sein könnte, für die heute jedoch die Vorstellung einer „Alternativlosigkeit“ gegenwärtiger Zustände und die Formel vom „Ende der Utopien“ als unhintergehbarer Orientierungshorizont gelten. Es geht dieser Weltanschauungsarbeit also nicht darum, diese Kreise „zu begeisterten Anhängern der bürgerlichen Gesellschaftsordnung, zu fanatischen Verehrern ihrer gegenwärtigen Kultur zu machen. Im Gegenteil ... [diese ästhetischen Praktiken und intellektuellen Desorientierungsmanöver erfüllen] für die Bourgeoisie ihren Zweck vollkommen, wenn durch sie eine Schicht der Intelligenz, die infolge der Einwirkungen der ökonomischen und der Kulturkrise zum Feind und Verächter der gegenwärtigen Gesellschaft geworden ist, davon abgehalten wird, aus dieser ihrer Feindschaft und Verachtung wirkliche praktische Konsequenzen zu ziehen.“17
Ästhetischer Möglichkeitshorizont
Obwohl die Selbstzurechnungen des Neo-Avantgardismus in der Regel keine Entsprechungen in seinen ästhetischen Hervorbringungen haben, werden sie dennoch auch in vielen linken Kunstbeschäftigungen mit bemerkenswerter Naivität akzeptiert. Nicht einmal die naheliegenden Fragen werden gestellt, beispielsweise, ob in den präsentierten Werken die angesprochenen Probleme hinreichend bearbeitet und die behaupteten Vermittlungsleistungen, etwa die „Versöhnung von Kunst und Alltag“ durch die museale Präsentation von Hauhaltsgeräten, tatsächlich erbracht werden. Ebenso wenig problematisiert wird, ob es sinnvoll ist, von einer „Demokratisierung der Kunst“ zu reden, wenn der Ausstellungsbesucher die Möglichkeit hat, farbige Würfel neu zu „arrangieren“.
Selten geworden ist die Thematisierung des Möglichkeitshorizonts der Künste, weitgehend verloren gegangen das Wissen darüber, dass sie auf menschliche Selbstentfaltungsansprüche und eine mögliche Welt der Schönheit verweisen können, auch wenn sie das Hässliche und die Probleme der Fremdbestimmung thematisieren, dabei jedoch die Differenz zwischen problembeladener Wirklichkeit und emanzipatorischem Anspruch herausarbeiten.
Die Vertreter einer Ästhetik des Hässlichen und des „Schocks“ können für sich vordergründig zwar einen historischen „Realismus“ reklamieren: Bisherige Geschichte ist eine der Zerstörung und des Leids, der Unterdrückung und des Schreckens gewesen. Die Darstellung des geschichtlichen Dramas bleibt jedoch unvollständig, ja sie ist geradezu manipulativ, wenn nicht gleichzeitig auch die andere Seite, der Kampf um eine bessere Welt, thematisiert wird. Niederlage und Widerstand sind oft eng miteinander verbunden und das Scheitern selten nur das letzte Wort der Geschichte gewesen.
Gelungene Kunst erinnert gerade im Bewusstsein der Übermacht der Deformationen und Irrwege daran, was sein könnte, wenn die hemmenden Faktoren der Gesellschaftsentwicklung überwunden würden. Dazu benötigt sie jedoch Ausdrucksmittel, „mit dem sich die Erfahrungen der Benachteiligten, der Erniedrigten gestalten lassen“.18 Diese fallen ihr jedoch nicht in den Schoß: Kunst muss sie sich „erobern“, wie Peter Weiss sagt. Gelingen kann ihr das gegenwärtig nur in der nachdrücklichen Auseinandersetzung mit der sozialen Widerspruchentwicklung und den zivilisatorischen Rückschrittstendenzen.
Indem die Künste die (oft auch regressiven) Auswirkungen objektiver Prozesse auf die Individualitätsformen, die psychischen und mentalen Reaktionen der Menschen thematisieren, können sie das Orientierungsbemühen in einer zunehmend „unübersichtlich“ und erinnerungslos geworden Welt unterstützen und im Kampf der Weltanschauungen (als eine Ebene des Klassenkampfes) ihre progressive Rolle spielen. Peter Weiss hat in seiner „Ästhetik des Widerstands“ die Wechselwirkung von historischer Bedrängnis und barbarischer Regression, widerständiger Praxis und ästhetischer Selbstvergewisserung durchdekliniert und nachvollziehbar dargestellt.
Die Erwartung einer unmittelbaren Wirkung von Kunst bei der Entwicklung eines progressiven Massenbewusstseins wäre jedoch illusionär. Dessen unmittelbarer Konstitutionsort sind die sozialen Kämpfe, vor allem in den Betrieben. Diese können jedoch über einen bloßen Reformismus nur durch profilierte Gegenbilder und Alternativvorstellungen hinaus gelangen. Bei deren Entstehung können künstlerische Phantasie und ästhetisches Gestaltungsvermögen einen wichtigen Beitrag leisten.
Eine progressive Perspektive zu schaffen und sich herrschender Ideologie der Unterwerfung zu entziehen, gelingt künstlerischer Gestaltung jedoch nur im Modus der Differenzierung und der konkreten Beschäftigung mit den Details eines Problemkomplexes, bei Berücksichtigung seiner Mehrschichtigkeit und oft auch dessen innerer Widersprüchlichkeit. Nur auf eine „Faktizität“ zu verweisen reicht nicht aus.
Im Vordergrund steht dabei, das muss angesichts grassierender Ignoranz immer wieder betont werden, nicht eine (in einem vordergründigen Sinne) „politische Kunst“. Es geht vielmehr um die ästhetischen Formen sozialer Problemverarbeitung und individueller Welterfahrung und nicht zuletzt auch um die Erinnerung daran, das ein selbstbestimmtes Leben möglich ist. Es geht nicht um politischen Reduktionismus, sondern darum, dass die Kunst zu sich selbst kommen, ihre ästhetischen Möglichkeiten voll entfalten kann. Dieses ästhetische „Leistungspotential“ ist übrigens an keine besondere Form gebunden, jedoch sind Gestaltungsprinzipien und eine Materialbearbeitung erforderlich, die den inhaltlichen Absichten und Notwendigkeiten angemessen sind und im Resultat die zugrunde liegenden „Konstruktionsprinzipien“ in der Qualität des Ganzen aufgehoben sind. Dem Problemverständnis Adornos ist uneingeschränkt zuzustimmen, auch wenn er es in seiner kunst- und literatursoziologischen Praxis sehr oft unberücksichtigt lässt: „Nicht wegzudenken ist von Rang und Qualität eines Kunstwerks das Maß seiner Artikulation. Generell dürften Kunstwerke desto mehr taugen, je artikulierter sie sind: wo nichts Totes, nichts Ungeformtes übrig ist; kein Feld, das nicht durch Gestaltung hindurchgegangen wäre. Je tiefer es von dieser ergriffen ward, desto gelungener das Werk. Artikulation ist die Rettung des Vielen im Einen.“19
Kultur und Aneignung
Bevor wir uns weiter in den Details herrschender Kunstpraxis und, als Gegenentwurf dazu, in den Reflexionen über die Prinzipien einer progressiven und selbstreflexiven Ästhetik verlieren, soll noch einmal ein Blick auf den besonderen Charakter des Kulturellen geworfen werden. In einer allgemeinen Weise lässt sich sagen, dass Kultur in ihrer Gesamtheit die Form ist, wie die Menschen sich in ihren Lebensverhältnissen einrichten. „Kultur [ist dabei] nicht nur mit der geistigen Sphäre des gesellschaftlichen Lebens, mit der Entwicklung des Bewusstseins zu identifizieren ... Vielmehr umfasst die Kultur alle Gebiete der menschlichen Produktionstätigkeit, alle Formen der ‚Teilnahme‘ des Menschen an der Geschichte.“20 Darin eingeschlossen ist die ästhetische Aktivität als irreversibler Bestandteil der menschlichen Reproduktionstätigkeit. Sie ist ein „Reflexionsvorgang“ im Kontext sozialer Selbstschöpfung und kultureller Selbstvergewisserung des Menschen21, eine wesentliche Ebene innerhalb des Prozesses realer Menschwerdung. Nur der Mensch kennt Kunst und Kultur, nur er verfügt über ästhetische Artikulationsformen. In ihren entwickeltsten Formen können sie als „höchster Ausdruck der Wirklichkeit“22 gelten.
Kultur ist seit grauer menschlicher Vorzeit Aneignung, zunächst einmal als „Einverleibung“ des die Menschengruppen unmittelbar umgebenden Naturraums. Und zwar nicht nur im Sinne von Anpassung, sondern zunehmend auch durch verändernde Eingriffe. Homers Odysseus beklagte zu Recht das Fehlen von Kultur, wenn systematischer Weinanbau nicht betrieben wurde. Bevor der Mensch jedoch den Naturraum umformte, ihn im wahrsten Sinne des Wortes kultivierte, hatte er schon eine lange Zeit des produktiven, veränderten Umgangs mit Naturstoffen hinter sich, die er nach seinen Zwecken und Vorstellungen einsetzte und „manipulierte“.
Menschliche Naturaneignung ist nicht nur nach Nützlichkeitserwägungen organisiert: Der Mensch, so hat Marx es formuliert, produziert auch nach „dem Maße der Schönheit“. Die ästhetische Artikulation ist jedoch nicht auf materielle Gestaltung beschränkt. Sie ist von nicht minderer Bedeutung in den immateriellen Bereichen: Schon bevor der Mensch die Materie nach künstlerischen Gesichtspunkten umformte, bediente er sich ästhetischer Mittel bei dem Bemühen symbolischer Entäußerung und kollektiver Selbsterfahrung. Ein vielleicht gar nicht so fernes Echo dieser Ebene erleben wir heute noch in den Tänzen und Gesängen sogenannter „Naturvölker“.
An dieser gattungsgeschichtlichen Bedeutungsdimension schließt eine Theorie ästhetischer Selbstvergewisserung innerhalb der marxistischen Theorie an: Den Künsten ist es möglich, ein Wissen und eine Überzeugung darüber zu vermitteln, warum die Verhältnisse der Knechtung, Demütigung und Erniedrigung umgestoßen werden sollten.23
Über lange Phasen der menschlichen Entwicklungsgeschichte hatte das kulturelle Entwicklungsniveau einen kollektiven Charakter: Die Kulturtechniken waren allen gemeinsam. Mit der Herausbildung der Klassengesellschaft und der sie begleitenden Arbeitsteilung spalteten sich die kulturellen Formen auf. Es bilden sich eigenständige, wenn auch zueinander vermittelte Herrenkulturen und die kulturellen Regelsysteme der Beherrschten heraus.
Eine der objektiven Herrschaftsfunktionen der Adelskulturen im Feudalismus war es, durch zivilisatorische Praktiken (beispielsweise durch Tischsitten und ritualisierte Verhaltensweisen) die angebliche Höherwertigkeit der eigenen sozialen Position zu demonstrieren und dadurch die eigenen Privilegien zu legitimieren. Die Alltagskulturen der Volksmassen vermittelten dagegen vorrangig Techniken der Lebensbewältigung. Indem sie auch die soziale Funktionalität der Unterschichten sicher stellten (beispielsweise in den religiösen Formen als kulturellem Normensystem) wird Kultur Bestandteil der Reproduktionsmechanismen bestehender Herrschaft. Jedoch ging sie niemals ganz darin auf. Selten zwar waren die kulturellen Artikulationsformen in einem profilierten Sinne widerständig. Aber es existierte in den alltagskulturellen Nischen ein Erfahrungsfundus und Orientierungskosmos mit durchaus subversivem Charakter. Der Herrenkirche war die Ohrenbeichte auch deshalb wichtig, um der Widerspenstigkeit des Alltagsglaubens auf die Schliche kommen zu können. Sie interessierte sich beispielsweise dafür, ob das religiöse Erlösungsversprechen, nicht doch – was gar nicht so selten geschah – auf das Diesseits bezogen wurde.
Dialektik der Kultur
Trotz seines zunächst reproduktiven Charakters kristallisieren sich im Alltag Widerspruchstendenzen heraus, die nur mit einem gewissen Aufwand herrschaftskonform kanalisierbar sind.24 Die latente Widerständigkeit der Alltagskulturen ist zu dem Bemühen der Menschen vermittelt, ihre Lebenszufriedenheit zu steigern und ihr „Lebensglück“ zu sichern. Dass sie gewöhnlich mit diesen Begehren ihre Schwierigkeiten haben, nicht selten daran auch scheitern, ändert nichts zu der Existenz dieses Prinzips.
Weil dem Alltagsleben ein unaufhebbarer Geltungsanspruch auf Lebensglück und in gebrochener Weise auch Selbstbestimmung inhärent ist, stellen diese Regungen eine kulturelle „Produktivkraft“ dar, die daran erinnert, dass der (selbst-)unterdrückende „Reproduktionsprozess noch nicht alle Spuren menschlicher, individueller Phantasie und gesellschaftlichen Erinnerungsvermögens ausgelöscht hat“25 – obwohl der historische Gedächtnisverlust und der Zerfall kritischer Realitätsversicherung (daran darf es keinen Zweifel geben!) schon ein beträchtliches Stück vorangeschritten ist. Nicht wenige Lebensbereiche sind von einer antizivilisatorischen Veränderungsdynamik geprägt26, und pathologische Erscheinungen der vielfältigsten Art breiten sich aus: Esoterik und Drogensucht, Sinnlosigkeitssyndrome und Alkoholismus, autoritäre bis faschistoide Einstellungsmuster, Aggressionen und Rücksichtslosigkeit gehören ebenso dazu wie Fremdenfeindlichkeit und die Bedeutungszunahme eines religiösen Fundamentalismus.
Jedoch sind Restbestände spontaner Widerständigkeit ebenso Elemente der (Alltags-) Realität, wie die manifesten Formen der Selbstentfremdung (die gleichzeitig solche der emotionalen und zunehmend auch zivilisatorischen Deformation sind) und der passiven Hinnahme des Gegebenen. Würde jedoch ein Horizont des Wünschens und Hoffens nicht existieren, hätten auch die medialen Manipulations- und kommerziellen Werbestrategien keine Anknüpfungspunkte: Denn sie sind es ja, die immer wieder „Glück“ versprechen und „Schönheit“ inszenieren – wenn auch in einem sehr vordergründigen Sinne und in der Absicht der Unterwerfung der Menschen (vornehmlich durch die Koppelung von Befriedigung an vorangegangene Leistung) unter ein selbstunterdrückendes „Realitätsprinzip“.
Dennoch gilt es, die alltäglichen Versuche der Selbstartikulation ernst zu nehmen, ohne jedoch ihre Hilflosigkeit und faktische Begrenztheit zu ignorieren. Die utopische Substanz des Alltagsbewusstseins27 reicht nicht aus, um sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf der Entfremdung zu ziehen. Um seine widerständigen Momente zur Geltung bringen zu können, ist eine radikale Kritik des Alltags unabdingbar, zumal er sich in allen seinen Bezügen außerordentlich zwiespältig zeigt. Denn eine Tendenz zur Selbstverwirklichung ist nur die eine Seite seiner Wirklichkeit; die andere ist eine Beharrungs- und Unterwerfungsbereitschaft. Eine kritische Beschäftigung mit dem Alltag muss sich hüten, alles, was in seinem Rahmen geschieht, als Ausdruck von „Authentizität“ misszuverstehen: Es muss thematisiert werden, wie sich Fremdbestimmung und das Selbstartikulationsbemühen miteinander vermengen.
Kultur und Emanzipation
Eine Beschäftigung mit der Alltagskultur ist von dramatischer Aktualität, weil die neoliberalistischen Angriffe auf die Sozialstandards auch den Charakter eines Kulturkampfes haben. Vom Kapital wird seit zwei Jahrzehnten ein Kurswechsel von grundsätzlicher Bedeutung angestrebt: Viele von der Arbeiterbewegung erkämpften Errungenschaften sollen rückgängig gemacht werden. Es wird Abschied von der gesellschaftlichen Selbstverpflichtung einer materiellen Grundsicherung für alle genommen. Gekoppelt ist diese soziale Destruktionsstrategie an die Infragestellung selbstbestimmter Lebensgestaltung. Nicht zufällig steht der Kampf um die Arbeitszeit im Mittelpunkt. Es geht dabei nicht um die eine oder andere Stunde Mehrarbeit, sondern um die Stabilisierung der ausbeutungsorientierten Verfügungsmöglichkeiten über die arbeitenden Menschen.
Um das Prinzip Profitmaximierung uneingeschränkt durchzusetzen, werden die Lohnabhängigen einer permanenten Verunsicherung ausgesetzt. Weil alleine schon durch die verbreiteten Ängste vor dem sozialen Absturz ihr Selbstbewusstsein unterminiert wird, fehlt oft die Bereitschaft, sich perspektivischen Orientierungen überhaupt noch zu öffnen. Existenzielle Verunsicherung erweist sich besonders in zugespitzten Krisensituationen als ideologischer Herrschaftsmodus.
Das Kapital nimmt bei der ausbeutungsorientierten Umgestaltung der Lebensverhältnisse auch kulturelle Verfallsprozesse billigend in Kauf. Nicht mehr nur im Verborgenen existieren Tendenzen einer „passiven Verfaulung“ (Marx/Engels), die als Konsequenzen stationärer Armut schon Friedrich Engels in seiner „Lage der Arbeitenden Klassen“ beschrieben hat. Sie reichen aktuell von selbstdestruktiven Verhaltensformen bis hin zur sozialen Verwahrlosung. Auch die Gewalt der Amokläufer, die in immer kürzeren Abständen aufbricht, kann als eines dieser Symptome zivilisatorischen Rückschritts begriffen werden. Denn oft ist sie die hilflose Reaktionsform von Menschen, die sich in ihren bedrängenden Lebensverhältnissen kaum anders zur Geltung bringen können, als durch ein wildes Umsichschlagen.
Ein Skandal ist die Tatsache, dass die Bevölkerungsgruppen wachsen, die selbst von elementaren kulturellen Partizipationschancen abgeschnitten sind: Die Stadtteilbibliotheken und wohngebietsnahen Schwimmbäder werden geschlossen, die Schulen verfallen und für Migrantenkinder stehen keine qualifizierten Lehrer zur Verfügung. Die Konsequenzen sind nicht mehr zu übersehen: Wir leben angeblich in einer „Wissensgesellschaft“ – und dennoch sind 20 Prozent der Hauptschulabgänger kaum des Lesens und Schreibens fähig.
Trotz der dramatischen sozialen und kulturellen Widerspruchsentwicklung hält sich wirkungsvoller Widerstand dagegen in Grenzen. Und nicht nur, weil es dem herrschenden Block durch den ökonomischen Krisen- und Anpassungsdruck gelungen ist, die Opfer der sozial-destruktiven Umwälzungen zu disziplinieren und einzuschüchtern. Er hat es auch geschafft, seine Weltanschauungsmuster (etwa von der Alternativlosigkeit des Kapitalismus) bis in die Schichten der Krisenopfer hinein zu verallgemeinern. Ein ganzes Netz ideologischer Aktivitäten dient diesem Zweck – und ästhetisch vermittelte Festlegungen spielen, wie zu sehen war, ebenfalls ihre Rolle darin.
Was nurall zu oft in der herrschenden Kultur der Resignation auf der Strecke bleibt, sind Hinweise darauf, welche Möglichkeiten emanzipatorischen Handelns trotz aller Fremdbestimmung existieren. Gerade diese Konformitätsgrenze wird strikt eingehalten. Wo sie verläuft, hat der Fernsehfilm über das Leben von Marcel Reich-Ranicki verdeutlicht: In seiner Autobiographie gibt es eine ergreifende Stelle (es ist einer dieser Sätze, für die es sich manchmal alleine schon lohnt ein Buch zu lesen!), wo der arbeitslose Buchdrucker und Zigarrendreher, der die Ranickis versteckt, mit seiner Frau streitet, die Angst vor der Entdeckung durch die Nazis hat. Er weist sie mit den Worten zurecht: „Adolf Hitler will, dass diese beiden Menschen sterben. Ich will dass sie leben!“ Dass der Film dieses Beispiel einer alltäglichen Widerstandshaltung verschweigt, ist kein Zufall!
Auch den kapitalismuskritischen Gegenkräften ist es bisher nicht gelungen dem Klima der „Alternativlosigkeit“ überzeugendes entgegen zu setzen. Auch weil sie über zu wenige alltagspraktisch nachvollziehbare Gegenbilder und profilierte Vorstellungen über ein nicht nur wünschenswertes, sondern auch mögliches anderes Leben verfügen. Ob sie solche Lücken zu füllen in der Lage sind, wäre ein Maßstab bei der Beurteilung kultureller Aktivitäten.
Um eine alternative Kultur muss gerungen werden: sie ist eher Programm, denn fertige Verfügungsmasse. Und nur, wenn sie durch politische Widerstandsstrukturen und intellektuelle Gegenbilder beeinflusst ist (was wäre aus Brecht ohne Marxismusbeschäftigung und Arbeiterbewegung geworden?), kann sie positive Auswirkungen auf den Verständigungsprozess über emanzipatorische Formen des Lebens und des Arbeitens als Antwort auf die Krisenprozesse haben.
1 Vgl.: M. Wekwerth, Mut zum Genuss. Ein Brecht-Handbuch, Berlin 2009, S. 24
2 K. Baum, Der Schock des Immergleichen. Anmerkungen zur Gegenwartskunst, in: Zeitschrift für kritische Theorie, H. 4/1997, S. 112
3 Vgl.: W. Seppmann, Rituale der Unterwerfung. Kunst und Gesellschaft heute, in: Kunst als politische Waffe oder als Mittel der Aufklärung, Schriften der Erich Mühsam Gesellschaft. Heft 30, 2008
4 Th. W. Adorno, Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1976, S. 29
5 K. Baum, Ebd., S. 117
6 Ebd., S. 121
7 N. Tertulian, Die Lukácssche Ästhetik, in: G. Paternak (Hg.), Zur späten Ästhetik von Georg Lukács, Frankfurt/M. 1990, S. 28
8 Georg Lukács, Ästehetik Teil I - Die Eigenart des Ästhetischen, I. Halbbd. , Berlin und Weimar 1981, S. 412
9 Vgl.: H. Rauterberg, Kesseltreiben in Weimar. Aus Bilderstreit wird Bilderkampf, in: Die Zeit vom 27. 5. 1999
10 Zit. nach Die Zeit vom 30. 4. 2009
11 E. Beaucamp, Der verstrickte Künstler. Wider die Legende von der unbefleckten Avantgarde, Köln 1998, S. 91
12 Vgl.: S. Guilbaut, Wie New York die Idee der modernen Kunst gestohlen hat. Abstrakter Expressionismus, Freiheit und Kalter Krieg, Dresden und Basel 1997
13 Dass die Bild-Zeitung einer der Sponsoren der Jubiliäumsschau des offiziösen BRD-Kunstbetriebs im Berliner Gropius-Bau im Frühjahr 2009 war, passt in das Bild, dass sie sich schon seit geraumer Zeit um die Popularisierung „Moderner Kunst“, unter Verwendung der pseudokritischen Phraseologie einer affirmativen „Kunstkritik“ bemüht. Ohne jeden Anflug von Ironie wird den Lesern die Kunst der Exkremente und Spanplatten, der monochronen Farbfelder und der aufeinander geworfenen Dachlatten als gegenwartsangemessene ästhetische Ausdrucksformen „erklärt“.
14 E. Bloch, Briefe, Bd. I, Frankfurt/M. 1985, S. 270
15 Vgl.: W. Seppmann, Zivilisierung und Unterdrückung. Über die Zukunftsfähigkeit einer kapitalistischen „Moderne“, in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 45, 2001; vgl. auch: M. Bermann, Kultur vor dem Kollaps?, Frankfurt/M. 2002
16 Vgl.: W. Seppmann, Was heißt heute „herrschendes Denken“?, in: Ch. Jünke (Hg.): Am Beispiel Leo Koflers. Marxismus im 20. Jahrhundert, Münster 2001
17 G. Lukács, Grand Hotel „Abgrund“, in: F. Benseler (Hg.), Revolutionäres Denken: Georg Lukács, Darmstadt und Neuwied 1984, S. 184 f.
18 P. Weiss, Notizbücher. 1971 – 80, Bd. II, Frankfurt/M. 1981, S. 817
19 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1972, S. 284
20 W. Meshujew, Kultur und Geschichte, Berlin/DDR 1983, S. 77
21 Vgl. die grundlegende, jedoch bedauerlicherweise auch in der marxistischen Diskussion weitgehend ignorierten Arbeit von E. Neumann, Funktionshistorische Anthropologie der ästhetischen Produktivität, Berlin 1996
22 P. Weiss, Ästhetik des Widerstands, Bd. III, Frankfurt/M. 1981, S. 130f.
23 Vgl. den Beitrag von Thomas Metscher in diesem Band.
24 Vgl.: L. Kofler, Der Alltag zwischen Eros und Entfremdung, in: H. Friauf (Hg.), Eros und Politik. Wider die Entfremdung des Menschen, Köln 2009
25 Th. Leithäuser, Kapitalistische Produktion und Vergesellschaftung des Alltags, in: Th. Leithäuser/W. R. Heinz, Produktion, Arbeit, Sozialisation, Frankfurt/M. 1976, S. 56
26 Vgl.: Th. Metscher, Imperialismus und Moderne, Essen 2009
26 Vgl.: W. Seppmann, Widerspruchserfahrung und Utopie, in: Sozialistische Hefte, Nr. 8, Mai 2005