Die Integration von Sprache, Schrift und Text in die bildende Kunst ist so alt wie diese selbst. Gerade in moderner und zeitgenössischer Kunst aber bietet sie erst Möglichkeiten, die Bedingungen jeder Repräsentation zu hinterfragen.
Kunst spricht. Wer heutzutage eine Ausstellung moderner oder zeitgenössischer Kunst besucht, wird mit recht großer Wahrscheinlichkeit auf Werke treffen, die sich direkt oder indirekt mit Schrift, Text oder Sprache auseinandersetzen.
Im Kunstmuseum Basel kuratierte 2022 die für ihre subversiven Sprach-Arbeiten bekannte Künstlerin Jenny Holzer eine Ausstellung mit Werken von Louise Bourgeois[1] und legte dabei den Schwerpunkt auf die textuellen Arbeiten der 2010 verstorbenen Künstlerin. Auch in der aktuellen Ausstellung des Baseler Museums wird nicht auf das Wort verzichtet: Ein poetischer Text fließt auf einem LED-Fries in großen Lettern über die Außenfassade des Gebäudes. Das Gedicht How to mesure a life? stammt von CarrieMae Weems und ist Teil der Einzelausstellung der US-amerikanischen Künstlerin[2].
In der Neuen Nationalgalerie in Berlin wurden die Besucher*innen im letzten Jahr ebenfalls bereits im Außenraum mit Schrift konfrontiert. Monica Bonvicini empfing das Publikum im Rahmen der AusstellungI do you mit einem großen verspiegelten Billboard, auf dem die gleichlautenden Worte angeschnitten und versetzt in schwarzen Lettern zu lesen waren[3]. Und in der Galerie selbst verwendete die Künstlerin auf spiegelnde Flächen aufgedruckte Satz- und Textfragmente als ein zentrales Motiv der Ausstellung.
Wer in diesem Winter die Ausstellung von Nicole Eisenman in der Londoner Whitechapel Gallery betritt, sieht sich unmittelbar mit einem gewaltigen Text-Bild-Konvolut konfrontiert, das sich wie eine Collage über die Wand ausbreitet[4]. In der gegenüberliegen Videoarbeit gleitet die Kamera über frühere Wandgemälde der Künstlerin und wird von einem Orchester bissig-ironischer Stimmen begleitet und kommentiert.
Aber nicht nur in Ausstellungen aktueller Kunst sind Schrift und Sprache omnipräsent. Im Sommer 2023 zeigte das Münchner Lenbachhaus das beeindruckende Werk von Charlotte Salomon[5], die 1943 in Auschwitz von den Nationalsozialisten ermordet wurde. Leben? oder Theater?, ein Konvolut aus fast 800 Gouachen, Zeichnungen und Texten, entstand in knapp zwei Jahren vor ihrem gewaltsamen Tod. Und auch die Albertina in Wien kündigt mit der Roy Lichtenstein Retrospektive zum Frühjahr 2024 eine Ausstellung an, in der Text einen wichtigen Platz einnehmen wird: Mit seinem großformatigen, auf Cartoons basierenden Gemälden, ist der Künstler maßgeblich daran beteiligt, dass Schrift - über die Pop Art hinaus - bis heute zu den Ausdrucksmitteln zeitgenössischer Kunst gehören.
Diese Beispiele zeigen: Wörter, ob als geschriebene oder gesprochene Sprache, sind in der westlichen Kunst der letzten 100 Jahre allgegenwärtig. Auch wenn heute angesichts zunehmender Interdisziplinarität eine solche Feststellung banal erscheinen mag, so ist zunächst daran zu erinnern, dass es sich bei der Verwendung von Wörtern in der Kunst um ursprünglich aus dem Bereich der Literatur entliehenes Material handelt. Was heute zum festen bildkünstlerischen Repertoire gehört, wäre ohne einen jahrhundertelangen Austausch mit der „Schwesterkunst“ Literatur nicht denkbar. Denn Kunst und Literatur stehen bereits seit der Antike in einem engen Wechselverhältnis[6]. Besonders deutlich verändert sich deren Beziehung jedoch zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zwar lässt sich grundsätzlich feststellen, dass zu Beginn des Jahrhunderts „jede Kunstart an die Grenze der anderen gerät“[7]. Doch die bildende Kunst ab 1910 erweitert – deutlich konsequenter als andere Gattungen – ihr Feld durch die Inklusion neuer Materialien und Ansätze.[8] Dabei nimmt Text eine Vorreiterrolle ein. So unterschiedlich die künstlerischen Positionierungen der dadaistischen, surrealistischen, kubistischen oder futuristischen Künstler*innen auch sind, Schrift und Sprache werden konstituierende Komponenten aller westlicher Avantgarde-Strömungen.
Es ist jedoch nicht die alleinige Präsenz der Wörter in der bildenden Kunst, die zeigt, dass sich etwas Grundlegendes geändert hat, denn Schrift hat in der bildenden Kunst durch die Jahrhunderte immer eine Rolle gespielt[9]. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat das Einbeziehen von Schrift jedoch neue Qualitäten und es entstehen nun neue Text-Bild-Konstrukte, die nicht mehr eindeutig einer bestimmten Gattung zugeordnet werden können.
Man könnte diese Entwicklungen an der Schnittstelle zwischen Kunst und Literatur nur als Spielart eines jahrhundertelangen Wettstreits zweier Gattungen abtun, die Konsequenzen für die bildenden Kunst im 21. Jahrhundert sind jedoch weitreichend. Denn die Integration von Schrift ist zentrales Moment ihrer schrittweisen Öffnung im letzten Jahrhundert. Die bildende Kunst öffnet sich, gerade durch die Integration von Schrift, zunächst anderen Künsten, dann anderen kulturellen und gesellschaftlichen Bereichen. Genau diese Öffnung ermöglicht erst, dass heute neben Schrift noch ganz andere „gattungsfremde“ Medien, Materialien oder Ansätze ihre Verwendung in der Kunst finden.
Diese Entwicklung führt auch dazu, dass nicht wenige Künstler*innen bewusst eine Schnittstellen-Position suchen, an der sich Kunst explizit zu anderen gesellschaftlichen Bereichen hin öffnet. Die vermehrte Präsenz von Sprache bleibt gerade an diesen neuralgischen Punkten weiter bestehen, verändert sich jedoch kontinuierlich. Durch die zögerliche, aber dennoch beginnende Dekonstruktion des eurozentristischen Kunstbegriffs gewinnen zu Beginn des 21. Jahrhundert bildkünstlerische Formen an Bedeutung, die durch oral history und alternative Narrationsformen jenseits des westlichen Kunstdiskurs geprägt sind. So ist es nicht verwunderlich, dass Formen von geschriebener oder gesprochener Sprache gerade bei Künstler*innen hoch im Kurs stehen, die gesellschaftspolitische oder soziale Themen auf ihrer künstlerischen Agenda haben.
Warum also verwenden Künstler*innen heute Schrift oder Sprache? Die zunächst banal klingende Antwort lautet: Sie integrieren sie in ihr Werk, um den Raum der bildenden Kunst zu öffnen. Schrift und Sprache eröffnen der Kunst neue Räume und ermöglichen, sich als Künstler*in in der Gesellschaft neu zu verorten.
Denn durch die Integration von Schrift erlangt häufig der Entstehungskontext, das lokale, kulturelle oder historische Umfeld größere Bedeutung und wird Teil des Werkes. Künstler*innen im Kubismus und Dadaismus haben vor rund hundert Jahren damit begonnen, durch die Verwendung Schrift aus Werbe- und Zeitungsmaterialien, die Kunst im gesellschaftlichen Alltag (politisch) neu zu verankern. In dieser Tradition stehen heute künstlerische Positionen wie The Atlas Group, Jens Haaning oder Jenny Holzer[10], gerade auch mit jenen Text-Arbeiten, die im öffentlichen Raum angesiedelt sind. Schrift verweist damals wie heute nicht nur auf gesellschaftliche oder kulturelle Zusammenhänge, sondern transformiert diese zum Teil des Werkes. So werden Zeitdokumente und Diskurse unmittelbar Teil künstlerischer Arbeit.
Dort, wo Künstler*innen Sprache in ihre Werke integrieren, wird neben dem Sehen durch das Lesen bzw. Hören eine zweite Rezeptionsmöglichkeit eröffnet und somit zwei Rezeptionsmodi gleichzeitig und gleichberechtigt geltend gemacht. Die Integration von Sprache hat dabei jedoch nicht die Funktion, jene Aufgaben zu erledigen, die mit dem herkömmlichen Repertoire bildender Kunst nicht (mehr) geleistet werden können. Sie ist vielmehr ein Zeichen dafür, dass Künstler*innen die Bedingtheit jeglicher Form von Repräsentation hinterfragen, von visueller wie verbaler Repräsentation gleichermaßen.
Durch diese Neuverortung durch und mithilfe vom Text verändert sich auch das Verhältnis zwischen Künstler*in, Werk und Publikum. Das Publikum wird als selbstständige*r und aktive*r Akteur*in von Beginn an in der Konzeption des Werkes mitgedacht. Die Rezipient*innen sehen sich nun kaum noch mit einer geschlossenen Oberfläche konfrontiert, sondern mit einem Werk, in dem zwei Zeichensysteme bewusst nebeneinander, bisweilen gegeneinander gesetzt werden. Die Bedeutung des Werkes wird durch ihre aktive Partizipation konstruiert. Ein solch offenes Werk[11] gibt seine visuellen und verbalen (Doppel-)Strukturen preis und lenkt den Blick auch auf seine eigene Konstruktion. Man könnte in dieser strukturellen Veränderung einen Machtverlust sehen, da Künstler*innen somit einen Teil ihr Deutungshoheit aufzugeben scheinen. Sie kann aber auch als ein Angebot an das Publikum verstanden werden, das inklusiv und nicht hierarchisch gedacht ist[12].
Denn trotz allem bleiben die Künstler*innen die Hauptakteur*innen. Sie legen im Wissen der Relativität visueller und verbaler Zeichensysteme durch Wahl, Setzung und Struktur die Rahmenbedingungen fest, in denen sich der Rezeptions- und Interpretationsprozess abspielt. Diese Erweiterung des Repräsentationsmodells durch Dopplung der Zeichensysteme kann nicht ohne ein aktives Publikum gedacht werden, das versucht, die unterschiedlichen Bedeutungsebenen zu einem Ganzen zusammenzufügen und das eigene Verhältnis zum Werk mitzudenken. Kunst spricht – zu uns, mit uns. Von diesem aktiven, dialogischen Verhältnis zum Werk profitieren am Ende Künstler*innen und Publikum gleichermaßen.
Dieser erschien in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Nr. 67, Winter 2023/24, „Laute(r) Worte“.
Katrin Ströbel ist Künstlerin und lebt und arbeitet in Marseille, Stuttgart und Rabat. Nach 10jähriger Lehrtätigkeit an der Villa Arson in Nizza lehrt sie seit Mai 2023 Professorin an der Kunstakademie Stuttgart. Von ihr erschien Wortreiche Bilder. Zum Verhältnis von Text und Bild in der zeitgenössischen Kunst (Bielefeld 2013).
[1] Die Ausstellung Louise Bourgeois x Jenny Holzer: The Violence of Handwriting Across a Page, kuratiert von Jenny Holzer in Kooperation mit Dr. Anita Haldemann, lief vom 19.2. bis 15.5. 2022 im Kunstmuseum Basel.
[2] The Evidence of Things Not Seen, 26.10.2023 bis 07.04.2024, ebenfalls Kunstmuseum Basel
[3] Monica Bonvicini: I do you, Neue Nationalegalerie Berlin, 25.11.2022 bis 01.05.2023
[4] Nicole Eisenman: What happened? Whitechapel Gallery London, 11.10.2023 bis 14.01.2024
[5] Die Ausstellung Charlotte Salomon: Leben? oder Theater? war in München vom 31. März 2023 bis 10. September 2023 zu sehen und ist eine Kooperation zwischen dem Lenbachhaus München und dem Jüdischen Museum in Amsterdam.
[6] Vgl. dazu: Harms, Wolfgang (Hg).: Text und Bild – Bild und Text, Stuttgart, 1990 sowie Adler, Jeremy und Ernst, Ulrich (Hg.): Text als Figur: visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne, Weinheim, 1987
[7] Heißenbüttel, Helmut. In: Ausstellungskatalog Schrift und Bild. Amsterdam, Baden-Baden, 1963. S.XV
[8] Vgl. dazu: Fischer-Lichte, Erika (Hg.): Ausweitung der Kunstzone: Interart Studies – Neue Perspektiven der Kunstwissenschaften. Bielefeld, 2010
[9] Einen ausführlichen Überblick bietet: Harms, Wolfgang (Hg.): Text und Bild, Bild und Text. DFG-Symposion 1988. Stuttgart, 1990
[10] Als Beispiele seien an dieser Stelle Jenny Holzers Kooperation mit der Süddeutschen Zeitung, Jens Haanings Arabic Jokes-Serie oder die Bürgerkrieg-Archiv-Arbeiten von The Atlas Group genannt. Vgl. dazu die Kapitel zu „Künstlerische Strategien im öffentlichen Raum“ bzw. „Archive, Dokumente. Gedächtnis und Geschichte“. In: Ströbel, Katrin: Wortreiche Bilder. Bielefeld, 2013, S.143 und S.246
[11] Zum Begriff des offenen Kunstwerks vgl.: Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk. Frankfurt/Main, 1977
[12] Vgl. dazu Kate Macfarlane: „These visually rich, multi-layered works invite their ‘readers’ to seek a plurality of meanings that are personal to them and that can be a catalyst to their imagination.” In: dies. (Hg): Drawing Time, reading time / Marking language. London, New York, 2013. S14.