Militärrituale

Analyse und Kritik eines Herrschaftsinstruments

Rezension zu: Euskirchen, Markus (2005): Militärrituale. Analyse und Kritik eines Herrschaftsinstruments, PapyRossa, Köln (249 S., br., 17,50 Euro)

Wohl kaum ein Politikfeld hat in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik einen so grundlegenden Wandel erfahren wie das der Militärpolitik. Noch Mitte der 1990er Jahre wurde heftig darüber gestritten, ob deutsche Auslandseinsätze mit dem Grundgesetz überhaupt vereinbar sind. Inzwischen gehört der ständige Einsatz von über 10.000 deutschen Soldaten in Kriegen und Konflikten rund um die Welt zum außenpolitischen Tagesgeschäft der BRD. 60 Jahre nach dem Sieg über den deutschen Faschismus spielt Deutschland wieder mit auf der Bühne der internationalen Politik. Anlass genug für Markus Euskirchen, sich in seiner im PapyRossa Verlag erschienenen Dissertation mit einem konstitutiven Bestandteil der deutschen 'Renaissance des Militärischen' (Wolfram Wette), ja: von militärisch abgesicherter Herrschaft überhaupt, auseinanderzusetzen: den Militärritualen. Gelöbnisse, Vereidigungen, Kranzniederlegungen usw. dienen der binnenmilitärischen Unterwerfung der Soldaten unter das System von Befehl und Gehorsam. In ihrer öffentlichen Inszenierung repräsentieren und legitimieren diese Rituale den staatlich-militärischen Gewaltapparat. "Wo es staatliche Herrschaft gibt", so eine zentrale These in Euskirchens Buch, "gibt es Militärrituale, welche die Macht dieser Herrschaft demonstrieren und zelebrieren" (37).

Am Beispiel der Bundeswehr entwickelt der Autor eine systematische Analyse der Funk-tionsweise von Militärritualen: Dazu erarbeitet er zunächst einen Ritualbegriff (22ff), der sich deutlich vom undifferenzierten Begriff des 'Zeremoniells' absetzt, wie ihn bspw. die Bundeswehr verwendet (31ff). In Anlehnung an Schäfer und Wimmer (1998) sowie Niedermüller (2001) bezeichnet Euskirchen Rituale als formalisierte und öffentliche Handlungen, die sich durch ihre vorrationale und identitätsstiftende Wirkung auszeichnen (12ff). Sie produzieren und reproduzieren soziale Ordnungen, bannen Konflikte und binden das Individuum an eine Gruppe. Für die Untersuchung von Militärritualen ist schließlich die in der Ethnologie beschriebene Initiationsfunktion ritueller Handlungen von besonderer Bedeutung. Das so entwickelte analytische Instrumentarium dient im empirischen Teil der Typisierung und Interpretation unterschiedlicher Rituale.

Im nächsten Schritt beschäftigt sich der Autor mit dem gesellschaftlichen Kontext, in dem Militärrituale ihre Wirkung entfalten. "Um Sinn, Wirkung und Zweck von Militärritualen analysieren zu können" gilt es, "einen Begriff von Militär herauszuarbeiten und diesen wiederum begrifflich einzubetten in den Zusammenhang, aus dem er kommt: Staat, Kapitalismus, Nation" (40). Folgerichtig wird Militär als "soziale Organisation" definiert, "die uniformiert, kaserniert, bewaffnet und dem Prinzip von Befehl und Gehorsam unterworfen ist, und die von einem Staat unterhalten wird, um bestimmte Macht-, Herrschafts- oder Produktionsformen durchzusetzen, aufrechtzuerhalten oder zu verteidigen" (45). Die gewaltförmige Austragung zwischenstaatlicher Konkurrenz stellt insofern 'nur' die offensichtlichste Funktion des modernen Militärs dar. Mit seinen staats- und kapitalismustheoretischen Überlegungen orientiert sich der Autor eng an Marx und argumentiert, dass die Abwesenheit unmittelbarer Gewalt im bürgerlichen Tauschverhältnis notwendig die Existenz einer außerökonomischen Zwangsgewalt voraussetzt (59ff). Auch innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft hat das Militär "einen zentralen Anteil an der gewaltsamen Aufrechterhaltung von Herrschaftsverhältnissen". Da jedoch "die Gewaltfunktion des Militärs nach innen selten im Kampfeinsatz gegen die Zivilbevölkerung besteht" - die militärische Aufstandsbekämpfung bezeichnet Markus Euskirchen treffend als staatliche "Krisenoption" (62) - "gilt es ihr mit Hilfe eines Gewaltbegriffes näher zu kommen, der nicht nur auf direkte, physische Gewaltsamkeit abhebt" (59). Daher rekurriert der Autor auf die von Johan Galtung geprägten Begriffe von "struktureller" und "kultureller Gewalt" (ebd.).

Im Folgenden werden auf der Grundlage empirischen Materials die verschiedenen Militärrituale der Bundeswehr typisiert und interpretiert. Exkurse über das "Wachbataillon als Spezialtruppe für Militärrituale" (90ff) und die Rolle der Kirche im Militärritual (111ff) runden diesen Teil ab. Markus Euskirchen unterscheidet Initiationsrituale (z.B. Gelöbnisse und Vereidigungen), Machtvisualisierungsrituale (z.B. Staatsempfänge mit militärischen Ehren), Erinnerungs- und Gedenkrituale (z.B. Kranzniederlegungen) und Rituale der Todesrechtfertigung (z.B. Ehrenbegräbnisse). Dabei stellen "Machtvisualisierung und Traditionskonstruktion [...] die beiden grundlegenden Funktionen aller Militärrituale dar" und werden in bestimmten Varianten "durch weitere Funktionen" (141) ergänzt.

Abschließend werden die Debatten und politischen Auseinandersetzung um Militärrituale in Deutschland behandelt. Differenziert zeigt der Autor die Argumentationsmuster konservativer und liberaler Akteure auf und beschäftigt sich mit bürgerrechtlichen und linksradikalen Positionen (168ff). Eine radikale Kritik, so das Fazit, muss "Militärrituale in ihrer Funktionalität für den Betrieb von Militär" kritisieren, "Militär in seiner Funktionalität für den Staat, und Staatlichkeit in ihrer Funktionalität für die Aufrechterhaltung eines Reproduktionssystems, das aufgrund seiner systemrationalen Funktionsweise die ökologischen und sozialen Lebensbedingungen der Menschen zu zerstören droht" (199f).

Euskirchens Arbeit besticht durch einen Ansatz, der Militärrituale nicht nur als binnenmilitärisches Zeremoniell beschreibt, sondern im Kontext gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse analysiert. Von besonderem Wert ist, dass der Autor dabei auf eigene empirische Untersuchungen zurückgreifen kann. Der Zugang zu einer 'totalen Institution' (Erving Goffman) wie dem Militär ist schwierig und unabhängige Feldforschung hier alles andere als selbstverständlich. Mit der Typisierung schließlich liegt erstmals ein systematisches begriffliches Instrumentarium für die Auseinandersetzung mit Militärritualen vor. Kurzum: Eine Grundlagenarbeit mit hohem Gebrauchswert für jede kritische Militärforschung.

Diese Rezension erschien in: Das Argument - Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaft Nr. 261, Heft 3/2005, S. 417-419.