Occupy machte sich 2011 auf den Weg um die halbe Welt
2011 in Madrid: Zehntausende besetzen im Zuge der Proteste gegen die Euro-Krise den zentralen öffentlichen Platz, die Puerta del Sol. Im selben Sommer kommt es in Israel zu den größten sozialen Protesten in der Geschichte des Landes. Tausende AktivistInnen verwandeln den Rothschild Boulevard im Herzen von Tel Aviv über Wochen hinweg in ein schillerndes Protest-Camp. Die Occupy-Bewegung macht sich im September 2011 von New York aus auf den Weg um die halbe Welt. Nur drei Monate später besetzt Occupy Nigeria Straßen, Plätze und Parks in mehreren Städten des westafrikanischen Landes, um gegen den Wegfall der Benzinpreis-Subventionen und den damit verbundenen Anstieg der Lebenshaltungskosten zu protestieren. Tunesien und Ägypten stehen für die Umbruchbewegungen in den arabischen Ländern. Nicht zu vergessen: die Proteste im Gezi-Park in Istanbul im Sommer 2013, die sich binnen Tagen auf die gesamte Türkei ausweiteten. Die Liste ließe sich beliebig verlängern.<--break->
Unter BewegungsforscherInnen und politischen KommentatorInnen herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass wir es in den vergangenen Jahren mit einer historisch-besonderen Protestkonjunktur zu tun hatten. Der Ökonom Joseph Stiglitz (2012: 9) verglich die Proteste von 2011 in ihrer Bedeutung gar mit den historischen Umbrüchen von 1848 und 1968. Ausgesprochen schwierig scheint allerdings die Frage zu beantworten, worin genau eigentlich das Verbindende zwischen den unterschiedlichen politischen Bewegungen und sozialen Unruhen in verschiedenen Ländern und Regionen besteht. Zu den politischen Protesten und sozialen Unruhen in Ländern und Städten rund um die Welt führen die weltweiten Strategien der Neoliberalisierung und insbesondere die brutalen Austeritätspolitiken der vergangenen Jahre, aber auch autoritäre Regime im globalen Süden und die Einschränkung demokratischer Rechte im globalen Norden – das ist der kleinste gemeinsame Nenner. Roland Roth (2012: 22) beobachtet darüber hinaus, dass es den AktivistInnen „um die Überwindung autoritärer Herrschaft (und) um die fundamentale Umgestaltung ihrer blockierten Gesellschaften“ geht. Darin bestünde auch ein wichtiger Unterschied zu den moderaten Ausläufern der Neuen Sozialen Bewegungen. „Die Wiederkehr utopischer, situationistischer und radikal kulturkritischer Motive (…) verdient mehr Aufmerksamkeit“, so der Bewegungsforscher (ebd.). Doch je genauer man sich die einzelnen Protestbewegungen anschaut, desto spezifischer erscheinen die Kontexte und Konstellationen, und desto vorsichtiger möchte man übergreifende Thesen in Bezug auf mögliche Zusammenhänge formulieren.[2]
Vor diesem Hintergrund möchte ich mich hier mit einem Leitmotiv der Proteste der vergangenen Jahre auseinandersetzen, das von vielen BeobachterInnen hervorgehoben, aber selten weiter theoretisiert wird: mit der enormen Präsenz der unterschiedlichen Bewegungen im öffentlichen Stadtraum. Denn viele der Protestbewegungen sind auffällig eng mit spezifischen städtischen Orten, meist mit einem zentralen öffentlichen Platz verbunden: Tahrir Square in Kairo, Wallstreet in New York, Rothschild Boulevard in Tel Aviv, Puerta del Sol in Madrid, Gezi-Park in Istanbul, oder auch – wenn man an die jüngsten Flüchtlingsproteste in Deutschland denkt – der Oranienplatz in Berlin.
Dabei soll hier nicht argumentiert werden, dass die Strategie der Besetzung und Aneignung öffentlicher Straßen, Plätze, Gebäude und Parks neu wäre. Denn das ist sie sicher nicht. Bereits 1969 stellte der Sozialhistoriker Eric Hobsbawm fest, dass Städte stets Orte gewesen sind, an denen die marginalisierte Bevölkerung sich mit „Demonstrationen, Revolten und Aufständen“ gegen die herrschende Klasse wandte (Hobsbawm 1969: 111). Vielmehr sollen die an unterschiedlichsten Orten zu beobachtenden Platzbesetzungen und städtischen Unruhen zum Anlass genommen werden, darüber nachzudenken, ob eine wichtige Gemeinsamkeit aktueller Proteste vielleicht gerade in ihrer urbanen Dimension zu suchen ist: Die unterschiedlichen Dimensionen neoliberaler Politik – die Aushöhlung demokratischer Rechte, der Abbau sozialstaatlicher Sicherungssysteme, die Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen, die Privatisierung und Kommodifizierung öffentlicher Güter usw. – manifestieren sich insbesondere im städtischen Raum.[3] Infolgedessen werden soziale Polarisierungen in den Städten zum Auslöser für Mobilisierungen; AktivistInnen greifen in unterschiedlichsten Kontexten auf urbane Protestrepertoirs zurück, die von Platz- und Gebäudebesetzungen über Protestcamps und Nachbarschaftsinitiativen bis zu Aktionsbündnissen gegen Zwangsräumungen und Hypothekenüberschuldungen reichen. Eine wichtige Rolle spielen darüber hinaus autoritäre und post-politische Konstellationen, in denen demokratische Formen der politischen Beteiligung derart unterdrückt oder ausgehöhlt wurden, dass der Unmut breiter Bevölkerungsschichten sich nun sprichwörtlich ‘auf der Straße’ entlädt.
Im Folgenden soll zunächst ein kurzer Einblick in die Debatten innerhalb der Stadtforschung gegeben werden, die sich mit dem systematischen und historischen Zusammenhang zwischen kapitalistischer Entwicklung, Prozessen der Urbanisierung und sozialen Widerständen befassen. Im Anschluss daran diskutiere ich Neoliberalisierung und Austeritätspolitik als strukturellen Hintergrund für die aktuellen Proteste. Danach fokussiere ich auf urbane Protestrepertoires, um abschließend auf die je spezifischen Akteurskonstellationen einzugehen. Kursorische Bezüge zu unterschiedlichen Protesten sollen das theoretische Argument plausibel machen und illustrieren. Den Anspruch, den urbanen Charakter aktueller Krisenproteste im globalen Kontext empirisch und im Detail nachzuweisen, kann und will ich freilich nicht erheben.
Kapitalismus, Urbanisierung und soziale Widerstände
Eine Auseinandersetzung mit der Besetzung öffentlicher Plätze und Parks sollte mit dem Hinweis darauf beginnen, dass die Herausbildung der öffentlichen und d.h. vor allem auch der politischen Sphäre im modernen Sinne untrennbar mit dem Prozess der Urbanisierung zusammenhängt. Für die moderne Bedeutung von Öffentlichkeit sind zunächst zwei Bedeutungsschwellen zentral (Hölscher 1975: 413): Im Laufe des 17. Jahrhunderts nahm „öffentlich“ infolge der Ausbildung des modernen Staatsrechts die Bedeutung von „staatlich“ an. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bekam „öffentlich“ mit der Herausbildung eines „räsonierenden Publikums“ (Habermas) die Bedeutung eines staatsfernen und kritischen Diskursraumes. Dieser materialisierte sich, wie Richard Sennet in seiner großen historischen Erzählung The Fall of Public Man eindrucksvoll zeigt, vor allem im Alltag des Stadtlebens, also auf öffentlichen Plätzen, Parks und Straßen, in Theatern und Salons (Sennett 2002), sowie an gegenhegemonialen Orten der proletarischen Öffentlichkeit (Negt/Kluge 1972). Systematisch wurde der Zusammenhang zwischen Öffentlichkeit und Stadtraum vor allem von dem Soziologen Hans-Paul Bahrdt bearbeitet (Herlyn 1998). Ähnlich wie schon Georg Simmel (1903) argumentiert er, dass die auf Handel, Tausch und Marktbeziehungen basierende Stadtökonomie zu einer ‘unvollständigen sozialen Integration’ der (Stadt-)BewohnerInnen führt. Das wiederum bildet überhaupt erst die Voraussetzung für soziale Distanz und Heterogenität, versachlichte Interaktionen und schließlich die Entstehung von Öffentlichkeit. Mit Blick auf den historischen Prozess der Entstehung zentralisierter Territorialstaaten gilt es hinzuzufügen, dass es meist Großstädte sind, in denen die regionalen und nationalen politischen Institutionen und symbolischen Repräsentationen von Macht und Herrschaft physisch präsent sind: Parlamente, Regierungssitze, Präsidentenpaläste oder auch nationale und internationale Unternehmen. Diese stellen bis heute die zentralen (geografischen und symbolischen) Orte dar, an denen politische Forderungen ‘von unten’ an die gesellschaftlichen Eliten adressiert werden.
Aus einer Perspektive der politischen Ökonomie lässt sich darüber hinaus eine enge Verbindung zwischen kapitalistischer Entwicklung und Prozessen der Urbanisierung konstatieren. David Harvey zeigt in seinen Arbeiten, dass „Städte als Form der räumlichen Konzentration des gesellschaftlichen Mehrprodukts (…) sowie als physisch-materielle und soziale Knotenpunkte für die Zirkulation dieses (Waren-)Überschusses im Raum“ fungieren (Wiegand 2014: 32). In Momenten kapitalistischer Krise kommt der gebauten Umwelt zudem die Funktion eines ‘sekundären Kapitalkreislaufs’ zu (vgl. Harvey 2013: 7ff.): Findet das Kapital im Bereich der Produktion von ‘normalen’ Waren, die ihren Wert schnell realisieren müssen (primärer Kapitalkreislauf), auf Grund von Überakkumulation keine rentablen Anlagemöglichkeiten, fließt es – oftmals durch staatliche Infrastrukturnachfrage stimuliert – in die Stadtentwicklung und den Immobiliensektor. Dies reicht von großen öffentlichen Bauprojekten bis zum privaten Eigenheimbau (Harvey 1982). Diese Dynamik ist seit den 1980er Jahren mit der Vermittlung von Investitionen in den Städtebau durch internationale Finanzmarktinstrumente noch einmal rasant beschleunigt und zugleich auch erheblich destabilisiert worden. In den USA führte dies 2007/2008 zum Zusammenbruch zentraler Finanzmarktplayer auf dem Sektor des schuldenfinanzierten Wohnungsbaus (Gotham 2009).
Folgt man Harveys Argument, dann produziert Urbanisierung im Sinne einer spezifischen Verwertungsdynamik des Kapitals immer auch Klassenwidersprüche, gesellschaftliche Konflikte und soziale Proteste. Marxistische Stadtforscher wie Manuel Castells, Henri Lefebvre oder eben David Harvey haben ihren Blick daher bereits in den 1960er und 1970er Jahren auf den Stadtraum und auf urbane Widerstandspraktiken als Ausdruck kapitalistischer Vergesellschaftung gerichtet (für einen Überblick über diese Debatten siehe Holm 2014). Im Gegensatz übrigens zur Bewegungsforschung, für die Raum oder Stadtraum bis heute kaum eine relevante Kategorie darstellt. Mit diesen theoretischen Vorüberlegungen soll im Folgenden der Blick auf den globalen Krisen- und Protestzyklus der vergangenen Jahre gerichtet werden, bzw. auf die spezifisch urbanen Dynamiken.
Neoliberalisierung, Austerität und Krise in der Stadt
Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat in Kooperation mit der Columbia University in New York in einer Studie im Zeitraum von 2006 bis 2013 insgesamt 843 Protestereignisse in 87 Ländern untersucht (Ortiz et al. 2013). Über die Hälfte der in der Studie erfassten Proteste richten sich explizit gegen Strukturanpassungs- und Austeritätspolitiken. Diese Politiken betreffen den globalen Norden wie Süden gleichermaßen, auch wenn sie sich lokal, national und sozial unterschiedlich artikulieren. Die bis heute umfangreichste Studie über „Austeritätsproteste“ wurde Anfang der 1990er Jahre von John Walton und David Seddon angefertigt. Darin beschreiben die Autoren diese als „large-scale collective actions including political demonstrations, general strikes, and riots, which are animated by grievances over state policies of economic liberalization, implemented in response to the debt crisis and market reforms urged by international agencies“ (Walton/Seddon 1994: 39). Diese Definition schließt unterschiedliche Protestformen und -repertoires institutionalisierter und nicht institutionalisierter Akteure ein, was auch für den gegenwärtigen Protestzyklus sinnvoll und wichtig erscheint, wie im Folgenden deutlich werden soll. Einen direkten Bezug auf Städte weist die Definition zunächst nicht auf.[4] Dennoch soll hier argumentiert werden, dass es kein Zufall ist, dass viele der aktuellen Austeritätsproteste sich auf Städte konzentrieren und dabei die Besetzung zentraler Orte, oft Plätze oder Parks, zu den geteilten und (medien-)wirksamsten Formen des Protests zählt. Denn Städte bzw. Urbanisierungsprozesse haben in den vergangenen Jahrzehnten eine zentrale Rolle im Prozess der Neoliberalisierung gespielt. Die Auswirkungen rigider Spar- und Umverteilungspolitiken sind oft in besonderem Maße auf städtische Räume gerichtet bzw. werden von der nationalen Ebene ‘nach unten’ an die Stadt- und Lokalpolitik weitergegeben. Von den oftmals massiven Entlassungen und Mittelkürzungen im öffentlichen Dienst sind vor allem urbane Mittelschichten wie LehrerInnen, SozialarbeiterInnen, Angestellte im Gesundheitswesen und in den Verwaltungen wie auch Lehrende und Studierende an den Hochschulen betroffen. Der Abbau und die Privatisierung städtischer Infrastruktur, etwa im öffentlichen Nahverkehr, im Bildungsbereich und im Gesundheitswesen, trifft insbesondere sozial marginalisierte städtische Bevölkerungsgruppen. Und auch die massenhafte Überschuldung von HausbesitzerInnen, gefolgt von Zwangsräumungen und Verdrängungsprozessen bis hin zur Obdachlosigkeit, ist vor allem ein (sub-)urbanes Phänomen.
In einer Untersuchung der US-amerikanischen Krisenpolitik, die auf den Wall-Street-Crash von 2008 folgte und den spezifischen Rahmen für den Ausbruch der Occupy-Proteste bildete, kommt Jamie Peck (2012) daher zu dem Ergebnis, dass die Stadt- und Kommunalpolitik als zentrales Moment für die Durchsetzung des Austeritätsdogmas angesehen werden muss (vgl. Mayer 2011a). Neoliberale Austeritätspolitiken sind sowohl in sozialer als auch in skalarer Hinsicht ‘nach unten’ gerichtet, so Peck. Lokalpolitische Finanzrestriktionen werden auf dem Wege extralokaler Disziplinierungsmechanismen unnachgiebig durchgesetzt und die dabei entstehenden sozialen und ökologischen Kosten auf die Städte und Kommunen abgewälzt. Ökonomische Marginalisierung kombiniert mit einem Rückzug des Staates führen zur Konzentration der Lasten am unteren Ende der sozialen Hierarchie (Peck 2012: 650f.). Margit Mayer (2011a: 260f.) schildert die drastischen Auswirkungen dieser Politik, die seit der Finanzkrise von 2008 in US-amerikanischen Städten und Gemeinden zu beobachten sind: Die Städte schließen
‘entbehrliche’ öffentliche Einrichtungen, kürzen ihnen obliegende soziale Dienstleistungen, erhöhen kommunale Gebühren (…); der Thermostat in den Behörden wird auf niedrigere Temperaturen eingestellt, alte Polizeiautos im Internet zum Verkauf angeboten, Gefängnisangestellte in unbezahlten Urlaub geschickt; in den Rathäusern wird die Vier-Tage-Woche eingeführt; die Preise für den öffentlichen Nahverkehr in St . Louis, Boston, Atlanta, und San Francisco wurden erhöht und gleichzeitig das Angebot verringert. (…) [A]llein im September 2010 wurden 76.000 Angestellte im öffentlichen Sektor entlassen, zwei Drittel davon an Schulen. (…) Viele öffentliche Einrichtungen werden ganz geschlossen: Bibliotheken, Sport- und kulturelle Einrichtungen, Angebote für Jugendliche wie Ältere. Sogar Polizisten werden entlassen (in Newark 13% der Polizeikräfte) und Feuerwehren geschlossen. (…) Maywood, eine 50.000-Einwohner-Stadt südöstlich von Los Angeles, hat sämtliche städtischen Angestellten entlassen und alle Aufgaben an Private und Nachbarkommunen vergeben.
Auch in Europa haben Austeritätspolitiken, die der Euro-Krise auf dem Fuße folgten, speziell für die urbane Bevölkerung zu heftigen Exklusionserfahrungen geführt. Besonders krass sind die Auswirkungen der EU-Troikapolitik in Griechenland zu spüren. In Athen, wo fast die Hälfte der elf Millionen EinwohnerInnen des Landes leben, sind die Entbehrungen dermaßen dramatisch geworden, dass tausende vor allem junger GriechInnen entweder in ländliche Regionen abwandern oder gleich ganz ins Ausland migrieren (vgl. Smith 2011). In Spanien wurde die Wirtschaft in den 1990er und frühen 2000er Jahren (unter anderem im Zuge des EU-Beitritts) extrem stark auf den Bau- und Immobiliensektor ausgerichtet und geriet ab 2006 auf Grund der Krise des Immobiliensektors an den Rand des Zusammenbruchs (López/Rodríguez 2012). 2011 führte dies unter anderem zur Entstehung der Protestbewegung der Indignados bzw. M15. In Israel, einem weiteren ‘neoliberalen Vorzeigeschüler’, entzündeten sich die Proteste im Sommer 2011 zunächst an der Prekarisierung der Lebensbedingungen in Tel Aviv, vor allem an dem mangelnden Schutz für MieterInnen, den explodierenden Kosten für Wohnraum und Lebensmittel bei gleichzeitiger Entsicherung der (Lohn-)Arbeit und dem Abbau der sozialen Sicherungssysteme (Eizenberg 2011, vgl. Sebastian Schipper in dieser Ausgabe).
Auch viele arabische Länder durchliefen in den vergangenen Jahrzehnten einen Prozess tiefgreifender Neoliberalisierung, der wiederum mit gravierenden sozialen Polarisierungen in den Städten einherging. „Mit der schrittweisen Implementierung der Strukturanpassungsprogramme im Nahen Osten und in Nordafrika in den 1990er Jahren zogen sich die ehemals volksnahen und sozialistischen Staaten zunehmend aus der öffentlichen Versorgung und der kollektiven Wohlfahrt zurück“, stellt etwa Asef Bayat (2014: 79) fest.
Bayat spricht in diesem Zusammenhang von der Entstehung der „nach außen gekehrten Stadt“: Die Informalisierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, die Kommodifizierung des Stadtraums und die Vernachlässigung des sozialen Wohnungsbaus treiben Millionen von Marginalisierten buchstäblich auf die Straße. Der öffentliche Raum wird zu einem „unabdingbaren Vermögenswert, zum Kapital für Menschen, um zu überleben, zu handeln und sich zu reproduzieren. (…) Wenn man mitten an einem Arbeitstag durch die Straßen von Kairo, Teheran oder Amman schlendert, ist die überwältigende Präsenz so vieler Menschen, die auf den Straßen ihren Geschäften nachgehen, kaum zu übersehen: sie arbeiten, stehen, sitzen, rennen herum, verhandeln oder fahren.“ (Ebd.: 81)
Hand in Hand mit der Neoliberalisierung arabischer Städte ging oftmals eine Verschärfung autoritärer politischer Strukturen auf nationaler Ebene einher. In der Folge begann der „authoritarian populist social contract“ (Omar Dahi), der viele arabische Gesellschaften zusammengehalten hatte, ab den 1990er Jahren zu bröckeln. Denn materielle (Um-)Verteilungsspielräume wurden immer kleiner, ohne dass dabei demokratische Zugeständnisse gemacht wurden.[5] In den späten 2000er Jahren waren die arabischen Staaten „faktisch zu Oligarchien mit einer isolierten und verhassten herrschenden Elite“ geworden (Dahi 2011: 6).
Anders als der Mainstream der westlichen Medienberichterstattung, in der die Proteste in den arabischen Ländern vor allem als Demokratiebewegungen bzw. im Kontext religiöser Bewegungen und sogenannter ethnischer Konflikte behandelt wurden, stellen Autoren wie Asef Bayat (2014), Omar S. Dahi (2011) oder Jörg Gretel (2014) die aktuellen Umbruchprozesse in den arabischen Ländern daher explizit in den polit-ökonomischen Kontext globaler Strategien der Neoliberalisierung.
Dabei stellen sie insbesondere auch auf die urbane Dimension von Krise und Protest ab. In Kairo etwa gilt das historische Viertel Bulaq im Zentrum der Stadt und in unmittelbarer Nachbarschaft zum Tahrir Square seit vielen Jahren als höchst umkämpft. Im Rahmen des Stadterneuerungsprojekts Cairo 2050 sollte hier unter der Regierung Mubarak eine international attraktive Geschäfts- und Tourismuszone entstehen. Die lokale Bevölkerung sollte dazu in periphere Satellitenstädte umgesiedelt und die historische Bebauung abgerissen werden (Sharp 2012; ausführlich zur Stadtenwicklung in Kairo vgl. Sims 2010). Der Stadtforscher und Nahost-Experte Deen Sharp (2012: 4) stellt fest, dass lokale Konflikte wie dieser im Januar 2011 eine zentrale Rolle bei der schnellen und massenhaften Mobilisierung gegen das Mubarak-Regime gespielt hätten. Bei den Demonstrationen zum Tahrir Square, und bei dessen Besetzung, sei es das „non-movement“ der von Verdrängung und Enteignung bedrohten „urban poor“ gewesen, das in der ersten Reihe lief.
Ein ähnliches Muster konnte bei den Gezi-Protesten im Sommer 2013 in Istanbul beobachtet werden. Dort begannen die landesweiten Unruhen und Proteste gegen die AKP-Regierung zunächst mit einem stadtpolitischen Konflikt um die geplante Bebauung des zentral gelegenen Gezi-Parks. Dieser wiederum hatte seine hohe symbolische Bedeutung im Kontext der neoliberalen Stadtpolitik in Istanbul und speziell im Zuge der massiven und gezielten Aufwertungs- und Stadterneuerungsprozesse im historischen Stadtteil Beyoğlu erlangt. Binnen kürzester Zeit weiteten sich die lokalen Proteste am Gezi-Park thematisch und geographisch aus und wurden zu einer Plattform für breite politische Widerstände gegen die Regierung von Recep Tayyip Erdoğan. Die stadtpolitischen und lokal fokussierten Proteste verschmolzen dabei mit der angestauten Wut über die wertkonservative, religiöse und autoritäre Ausrichtung der AKP (Babacan 2013).
Allerdings entzündeten sich die Proteste in Istanbul weniger an austeritätspolitischen Maßnahmen. Das türkische Wachstumsmodell setzt im Urbanisierungsprozess auf die staatliche Förderung privaten Kapitals, was in der Bosperusmetropole zu brachialen Stadterneuerungsprojekten, zur Schaffung von Luxusenklaven und zu sozialer Verdrängung führt. In diesem Sinne stellen die in vielen Ländern unter dem Austeritätsparadigma zu beobachtenden Kürzungen im Sozialbereich zwar die eine Seite der ‘Krisenmedaille’ dar. Aber auch in Städten wie Istanbul, die eine expansive Phase durchleben, erhöht sich der ökonomische Druck, sich im interurbanen Wettbewerb als attraktiver Investitionsstandort zu behaupten, und die öffentlichen Mittel für die Wirtschaftsförderung auszugeben. Die sozialen Spaltungen in den Städten sind also keinesfalls nur kriseninduziert, sondern gehören vielmehr zu einem Strukturmerkmal postfordistischer Stadtpolitik (Harvey 1989; Mayer 1994).
Der Protest auf der Straße
Im Zeitraum von 2006 bis 2012 stellten Demonstrationen die häufigste Form des Protests dar, so die bereits zitierte Studie der Friedrich-Ebert Stiftung und der Columbia University. Oft waren sie eingebunden in ein Protestgefüge, das auch Aktionen des zivilen Ungehorsams und direkte Aktionen wie Straßenblockaden und Besetzungen von öffentlichen Plätzen einschloss (Ortiz, et al. 2013). Von den 843 ausgewerteten Protestereignissen ordnet die Studie 219 der Kategorie ‘Besetzung eines öffentlichen Platzes’ zu, also über ein Viertel (ebd.). Der Protestforscher Roland Roth zählte im Frühjahr 2011 „weltweit in 706 Städten acampadas“ (Roth 2012: 23) und stellte fest, dass sich ihre Zahl und thematische Vielfalt mit den Occupy-Protesten noch einmal deutlich gesteigert haben dürften (ebd.). Und Sebastian Schipper berichtet (in dieser Ausgabe), dass israelische AktivistInnen allein im Sommer 2011 mehr als 60 Zeltstädte auf Straßen und Plätzen errichteten, Großdemonstrationen mit bis zu 500.000 TeilnehmerInnen organisierten und sich auf dem Protesthöhepunkt im September 2011 etwa zehn Prozent der erwachsenen Bevölkerung an landesweiten Kundgebungen beteiligten.
In der Stadtforschung wurde die Bedeutung städtischer Proteste in den vergangenen Jahren vor allem im Rahmen der Right-to-the-City-Debatte diskutiert (Mayer 2011b). Nachdem es hier lange Zeit um das Recht auf Stadt im engeren Sinne ging (also: Proteste gegen Gentrifizierung, Stadterneuerung, Privatisierung öffentlicher Räume, etc.), haben Walter Nicholls und Floris Vermeulen (2012) jüngst mit dem Begriff Right through the City experimentiert und stellen damit explizit auf Proteste ab, die sich nicht auf urbane Problemlagen beschränken. Dabei spielen lokale Konflikte eine wichtige Rolle. Doch haben sie politische und rechtliche Implikationen weit über die Grenzen der Stadt hinaus, was in den betreffenden Protesten wiederum deutlich artikuliert wird.
In diesem Sinne speisen sich Right-through-the-City-Proteste zwar aus urbanen Netzwerken, Institutionen und Akteurskonstellationen, sind jedoch eng mit anderen Politikebenen verschränkt. Vor allem mobilisieren sie für eine Agenda von regionaler, nationaler oder gar globaler Bedeutung. Dabei erweist sich der Stadtraum mit seinem dichten und heterogenen Geflecht an Initiativen und Organisationen, mit ‘kurzen Wegen’ und der Möglichkeit zur Face-to-Face-Kommunikation gerade für schwach institutionalisierte und ressourcenarme Akteure sowie für die Entstehung neuer Netzwerke und Bündnisse als höchst funktional. In den Großstädten findet sich zudem die ‘kritische Masse’, die es für eine erfolgreiche Mobilisierung benötigt, und die symbolischen und historisch-umkämpften Orte (wie Regierungspaläste, Parlamente oder spezifische Erinnerungsorte), an denen Protest öffentlichkeitswirksam werden kann.
Im aktuellen Protestzyklus wurden Proteste zudem oft massenmedial inszeniert, mit sofortiger und globaler Verbreitung wirkmächtiger Bilder, bzw. von den AktivistInnen durch die Nutzung partizipativer Medien wie Indymedia und leicht zugänglicher Technologien wie dem Handy-Foto selbst inszeniert. Welche Rolle Soziale Medien und vor allem das Internet für die Organisierung und Mobilisierung von Protesten gespielt haben – ob deren Nutzung der Status einer zentralen Proteststrategie zukommt (siehe etwa AlSayyad/Guvenc 2013) oder ob sie eher als eine von vielen Kommunikationsformen eingeschätzt werden muss, die den klassischen Aktivismus unterstützen (siehe etwa Aouragh 2012) – bleibt freilich umstritten. Der aktuelle Protestzyklus hat jedoch deutlich gemacht, dass die neuen Technologien die Funktion der Stadt als Bühne und Protestressource erheblich steigern können; dass sie in der Lage sind, die regionale oder gar globale Bedeutung lokaler Kämpfe im Kontext von Right-through-the-City-Protesten schnell und bildgewaltig zu vermitteln.
Im Gegensatz zu ländlichen Protesten, wo Überlandstraßen, Schienentrassen, Bergbau-Unternehmen und Landwirtschaftsbetriebe oft komplett blockiert werden können, beziehen urbane Proteste in den rhizomartigen Netzwerken der Stadt ihre Stärke eher aus ihrer (nicht weniger effektiven) symbolischen Wirkung. Eine Platzbesetzung legt keine Stadt lahm – aber sie sorgt für immense politische Unruhe und Aufmerksamkeit. Ähnliches gilt auch für urbane Aufstände – kurz: Riots –, wie jüngst in London, Manchester, Stockholm oder auch in den Pariser Banlieues (zum politischen Charakter urbaner Aufstände vgl. Bareis/Bojadzijev 2010). Auch diese beziehen ihr politisches Drohpotenzial weniger aus dem materiellen Schaden, den sie gegebenenfalls anrichten, sondern aus dem kollektiven und öffentlich aufgeführten Bruch mit dem Rechts- und Eigentumsregime und der Missachtung des staatlichen Gewaltmonopols. Riots brechen mit den gesellschaftlich und politisch etablierten und akzeptierten Institutionen von Protest, in denen formell und informell geregelt ist, wer welche Forderungen in welcher Form (d.h. auch unter Rückgriff auf welche Protestrepertoires) artikulieren darf (vgl. Liebig 2014): Gewerkschaften dagegen verhandeln mit Arbeitgeberverbänden und streiken innerhalb des vorgegebenen gesetzlichen Rahmens, wenn sie ihre Ziele in den Verhandlungen nicht erreichen; NGOs organisieren Petitionen und Demonstrationen und bewegen sich dabei meist im Rahmen des jeweiligen Versammlungsrechts bzw. berufen sich auf das Recht auf freie Meinungsäußerung.
Die Konsequenzen, die ein solcher Regelbruch im Hinblick auf die Veränderung gesellschaftlich-politischer Diskurse und die Reaktionen staatlicher Akteure nach sich zieht, können freilich sehr unterschiedlich sein. Denn die diskursive Delegitimierung von Protest und die Stärkung von Law-and-Order-Argumenten auf der einen Seite und die Thematisierung sozioökonomischer und sozialräumlicher Ungleichheit und die Repräsentation marginalisierter Gruppen auf der anderen Seite sind gesellschaftlich umkämpft. Häufig antworten nationale wie lokale Regierungen und Sicherheitskräfte mit ‘hartem Durchgreifen’ und der gewaltsamen Niederschlagung von Protest. In anderen Fällen kommt es jedoch auch zu Zugeständnissen seitens der gesellschaftlichen Eliten. So gehen Regierungen unter anderem auf die Forderungen von Gewerkschaften und anderen organisierten zivilgesellschaftlichen Gruppen ein, weil sie im Moment der Krise in ihnen zumindest VerhandlungspartnerInnen erkennen (vgl. Engels 2013). Politischer Protest funktioniert dann ‘arbeitsteilig’ zwischen radikalen versus reformerischen/stark organisierten versus bewegungsorientierten/kompromisslosen versus verhandlungsbereiten Gruppen – auch wenn das von den beteiligten und oftmals rivalisierenden Akteuren nicht so intendiert sein muss.
Für Engin Isin (2009) ist in diesem Kontext der Begriff der (verweigerten) ‘Bürgerschaft’ zentral. Das ‘öffentliche Sprechen’ der AktivistInnen – also die Benennung politischer Probleme oder die Artikulation von Forderungen durch Proteste – muss mit einem politischen und performativen Akt einhergehen, der die herrschende Ordnung stört, der nicht einfach ignoriert werden kann. Denn ‘die Ausgeschlossenen’ müssen sich überhaupt erst wieder einen Platz im öffentlichen Diskurs erkämpfen. Genau das findet bei der Besetzung eines öffentlichen Platzes oder auch bei Riots unmittelbar und sehr materiell statt. Isins Figur des ‘Activist Citizen’ bezieht seine Legitimität dabei – im Sinne Hannah Arendts – aus dem ‘Recht, Rechte zu haben’. Den Moment des ‘Rechte-nehmens’ beschreibt Engin Isin als ‘act’, in dem sich Subjekte selbst faktisch zu BürgerInnen machen. Das Besondere an Isins Begriff des ‘act’ ist also, dass er sich vom ‘bürgerlichen Protest’ gerade durch den Bruch mit der bestehenden Ordnung unterscheidet. Die Subjekte halten sich nicht an ein vorgesehenes Skript, sondern konstituieren den (ihnen verweigerten) BürgerInnenstatus, indem sie sich der (sie ausschließenden und marginalisierenden) Ordnung verweigern (vgl. Hess/Lebuhn 2014).
Vor diesem Hintergrund verweist das Phänomen der öffentlichen Platzbesetzung und der Errichtung aktivistischer Camps auf Plätzen und Boulevards wie in Tel Aviv, New York, Athen, in Kairo oder auch in Istanbul darauf, dass es sich bei den aktuellen Protesten um Reaktionen auf eine politische Krise handelt, in der etablierte Formen demokratischer Beteiligung und Partizipation blockiert sind (und nicht ‘nur’ auf eine Wirtschaftskrise). Die ökonomische Exklusion geht Hand in Hand mit politischer Exklusion, mit massenhafter Erfahrung der Machtlosigkeit. Insbesondere in der Tarif- und in der Beschäftigungspolitik wurden tripartistische und korporatistische Verhandlungsstrukturen im Zuge neoliberaler Reformen gezielt ausgehöhlt und abgebaut. Die für den Fordismus typische (temporäre) Befriedung von Klassenkonflikten wurde damit tendenziell unmöglich gemacht. Besonders deutlich wurde dies bei den Massenprotesten im US-Bundesstaat Wisconsin im Vorfeld der Occupy-Bewegung. Dort hatte der republikanische Gouverneur Scott Walker im Februar 2011 mit dem sogenannten Wisconsin budget repair bill einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der nicht nur massive Kürzungen bei den Sozialleistungen für Staatsbedienstete vorsah, sondern mit dem auch starke Einschränkungen im Tarifrecht durchgesetzt werden sollten (Krätke 2011). In der Folge zog Walkers Gesetzesinitiative monatelange politische Konflikte inklusive einer Besetzung des Kapitols von Wisconsin und öffentliche Massenproteste mit bis zu 100.000 DemonstrantInnen nach sich.
Auch in anderen Ländern und Regionen spielten Konflikte mit Gewerkschaften bzw. gewerkschaftliche Mobilisierungen und Streiks eine wichtige Rolle, etwa bei den Generalstreiks in Griechenland und Italien, dem Streik in der Textilindustrie im ägyptischen Mahalla-al-Kubra oder auch beim Streik der BergarbeiterInnen im tunesischen Ghafsa (vgl. den Beitrag von Torsten Bewernitz in dieser Ausgabe; speziell zur Rolle der Gewerkschaften im arabischen Frühling vgl. Schmidinger 2013). Charakteristisch war aber auch dort, dass die Arbeitskämpfe meist in breitere Bündnisse und Proteste eingebettet und mit anderen Protestformen kombiniert waren. Von den politischen Eliten konnten sie daher gerade nicht als Auseinandersetzungen in einzelnen Unternehmen oder bestimmte Branchen gerahmt und eingedämmt werden, sondern entwickelten sich als Teil breiter politischer Proteste.
Akteure, Konstellationen, Kollektivitäten
Wie oben deutlich geworden sein sollte, waren langjährig aufgebaute politische Strukturen wie Gewerkschaften, politische Initiativen und Nachbarschaftszentren im aktuellen Protestzyklus von großer Bedeutung. In den arabischen Ländern gehörten religiöse Bewegungen zu den zentralen Einflussgrößen; und auch in europäischen Ländern engagierten sich in vielen Städten progressive und sozial engagierte Kirchengemeinden im Rahmen von Occupy- und Flüchtlingsprotesten.[6] Gerade die öffentlichen Massenproteste rekrutierten sich dabei aus einem sehr heterogenen Spektrum. So schloss das Profil der DemonstrantInnen in unterschiedlichen regionalen Kontexten sowohl Angehörige sozial marginalisierter Gruppen als auch Mittelschichtsangehörige, Jugendliche und SeniorInnen sowie AktivistInnen mit und ohne Organisationshintergrund ein (Ortiz, et al. 2013). Im Hinblick auf Akteurskonstellationen zeichnete sich der aktuelle Protestzyklus also – bei aller Vorsicht vor generalisierenden Aussagen über Bewegungsakteure und -konstellationen – durch seine soziale Breite (die berühmten 99 Prozent der US-amerikanischen Occupy-Bewegung) und darüber hinaus durch das Zusammenspiel zwischen stark und schwach institutionalisierten Akteuren aus.
Eine zentrale Rolle spielten in diesem Kontext die in vielen Städten aus Platzbesetzungen entstandenen Protestcamps. Sie boten gerade für Protestierende, die keiner politischen Organisation angehörten, eine Anlaufstelle. Sie schafften Zeit und Raum für gemeinsame Diskussionen, Bündnispolitik und einen Verständigungsprozess zwischen Individuen und Gruppen, die ansonsten keine gemeinsame Politik machen oder sogar miteinander rivalisieren. Und sie schufen einen materiellen Erfahrungsraum für Kollektivität und Solidarität – ein in Zeiten neoliberaler Individualisierungsprozesse wohl kaum zu unterschätzender Aspekt (vgl. Dario Azzelini in dieser Ausgabe). So beschreibt Heiko Niebur in seiner Studie über die Gezi-Proteste, dass dort unter anderem KurdInnen und KemalistInnen, rivalisierende Fangruppen der drei großen Fußballvereine Istanbuls sowie antikapitalistische MuslimInnen und LGBT-AktivistInnen gemeinsam protestierten (Niebur 2014: 24). Unter Rückgriff auf Henri Lefebvres Raumtheorie bezeichnet Niebur das Protestcamp im Gezi-Park daher als ‘Heterotopie’ (Lefebvre 1972), als „einen Gegenraum, der schon im Hier und Jetzt auf das ‘Mehr‘ des urbanen Versprechens verweist“, als gelebte und kollektive Widerstandspraxis, gewachsen aus „den Begehren, aus den Erfahrungen und Wünschen der Menschen im Alltag.“ (Niebur 2014: 27) Ähnlich argumentieren Peter Mortenböck und Helge Mooshammer in ihrem Buch über die Occupy-Bewegung:
Die Camps der Occupy-Bewegung, mit ihren improvisierten Foren, Ritualen, Rhythmen und Architekturen, gleichen in dieser Linie einer Politik, in der das Produzierte stets ein Potential für eine Reihe weiterer Bewegungen und Erscheinungen ist. Die kollektive Artikulation des Lagers in den vielen Versammlungen, Hilfeleistungen, gemeinsam organisierten Events und Planungen der Occupy-Bewegung ist so ein fortlaufender Prozess, in dem die Möglichkeit einer sozialen und politischen Bewegung des 21. Jahrhunderts ergründet wird. (Mörtenböck/Mooshammer 2012: 51)
Was hier als Stärke der Protestcamps hervorgehoben wird, nämlich ihre Offenheit und Fluidität, erweist sich im Hinblick auf eine Verstetigung der Proteste allerdings gerade als Schwäche. Denn die Camps korrespondieren eher mit der Figur der „temporären autonomen Zone“ (Bey 2003), als dass sie dauerhafte politische und organisatorische Strukturen für den langwierigen Kampf um die Hegemonie radikaler Gesellschaftskritik und utopischer Gegenentwürfe schaffen würden. Politisch ist daher vor allem auch die Frage nach dem Verhältnis schwach institutionalisierter Akteure, Netzwerke und ‘non-movements’ zu etablierten Bewegungsakteuren, politischen Parteien und Organisationen zentral (ausführlich dazu Candeias/Völpel 2014). Welchen Einfluss haben Kooperation und Austausch auf die Rolle und das Selbstverständnis ‘traditioneller’ Protestakteure? Was kommt nach den Straßenprotesten und Platzbesetzungen? Entstehen neue Formen von Organisation und Protest?
Für den spanischen Fall stellen Nikolai Huke und Olaf Tietje (in diesem Heft) in diesem Zusammenhang fest, dass die breiten und konfrontativen Proteste „auf der Straße“ einerseits die Legitimität der Gewerkschaften, bzw. ihren Anspruch auf die Interessenvertretung der ArbeitnehmerInnen geschwächt hätten. Andererseits beinhalteten die basisdemokratischen Ansprüche und unkonventionellen Proteststrategien der 15M-Bewegung aber auch ein starkes Erneuerungspotential für die etablierten Bewegungsakteure. Vor allem bei den kleineren und regionalen Gewerkschaften, wie zum Beispiel der andalusischen SAT[7], ließen sich im Gefolge der Krisenproteste neue und bewegungsnahe Praxisansätze beobachten (siehe den Beitrag von Nikolai Huke und Olaf Tietje in dieser Ausgabe).
Auch zwischen Bewegungen und Parteien haben sich im Anschluss an die Massenproteste in vielen Ländern neue Annäherungsprozesse entwickelt – trotz der oftmals expliziten Distanz vieler Protestbewegungen zu den etablierten politischen Akteuren und Formen der repräsentativen Politik. So wurde im Frühjahr 2014 aus Teilen der spanischen M15-Bewegung heraus die linke Partei Podemos („Wir können!“) gegründet. Nur wenige Wochen nach ihrer offiziellen Gründung erreichte sie bei den Europawahlen 7,97 Prozent der Stimmen und insgesamt 54 Parlamentssitze. Damit fuhr sie das viertbeste Stimmenergebnis unter den politischen Kräften Spaniens ein. In Israel traten prominente AktivistInnen bereits kurz nach dem Höhepunkt der Massenproteste als KandidatInnen für die Knesset-Wahlen an und fungieren mittlerweile als Abgeordnete der Arbeitspartei.[8] Sebastian Schipper argumentiert jedoch, dass dies eher zu einer Schwächung und Spaltung der israelischen Protestbewegung beigetragen hätte, als zu einer erfolgreichen Transmission der sozialen Forderungen vom Sommer 2011 in die formalpolitische Arena (siehe den Beitrag von Sebastian Schipper in dieser Ausgabe). Ein weiteres Beispiel für das Zusammenwirken sozialer Bewegungen und linker Parteien ist Griechenland. Dort schlossen sich 2012 zahlreiche linke und linksradikale Gruppen und Parteien zu der bewegungsnahen und EU-kritischen Partei Syriza zusammen. Bei den Parlamentswahlen am 17. Juni 2012 konnte diese ihren Stimmanteil auf 26,89 Prozent erhöhen und ist mit 71 Mandaten im Parlament die derzeit zweitstärkste Partei Griechenlands.
Gerade in Griechenland lässt sich darüber hinaus beobachten, wie die Krisenproteste sich auch zu einem Experimentierfeld alltagspolitischer Praktiken weiterentwickeln. So registrieren BewegungsforscherInnen in Athen derzeit die Neugründung zahlreicher Graswurzel-Netzwerke und Nachbarschaftszentren (Vaiou 2013). Diese spielen zum einen bei der sozialen Bewältigung der Kriseneffekte der Troika-Politik eine wichtige Rolle, zum anderen machen vor allem junge Menschen beim Aufbau solidarischer Stadtteilorganisationen wichtige Politisierungs- und politische Mobilisierungserfahrungen. Ob und wie sich das Verhältnis dieser neuen Mikrostrukturen zu Gewerkschaften und Parteien – linken wie rechten – wie auch zum lokalen Staat gestalten wird, ob sich daraus widerständige Praktiken entwickeln oder eine höchst funktionale zivilgesellschaftliche Abfederung der brutalen Sparmaßnahmen, ist bislang jedoch noch offen.
Anstelle eines Fazit
Die These, dass sich globale Dynamiken von Krise und Protest aktuell vor allem durch eine gemeinsame urbane Dimension auszeichnen, konnte hier nur skizzenhaft entwickelt werden. Auch die Frage, was das für Protestrepertoirs und Akteurskonstellationen bedeutet, und welche Herausforderungen an eine politisch durchsetzungsfähige Organisierung daraus erwachsen, bleibt nur angedeutet. Um diese Fragen weiter zu bearbeiten, braucht es eine – vor allem auch empirisch informierte und vergleichend angelegte – Auseinandersetzung mit Protestdynamiken in unterschiedlichen Settings.
Dabei tauchen jedoch zwei Probleme auf: Zum einen gibt es mittlerweile zwar eine Vielzahl von Einzelfallstudien, die sich mit spezifischen Orten und Strategien des Protests beschäftigen. Doch fall- oder gar regionenübergreifende Studien, wie sie eigentlich notwendig wären, um den transnationalen Charakter der Proteste im Sinne eines Zyklus zu untersuchen, sind (zeit)aufwändig und anspruchsvoll in ihrer Durchführung und daher schwer zu finden. Nicht zuletzt hat dies mit der Neoliberalisierung der Forschungsinstitutionen selbst zu tun, die auf eine schnelle und publikationsfähige Produktion von Ergebnissen hinwirkt – ganz zu schweigen vom Problem der ‘fundability’ kritischer Protestforschung. Zum anderen ist es der – oft auch innerhalb der kritischen Sozialwissenschaft weiter vorherrschende – disziplinäre Blick, der ein weitergehendes Verständnis des aktuellen Protestzyklus verstellt. Denn wenn es sich, wie hier argumentiert, um eine Verdichtung unterschiedlicher Krisen- und Protestdynamiken im urbanen Raum handelt, dann braucht es Ansätze, die gerade auf die Schnittstellen zwischen Gewerkschaftsforschung, Bewegungsforschung, Stadtforschung usw. fokussieren, anstatt sich arbeitsteilig zu spezialisieren.
Offenheit und Interdisziplinarität braucht es – im übertragenen Sinne – schließlich auch in politischer Hinsicht. Denn sonst werden die globalen Proteste ergebnislos abebben oder staatlich kooptiert, wie dies in vielen Fällen bereits zu beobachten ist. Eine transformatorische Bewegung mit ‘langem Atem’ muss die Formen horizontaler Demokratie und radikaler Gesellschaftskritik, wie sie in vielen Protestcamps praktiziert wurden, mit Strategien der Organisierung und Institutionalisierung und den kollektiven Erfahrungen aus der ArbeiterInnenbewegung verbinden. Für ein solches Projekt ist ‘die Stadt’, wie David Harvey in seinem Buch ‘Rebel Cities’ feststellt: „a great place to begin“!
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Fußnoten
1. Ich danke Bettina Engels für ihre zahlreichen Hinweise und ihre konstruktive Kritik.
2. Eigentlich handelt es sich hierbei um ein Grundproblem der vergleichenden Sozialwissenschaft, in der stets ein Balanceakt zwischen Konkretion und Abstraktion vollzogen wird und Gemeinsamkeiten meist nur formuliert werden können, indem von Unterschieden abgesehen wird. Zur Systematik der vergleichenden (Stadt-)Forschung Belina/Miggelbrink (2010).
3. Neoliberale Strukturanpassungsprogramme und Austeritätspolitiken haben auch in Kleinstädten und ländlichen Regionen weitreichende Effekte. Diese Thematik kann hier leider nicht weiter berücksichtigt werden. Siehe für den bundesdeutschen Kontext etwa die Debatte um „Schrumpfende Städte“; vgl. Kil (2002).
4. Im Kontext der Strukturanpassungsprogramme der 1980er Jahre identifizierten Walton und Ragin allerdings Urbanisierung als stärksten Einflussfaktor, infolge dessen Austeritätsproteste wahrscheinlich werden (Walton/Ragin 1990: 887). Im vergangenen Jahrzehnt hätten sich die Proteste im Globalen Süden vom Land in die Städte verlagert, so die Autoren damals – eine Folge strukturellen ökonomischen Wandels. Die in diesem Zusammenhang neu entstandenen städtischen Gruppen organisierten sich in Nachbarschaftsinitiativen, Kirchen, Jugendverbänden und Gewerkschaften, die zu kollektivem Handeln mobilisierten und damit die Wahrscheinlichkeit für Protest erhöhten.
5. Hierin besteht auch ein auffälliger Unterschied zur Verarbeitung der Schuldenkrise der 1980er und 1990er Jahre in Afrika, Lateinamerika und Osteuropa. Viele Länder durchliefen damals parallel zu den Strukturanpassungsprogrammen einen Prozess der formalen Demokratisierung (Einführung von Mehrparteiensystemen, Wahlreformen, usw.) In zahlreichen ehemals autoritär regierten Staaten wurden wesentliche Verbesserungen auf der Ebene politischer Institutionen und bürgerlicher Rechte erreicht – teils erkämpft durch oppositionelle Bewegungen, teils gebunden an internationale Kreditvergaben. Eine redistributive Politik auf materieller Ebene fand dabei freilich nicht statt. So stellten Dirmoser et al. (1991: 1) fest: „Die Welle der Demokratisierungsprozesse in Lateinamerika in den achtziger Jahren erscheint jetzt im nachhinein und auf dem Hintergrund der Veränderungen in Europa (und Afrika) als Ausdruck einer Tendenz zur weltweiten Verwirklichung eines funktionierenden Doppelsystems von Demokratie und Marktwirtschaft.“
6. taz.de (10.1.2012) zitierte dagegen den Theologen Franz Segbers, der in Deutschland eine generelle Zurückhaltung der Kirche gegenüber Occupy konstatierte: Die Kirchen seien „nicht nur in vielfältiger Weise in das Finanzsystem eingebunden, sondern haben sich auch von ihm abhängig gemacht.“ (www.taz.de/!85269/, Zugriff: 2.9.2014)
7. Sindicato Andaluz de Trabajadores: Andalusische Gewerkschaft der ArbeiterInnen.
8. Siehe etwa das Interview mit Stav Shaffir in Zeit Online vom 16.5.2013; URL: http://www.zeit.de/2013/21/rettung-stav-shaffir-israel-sozialprotest (Zugriff: 3.9.2014)
Dieser Beitrag erschien zuerst in PROKLA Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 177, 44. Jg., 2014, Nr. 4