Koloniale Amnesie

Deutschland und die Schmusedecke des Halb-Erinnerns

Der deutsche Kolonialismus und seine Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurden lange verdrängt oder geleugnet. Dabei war das deutsche Kolonialreich 1914 das an Fläche drittgrößte nach dem britischen und französischen. In den deutschen Kolonien wurde Widerstand brutal niedergeschlagen. In „Deutsch-Südwestafrika“, dem heutigen Namibia, wurden an den Herero und Nama der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts verübt. In dieser GWR beleuchten wir mit einem Schwerpunkt die deutsche Politik des Verdrängens und des Neo-Kolonialismus in Zeiten der „Energiekrise“. (GWR-Red.)

 

Verdrängung statt Erinnerung

 

Dank zivilgesellschaftlichen Engagements sind postkoloniale Diskurse nicht mehr exotische Randerscheinungen, sondern haben eine breitere Öffentlichkeit erreicht. Dies hat auch die herrschende Politik – obgleich weiterhin eher bescheiden – in ihr Repertoire aufgenommen. Davon zeugt der im Dezember 2021 von der „Ampelregierung“ verabschiedete Koalitionsvertrag. Er erklärt unter dem Stichwort „Koloniales Erbe“: „Wir wollen koloniale Kontinuitäten überwinden, uns in Partnerschaft auf Augenhöhe begegnen und veranlassen unabhängige wissenschaftliche Studien zur Aufarbeitung des Kolonialismus.“ Allerdings fragt sich, angesichts der Fülle kolonialkritischer Studien, was es da noch zu veranlassen gibt. Wer es wissen will, kann es wissen.

Die beharrliche Abwehr und Verweigerung einer substanziellen Befassung mit dem Wesen und Wirken kolonialer Fremdherrschaft kommentierte der Kolonialhistoriker Helmut Bley im Vorfeld der hundertjährigen Wiederkehr der Berliner Afrika-Konferenz von 1884/85 in einer bis heute zutreffenden Weise: „Die deutsche Kolonialgeschichte ist deshalb auch unerledigt, weil sie die Erinnerung daran wecken kann, daß [...] in dieser Gesellschaft gewalttätige Traditionen vorhanden sind, die sich nicht auf den ‚Dämon‘ Hitler reduzieren lassen, sondern die in sozusagen ‚normalen‘ Zeiten, im Grunde in der ‚guten alten Zeit‘ sich vollzogen.“ (1)

Um zu verhindern, dass diese „gute alte Zeit“ in den ehemaligen Kolonialmetropolen „beschmutzt“ wird, dienen teilweise noch immer „Autobahnargumente“ wie „nicht alles unter Hitler war schlecht, immerhin wurden Autobahnen gebaut“. Damit werden „Kulturleistungen“ gegen die verheerenden strukturellen Dimensionen und Folgen des Kolonialsystems für die kolonisierte Bevölkerung aufgerechnet. Aber wie die Kolonialhistorikerin Gesine Krüger klarstellte: „Selbst wenn alle Kolonialbeamten und -militärs sehr nett gewesen wären, was sie nicht waren, ändert das nichts daran, dass die europäischen Mächte danach strebten, einen Kontinent unter sich aufzuteilen und den erwartbaren Widerstand in brutalster Weise mit Mitteln der Aufstandsbekämpfung niederschlugen, der häufig eine Politik der verbrannten Erde folgte.“ (2)

Der britische Historiker David Andress bezeichnet dies bezogen auf Großbritannien, Frankreich und die USA als kulturelle Demenz. (3) Sie basiert auf einem Entwicklungspfad und -verständnis, die ein historisches Privileg reklamieren, das rassisch – und in der Konsequenz rassistisch – geprägt ist. Insbesondere Angehörige privilegierter Gruppen haben, wie er meint, keine Lust Historiker*innen zuzuhören, die ihnen Schlechtes über ihre geschätzten Identitäten erzählen. Sie sind nicht an wirklicher Geschichte interessiert. Ihnen behagt die Schmusedecke des Halb-Erinnerns. Expertise, so Andress weiter, vermag Schichten der Mythologisierung kaum abzutragen. Die Beziehungen des Westens zu seiner Vergangenheit sind eine aktiv konstruierte, eifersüchtig bewachte und vergiftete Weigerung, sich den Fakten zu stellen. Diese sind bekannt, aber emotional und politisch unbequem. Es gibt keine Bereitschaft, sich mit der Wirklichkeit auseinander zu setzen.

Eine vom Verhältnis Täter und Opfer bestimmte Vergangenheit, wie sie der Kolonialismus als Herrschaftssystem darstellt, lässt aber demgegenüber – wie Aleida Assmann immer wieder betont – als adäquate Form der bearbeitenden Erinnerung nur eine „Vergangenheitsbewahrung“ zu, die eine Gewaltgeschichte nicht verschweigt oder sich einer Auseinandersetzung mit ihr entzieht. (4)

Die Ausblendung historisch verbürgter Wissensbestände nimmt nicht nur den Ausschluss von Menschen anderer Herkunft oder Geschichte billigend in Kauf. Damit wird zugleich auch der Rassismus im eigenen Land bis heute befördert, mit dem nicht nur Afrodeutsche im Alltag permanent konfrontiert sind.

Auf die deutsche (Nicht-)Befassung mit der Kolonialgeschichte trifft der Befund kolonialer Amnesie teilweise zu. Kritiker*innen dieser Kategorisierung verweisen auf die Thematisierung des deutschen Kolonialismus und die Existenz von Wissensbeständen, die ihrer Meinung nach einer Amnesie entgegenstehen.

Doch koloniale Amnesie bedeutet keinesfalls, Kolonialismus zu tabuisieren. Die Immunisierung gegen Kritik am Kolonialismus ist auch eine Form der Amnesie. Sich über dessen Stellenwert und Auswirkungen zu streiten ist noch lange kein Indiz für dessen Bearbeitung. Die Behauptung, es gäbe keine koloniale Amnesie, wird damit begründet, dass es immer auch den deutschen Kolonialismus als Thema im öffentlichen Raum gegeben hat. Das unterscheidet aber nicht zwischen den gegensätzlichen Betrachtungsweisen einer Kolonialkritik und einer Apologie oder Romantisierung bzw. Verharmlosung kolonialer Herrschaft. So gesehen wäre eine Rechtfertigung kolonialer Massenvernichtung als notwendiger Akt zivilisatorischer Mission ein Beweis, dass es keine koloniale Amnesie gibt.

Kolonialnostalgie ist in der Tat ein Indiz dafür, dass der Kolonialismus nicht vergessen worden ist. Die Relativierung seiner Gewalt- und Vernichtungsbereitschaft und deren Folgen hingegen werden damit als unwesentlich abgetan oder heruntergespielt – doch genau darin zeigt sich Amnesie. Das Vorhandensein hinreichender Quellen und Analysen beweist ja nicht, dass diese zur Kenntnis genommen und entsprechend verarbeitet werden. Wenn z. B. eine Mitarbeiterin im Bundesarchiv in Koblenz es schwierig findet „einer ‚kolonialen Amnesie‘ zu erliegen, wenn man als Archivar/in gewissermaßen auf den Akten des Reichskolonialamts sitzt“, verkennt dies die gesellschaftliche Wirklichkeit. Die Existenz der Archivbestände und der Zugang zu diesen klärt nicht automatisch auf oder tritt damit schon Fehlwahrnehmungen entgegen. Es reicht nicht, auf das Vorhandensein entsprechenden Quellenmaterials zu verweisen, um damit zu suggerieren, dieses werde zur geschichtlichen Aufklärung genutzt.

Vorhandenes Wissen bleibt oftmals noch immer geleugnetes Wissen. Es verhindert nicht, dass apologetische oder relativierende Meinungen weiterhin integraler Bestandteil einer Dominanzkultur sind. Die Behauptung, das Schlagwort der kolonialen Amnesie treffe so pauschal nicht zu, verkennt die Kerndiagnose, die mit Archivbestand und -zugang herzlich wenig zu tun hat. Auch Andress betont, dass es jede Menge mit fundierter Literatur bestückte Bibliotheken und Buchhandlungen gibt. Zudem haben zahlreiche Wissenschaftler*innen schon seit Jahrzehnten vermehrt zu erklären versucht, wie es wirklich war. Das Problem der Geschichtsverdrängung oder -leugnung aber bleibt, wenn Menschen weder hören noch lernen wollen.

Selbst in neueren selbstkritischen offiziellen Auseinandersetzungen mit der deutschen Geschichte werden die weiterhin bestehenden Blindflecke nur allzu deutlich. So präsentierte das Auswärtige Amt 2019 ein Grundsatzpapier zur Unterstützung von „Vergangenheitsarbeit und Versöhnung“, das deutsche Errungenschaften in der Bearbeitung eigener Geschichte pries. Beispielhaft werden das „NS-Unrecht“ und die „Opfer der SED-Diktatur“ aufgeführt. Der deutsche Kolonialismus hingegen findet im gesamten Dokument von über 20 Seiten kein einziges Mal Erwähnung.

 

Völkermord ist Völkermord

 

Forderungen, der Bearbeitung der kolonialen Gewaltgeschichte den gebührenden Raum zuzubilligen, haben zu vehementen Reaktionen geführt, in denen Fehlinterpretationen und Unterstellungen oftmals eine produktive Auseinandersetzung unmöglich machen. So wird der „Selbstentkernungsversuch“ als „Abschied von unserer Leiterinnerung“ beschworen und gipfelt in der Unterstellung: „Die Singularität des Holocaust hat keinen Platz mehr im postkolonialen Diskurs“. (5) Solche gebetsmühlenartig wiederholte Behauptungen werden im öffentlichen Raum zwar wirksam operationalisiert (und können als weiterer Versuch zur Immunisierung verstanden werden), sie treffen aber nicht zu. Wie die Moderatorin einer Kultursendung im Deutschlandfunk schlussfolgerte, spiegelt die Auseinandersetzung „ein berechtigtes Ringen in der weiteren Aufarbeitung“ einer weithin unzureichenden Auseinandersetzung mit den kolonialen Gräueltaten des deutschen Kaiserreichs. (6)

In dieser künstlich entfachten, irreführend zum „neuen Historikerstreit“ stilisierten Kontroverse, wird der inhaltlich untaugliche – aber demagogisch wirksame – Versuch initiiert, die ernsthafte und rigorose Thematisierung deutscher Kolonialgräuel zu relativieren. Ironischerweise wird dazu der Vorwurf einer Relativierung des Holocaust als Diskreditierung solchen Bemühens missbraucht: „Der Fortschritt der Zivilisation ist von seinen Schattenseiten nicht zu trennen“ und „Der Holocaust ist nicht vergleichbar mit der Niederschlagung des Herero- oder Maji-Maji-Aufstands“ waren zwei der polemischen Behauptungen, die in der Feststellung gipfelten, dass die „Eliminierung ganzer Gruppen in der Weltgeschichte“ als „ein weit verbreitetes Muster“ durch kein einziges Beispiel belegt werde und Unsinn sei. Noch nie habe „eine moderne Nation den Versuch unternommen, ein gesamtes Volk restlos auszurotten“. (7)

Im Übereifer wird hier übersehen, dass diese kategorische Aussage auch den Holocaust einschließt und die in der Völkermord-Konvention der Vereinten Nationen genannte Vernichtungsabsicht als unbegründet relativiert. Im Übrigen wird der Singularität des Holocaust „nichts genommen, wenn an die ... Singularität der Verbrechen des Kolonialismus, sei es im Kongo, sei es im transatlantischen Sklavenhandel erinnert wird ... Erinnern und Gedenken sind kein Nullsummenspiel.“ (8) Wer aber mit Verweis auf die Singularität des Holocaust darauf besteht, dass sich dieser einem Vergleich entzieht, begründet dies vergleichend: „Wer Singularität konstatiert, muss Vergleiche anstellen”. (9)

Dies bedeutet nicht, dass die bis an Ausrottung grenzende Enteignung und Vertreibung indigener Gemeinschaften in Siedlerkolonien oder die verheerenden Folgen der südafrikanischen Apartheidpolitik mit dem Holocaust gleichzusetzen wären. Aber es verweist darauf, dass unsere jeweilige Verortung einen Einfluss darauf hat, wie wir eine Vergangenheit sehen und beurteilen – oder auch mit welchem Blickwinkel wir welche Teile einer Menschheitsgeschichte wahrnehmen, beachten, vergessen, ignorieren oder sogar bewusst ausklammern. Ereignisse und Erfahrungen von traumatischer Gewalt und Langzeitfolgen physischer, psychischer sowie kultureller Vernichtung sind jeweils einzigartig.

Aus der Sicht der Nachfahren der Ovaherero und Nama, der Damara und San war deren Vernichtung durch den von den „Schutztruppen“ in „Deutsch-Südwestafrika“ zwischen 1904 und 1908 verübten Völkermord und die Unterwerfung der Überlebenden unter ein Apartheid-System, das ihnen die Fortführung ihrer Lebensweise verweigerte, ebenso einzigartig wie für andere indigene Gemeinschaften siedlerkoloniale Formen einer mit physischer und kultureller Vernichtung einhergehenden Fremdherrschaft waren. (10) Der Kolonialismus war keinesfalls eine Randerscheinung deutscher Geschichte – auch nicht in Deutschland selbst. Immerhin gab es im Kaiserreich eine „Hottentottenwahl“. Sie war Zeichen für die durchaus diskutierte und strittige Kolonialpolitik und diente der weiteren militärischen Aufrüstung.

Die bei „Strafexpeditionen“ gegen die autochthonen Bevölkerungen in den Kolonien geraubten Körperteile, bis heute in unbekannter Zahl in ebenso wenig genau bekannten Orten Deutschlands eingelagert, sind zugleich Erinnerung daran, dass sie zum Zwecke einer pseudo-wissenschaftlichen kolonialen Anthropologie den Weg zum arischen Rassenwahn ebneten. Kolonialoffiziere vom Schlage eines von Trotha, Lettow-Vorbeck und Ritter Freiherr von Epp waren der personifizierte mentalitätsgeschichtliche Ausdruck einer Ära, die im Holocaust und in der Kriegsführung in Osteuropa mündete.

Keinesfalls zufällig führte Raphael Lemkin als maßgeblicher Urheber der von den Vereinten Nationen 1948 verabschiedeten Völkermord-Konvention in seinen zahlreichen Schriften auch die Vernichtungsstrategie im damaligen „Deutsch-Südwestafrika“ als ein frühes Beispiel für Genozid an. Auch Hannah Arendt wies in „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ darauf hin, dass der Holocaust nur in Rückbesinnung auf die Formen totaler Herrschaft in den Kolonien verstanden werden kann, denn die dort praktizierte Entmenschlichung fand Jahrzehnte später im eigenen Land statt.

 

Geschichte als Gegenwart: Deutschland und Namibia

 

Bis heute wird noch häufig als vermeintliches Gegenargument zur Anwendung des Begriffs Völkermord im rechtlichen Sinne auf den kolonialen Vernichtungskrieg in „Deutsch-Südwestafrika“ angeführt, das mit der Wortschöpfung einhergehende Rechtsverständnis habe es damals noch nicht gegeben. Wird dieser Einwand ernst genommen, dürften der Holocaust und die Vernichtung der Armenier*innen ebenfalls nicht als Völkermord bezeichnet werden, denn beide Ereignisse vollzogen sich ebenfalls vor der Völkermord-Konvention und der damit einhergehenden Begriffsbildung.

Es sollte 110 Jahre dauern, bis der Tatbestand des Völkermords, der damals in aller Öffentlichkeit präsentiert wurde, von der Bundesregierung Mitte 2015 eingestanden wurde und zu bilateralen Verhandlungen mit der Regierung Namibias führte. Diese fanden Mitte Mai 2021 mit der Paraphierung eines „Versöhnungsabkommens“ durch die Sonderbeauftragten beider Regierungen ein vorläufiges Ende. Darin „akzeptiert Deutschland eine moralische, historische und politische Verpflichtung, sich für diesen Völkermord zu entschuldigen und in der Folge die für eine Versöhnung und für den Wiederaufbau erforderlichen Mittel bereitzustellen“ (III:/11.). Eine rechtliche Verpflichtung wird explizit negiert und Reparationsleistungen werden ausdrücklich verworfen. Stattdessen stellt die Erklärung fest, dass „alle finanziellen Aspekte der vergangenheitsbezogenen Fragen“ damit geregelt seien (V./20.).

Als „Geste der Anerkennung des unermesslichen Leids“, so der damalige Außenminister Heiko Maas in einer Presseerklärung, sollen 1,05 Milliarden Euro einen Wiederaufbau unterstützen. „Rechtliche Ansprüche auf Entschädigung“, stellte er klar, „lassen sich daraus nicht ableiten“. Finanzielle Nachbesserungen werden kategorisch ausgeschlossen. Die „Wiederaufbauhilfe“ ist weniger als die seit Namibias Unabhängigkeit 1990 bereit gestellten Mittel entwicklungspolitischer Zusammenarbeit. In etwa so viel, wie der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn für unbrauchbare Gesichtsmasken zum Schutz vor Covid verplemperte. Da liegt die Betonung wohl eher auf „Geste“ als auf „Anerkennung des unermesslichen Leids“.

Das dürfte auch für die 50 Millionen Euro gelten, die das Abkommen über eine Laufzeit von 30 Jahren hinweg zur Verwendung auf „angemessene Wege für Erinnerung und Gedenken“ wie „für Vorhaben zur Versöhnung, Erinnerung, Forschung und Bildung“ festlegt (V./17./18.). Das sind weniger als zwei Millionen pro Jahr. Die jährlichen Betriebskosten des Humboldt Forums – das in dem für 700 Millionen Euro teilweise wiederaufgebauten Berliner Schloss auch koloniales Raubgut zur Schau stellt – werden auf 60 Millionen Euro veranschlagt.

Nach Ratifizierung des Abkommens soll Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im namibischen Parlament um Entschuldigung bitten. Die Mehrheit der Ovaherero, Nama, Damara und San ist dort aber gar nicht vertreten. Doch laut dem Abkommen ist das Ergebnis bereits vereinbart: „Die Regierung und die Bevölkerung Namibias nehmen Deutschlands Entschuldigung an“ (IV./14.). Gefragt wurde die Bevölkerung Namibias aber nicht. Wer sich unter dieser umhört, kommt da zu einem ganz anderen Ergebnis. Was ist an einem solchen Vertrags-Dekret eigentlich nicht kolonialistisch? Der massive innernamibische Widerstand gegen das Verhandlungsergebnis hat so auch dazu geführt, dass die namibische Regierung Nachverhandlungen fordert. Mehr als zwei Jahre nach Paraphierung der Vereinbarung harrt diese noch immer der Unterzeichnung durch die Außenminister beider Länder. Nach Auskunft der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage im Bundestag im Juli 2023 hat es zwischen den beiden Regierungen seit Ende 2022 keine Gespräche mehr gegeben. – Völkerverständigung geht anders.

 

Empathie und Selbsterkundung

 

Eine Verständigung über den Umgang mit Kolonialverbrechen kann ohnehin nicht exklusiv zwischen Regierungen ausgehandelt werden. Sie muss zwischen den Menschen erfolgen. So kann allein die Einsicht leitend sein, dass diese nur mit selbstkritischen (Neu-)Positionierungen einher gehen kann: nämlich der kritischen Frage an die Kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Grundlagen, an die Wissensrahmungen der heutigen Eigen- und Fremdwahrnehmungen, die Hinterfragung gültiger Verständnisse von Kultur und Gesellschaft. Diese müssen die Position bestimmen, von der aus nur eine Verständigung begonnen werden kann. Dazu muss auch die Bereitschaft gehören, den Sichtweisen, Wahrnehmungen und Erfahrungen der „Anderen“ einen Raum zu bieten, diese nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern sich auch ansprechen zu lassen. Aussöhnung (so diese überhaupt möglich ist) kann nicht vorgeschrieben werden, wenn man den Erinnerungsprozess von vornherein ausschließt, weil die Erinnernden ausgeschlossen werden. (11)

In ihren Einlassungen zu einer „Ökonomie der Empathie“ verweist Charlotte Wiedemann auf die schmerzhafte Notwendigkeit zu einer „geistige(n) und emotionale(n) Selbstverortung in einer Geschichtslandschaft, die seit fünfhundert Jahren von kolonialen und postkolonialen Asymmetrien gezeichnet ist.“ (12) Was sie von sich und anderen verlangt, ist nicht unmöglich: „Mitgefühl ist nicht gerecht, es folgt nicht dem Grundsatz von der Gleichheit aller Menschen. Den Schmerz der Anderen zu empfinden, mag unmöglich sein, aber ihn zu begreifen und zu respektieren, ist ein realistisches und notwendiges Ziel.“ Wenn postkoloniale Initiativen ernst gemeint sind, müssen sich diese dem schmerzhaften Prozess stellen. Das ist der notwendige Ausgangspunkt.

 

Henning Melber

 

Henning Melber ist Professor an den südafrikanischen Universitäten in Pretoria und des Freistaats in Bloemfontein, Fellow des Institute for Commonwealth Studies der Universität London und Associate des Nordic Africa Institute in Uppsala. Sein neues Buch „The long shadow of German colonialism“ erscheint voraussichtlich Ende 2023/Anfang 2024 im Verlag Hurst in London.

 

Anmerkungen/Quellenhinweise:

1) Helmut Bley, „Unerledigte deutsche Kolonialgeschichte“, in: Deutscher Kolonialismus. Materialien zur Hundertjahrfeier 1984, hrsg. von der Hamburger Gesellschaft für Entwicklungspolitische Bildungsarbeit, Hamburg 1983.

2) Gesine Krüger, „Die ‚guten‘ Seiten des #Kolonialismus“, Geschichte der Gegenwart, 27. März 2019, https://geschichtedergegenwart.ch/die-guten-seiten-des-kolonialismus/

3) David Andress, Cultural Dementia. How the west has lost its history, and risks losing everything else, London: Head of Zeus 2018.

4) Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München: Beck 2006 (3. Aufl. 2018).

5) Johann Michael Möller, „Abschied von unserer Leitkultur“, Politik & Kultur, Nr. 10, Oktober 2021.

6) Abmoderation zu Ursula Storost, Der „neue“ Historikerstreit: Was hat der Kolonialismus mit dem Holocaust zu tun? Deutschlandfunk, 24. Oktober 2021 https://www.deutschlandfunk.de/der-neue-historikerstreit-was-hat-der-kolonialismus-mit-dem.1148.de.html?dram:article_id=503995

7) Alan Posener, Neuer Historikerstreit: Drei linke Irrtümer über den Holocaust, Die Welt, 24. Juni 2021.

8) Micha Brumlik, Postkolonialer Antisemitismus? Achille Mbembe, die palästinensische BDS-Bewegung und andere Aufreger. Bestandsaufnahme einer Diskussion, Hamburg: VSA 2021. Dazu auch Matthias Böckmann/Matthias Gockel/Reinhart Kößler/Henning Melber (Hrsg.), Jenseits von Mbembe – Geschichte, Erinnerung, Solidarität. Berlin: Metropol 2022.

9) So Claus Leggewie in einer Rezension von Micha Brumliks Postkolonialer Antisemitismus? in Frankfurter Rundschau, 18. Oktober 2021.

10) Siehe Wolfgang Geiger/Henning Melber (Hrsg.), Kritik des deutschen Kolonialismus. Postkoloniale Sicht auf Erinnerung und Geschichtsvermittlung, Frankfurt/Main: Brandes & Apsel 2021.

11) Dazu Kristin Platt, „Gewalt, Trauma und Erinnerung. Zum Umgang mit Völkermord“, in Henning Melber/Kristin Platt (Hrsg.), Koloniale Vergangenheit - postkoloniale Zukunft? Die deutsch-namibischen Beziehungen neu denken, Frankfurt/Main: Brandes & Apsel 2022.

12) Charlotte Wiedemann, Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis, Berlin: Propyläen 2022.

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 481, September 2023, www.graswurzel.net