Un/heimliche Nachbarschaften

Zum völkischen Unbewussten in der künstlerischen und kuratorischen Forschung

Ausstellungen sind Orte der sozialen Re/produktion, in denen Kunst und Wissenschaft gemeinsam Erkenntnisse und Erfahrungen generieren. Nanne Buurman zeigt auf, wie vormals völkisch kodierte Tendenzen in der Kunst nach 1945 umgedeutet wurden und skizziert Ansätze, wie derartige Dis-/Kontinuitäten im gegenwärtigen Kunst- und Ausstellungsbetrieb problematisiert werden könnten.

Die 1955 gegründete documenta trug im Rahmen der westdeutschen Reeducation nach dem Zweiten Weltkrieg wesentlich zu einem Recyceln und Resignifizieren alter Wissensbestände bei. Die politische Umetikettierung bstrakter Tendenzen in der Kunst, die vor 1945 als Ausdruck eines nordischen oder germanischen Geistes gepriesen wurden und nun als Ausweis demokratischer Gesinnung, ermöglichte neben ungebrochenen Karrieren ihrer Apologeten auch epistemologische und ästhetische Kontinuitäten.

Bereits seit 2018 untersuche ich unter dem Arbeitstitel documenta as a Haunted House, wie die documenta narrative Rahmen setzte und Diskurse produzierte, die dazu beitrugen, ihre "Gründerväter" zu entlasten, da "moderne Kunst" die Rolle des Opfers, des vermeintlich apolitischen, freien, widerständigen Guten zugeschrieben bekam und damit zur Gegenspielerin von Diktaturen gemacht wurde. Diese Märchenerzählung eines Gegensatzes von guter, demokratischer abstrakter Kunst und bösem Totalitarismus eignete sich hervorragend, um im Kalten Krieg hufeisentheoretisch linke und rechte Realismen delegitimierend gleichzusetzen.1 Als Definitionen des Denk- und Sagbaren werden solche Strategien des "politischen Framings" weiterhin von der Neuen Rechten genutzt, die - überzeugt davon, dass "Geist die Welt regiert"2 - paradoxerweise Antonio Gramscis "Meta-Politik" für ihre Zwecke adaptiert hat, um sprachlich just an die reaktionären, identitären, völkischen und antisemitischen Konzeptionen und Denkfiguren anzuschließen, die seit dem 19. Jahrhundert über die später als "Konservative Revolution" verharmlosten rechten, antidemokratischen Denker der Zwischenkriegszeit, den Nationalsozialsozialismus und die Nachkriegszeit bis heute Wirkungen entfalten.

Seit 2020 widmet sich an der Kunsthochschule Kassel die von Alexis Joachimides und mir geleitete dis_continuities Gruppe der künstlerischen, wissenschaftlichen und kuratorischen Erforschung von NS-Kontinuitäten bei der documenta.3 In diesem Aufsatz sollen die Verwickelung der eigenen Forschungsansätze, Kunstvorstellungen und edukativen Ideale in vergangene und gegenwärtige Gewaltverhältnisse und epistemologische Regime herausgearbeitet werden, um deren oft unbeabsichtigten eigenen Beitrag zur Re/produktion rassistischer, antisemitischer, klassistischer und androzentrischer Denk- und Machtstrukturen in historischer Perspektive kritisch zu reflektieren. Wenn man beispielsweise die ästhetischen Dimensionen der Geschichtsproduktion als Fabrikation von Wissen analysiert und dafür Formen des Schreibens oder Kuratierens kultiviert, die diese Gemachtheit reflexiv in Szene setzen, dann befindet man sich unter Umständen schnell in "unheimlicher Nachbarschaft". Helmut Lethen fasst mit diesem Begriff die Art und Weise, wie rechte und linke Denker:innen mitunter ähnlich auf die Herausforderungen der Moderne reagierten: "Die Geste verbindet das Denken der verschiedenen Lager. Auf dieser Ebene vollzieht sich der unheimliche Austausch. Unheimlich - weil wir Vertrautem auf feindlichem Terrain begegnen […]."4 Eine Kritik an ungebrochen Objektivität behauptenden, universalistischen, positivistischen und historistischen Formen der Wissenschaftlichkeit, die mit einer Wertschätzung künstlerischer Formen der Erkenntnis und ästhetischen Verfahren einhergeht, sollte also nicht vergessen, dass man hier u.a. auch an Denktraditionen anschließt, deren Kultur-, Wissenschafts- und Entfremdungskritiken nicht selten mit völkischen Ganzheitlichkeitsvorstellungen einhergingen, in denen künstlerische Authentizität als ein Heilmittel gegen die Widersprüche der Moderne gesehen wurde.

Deutsche Geister: Soziale Plastik und Bildung des Volkskörpers

Friedrich Nietzsche kritisierte den Akademismus objektiver Geschichtsschreibung und wollte die Historie durch Kunst heilen.5 In Schopenhauer als Erzieher denkt er dem schöpferischen Individuum eine führende und erzieherische Rolle zu.6 Einem als einseitig kritisierten wissenschaftlichen Spezialistentum stellt er die "einsamen, freien Geister" künstlerisch denkender Philosophen gegenüber, welche die "reine Wissenschaft", die "ein Gespensterleben führt", befreit. Wissenschaft sei darauf aus, "jene Leinwand und jene Farben, aber nicht das Bild zu verstehen", während Arthur Schopenhauer darin "gross" [sic] sei, "dass er jenem Bild nachgeht wie Hamlet dem Geiste, ohne sich abziehn zu lassen, wie Gelehrte es thun"7. Darauf aufbauend kommt auch Julius Langbehn in seinem hochgradig antisemitischen Traktat Rembrandt als Erzieher  zu dem Ergebnis, dass Kunst und kunstnahe Formen des Philosophierens wissenschaftlichen Praktiken überlegen seien.8 Seine anti-intellektualistische Lobpreisung des Künstlerischen ist in mancherlei Hinsicht anschlussfähig an aktuelle Diskurse zur künstlerischen Forschung und zur sozial engagierten Kunst. Denn er zelebriert die erkenntnisstiftende und erzieherische Funktion von Kunst und rahmt Künstler: als Politiker, die ihren Beitrag zur Formung und Heilung des Volkskörpers leisten.9

Der Historiker Fritz Stern verweist auf die Zusammenhänge zwischen Langbehns Theorien, esoterischem Denken und Zurück-zur-Natur-Bestrebungen des frühen 20. Jahrhunderts. Über lebensreformerische Organe wie die Zeitschrift Der Kunstwart (1887-1937), den Dürerbund (gegründet 1902), die 1901 erstmalig organisierten Kunsterziehungstage und den 1907 gegründeten Werkbund wurden diese Ideen reproduziert und schließlich auch von den in diesem Geiste sozialisierten documenta-Gründervätern aufgegriffen. Auch Werner Haftmann, Kunsthistoriker und Spiritus Rector der ersten documenta-Ausgaben, dessen Mitgliedschaften in NSDAP und SA sowie dessen Beteiligung an Partisanenjagden in Italien erst seit 2019 wissenschaftlich aufgearbeitet werden, betont 1946 in einem Artikel in der damals noch rechten Zeitung Die Zeit10] die Notwendigkeit eines "gemeinsamen deutschen Nenners". Er bringt seine "Besorgnis über Verfachlichung, Spezialistentum" zum Ausdruck und ruft in militärischem Ton zum Kampf um den deutschen Geist auf.11 Auch schreckt er ein Jahr später nicht davor zurück, u.a. Hitler und Mussolini als große Künstler zu rahmen.12

Vor diesem Hintergrund wirken Joseph Beuys‘ Reden zum erweiterten Kunstbegriff und zur "sozialen Plastik" wie ein alter Schuh. Arbeiten wie 7000 Eichen. Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung bei der documenta 7 (1982) knüpfen nicht nur an die Moderne- und Urbanitätskritiken der Zurück-zur-Natur-Bewegungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts an, sondern lesen sich - gerade auch in Rückgriff auf völkische Motive wie den deutschen Wald oder die deutsche Eiche - sehr viel ambivalenter als es der Umstand, dass Beuys als Vordenker aktueller Ökologiebewegungen gefeiert wird, tut.13 Wenn man berücksichtigt, dass sich Beuys mit vielen Altnazis und Rechtsextremen umgab und als Teil der rechten Heimat- und Umweltschutz Initiative AUD (Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher) die Grünen mitbegründete,14 überraschen die völkischen Töne in seinem Band Sprechen über Deutschland nicht mehr.15 Während bisher vor allem Rudolf Steiners anthroposophische Dreigliederung und die Vorstellung des sozialen Organismus als Inspiration von Beuys‘ Konzept der "Sozialen Plastik" genannt werden, gibt es in einer vergleichenden Analyse mit den Schriften Nietzsches, Langbehns und Haftmanns so viele Geistesverwandtschaften zu entdecken, dass die bisher dominierende Deutung der sozialen Plastik als linksalternative, gegenkulturelle und emanzipatorische Praxis zu kurz greift. Vor dem Hintergrund der Biografie des "ewigen Hitlerjungen"16 Beuys gilt es die un/heimliche Nähe zwischen der "sozialen Plastik" und rechten Bemühungen um die "Bildung eines Volkskörpers" zu berücksichtigen.

Mit Nietzsche, Langbehn, Haftmann und Co. teilte Beuys die Kritik an Spezialistentum, einen Glauben an Erlösung durch Kunst und individualistische Vorstellungen von der Befreiung des Menschen aus staatlichen und kapitalistischen Zwängen; er wettert gegen den Materialismus und wirbt für Spiritualität. Seine Rede von der besonderen "Auferstehungskraft des deutschen Volkes", die er durch den "Born" der deutschen Sprache begründet, seine Frage nach der "Aufgabe der Deutschen in der Welt", die er mit dem "deutschen Genius", der "deutschen Sprache" und ihrer Fähigkeit "das Vorgegebene, so krank es auch sei, mit wesensgemäßen Begriffen so zu beschreiben, daß eine Heilung möglich wäre",17 erinnern u.a. an die Langbehn‘sche Hoffnung auf "Wiedergeburt" und seine Einschätzung, am deutschen Wesen möge die Welt genesen.18 Die von Beuys für sich als "gestalterische Aufgabe" angenommene "Notwendigkeit, erst einmal eine Bedingung zu schaffen, einen Humus zu bilden in Begriffen und Vorstellungen, auf dem überhaupt eine lebendige Gestalt werden kann",19 erinnert auch an neurechte Metapolitik mit ihrem Ziel "kulturelle Kommunikationsmuster bereits im vorpolitischen Raum zu verändern"20.

Einen solchen Raum bieten u.a. Kunst und Kultur, Ausstellungs- und Ausbildungsbetrieb. In diesem Rahmen platzierte Beuys dann auch Formate wie das Büro für Direkte Demokratie (gegründet 1970, 1972 zu Gast auf der documenta 5) und die Free International University (gegründet 1973, 1977 zu Gast auf der documenta 6. Dazu schrieb er: " […] es müssen freie Schulen und freie Hochschulen entstehen, es müssen Zentren entstehen, in denen Kreativität als Freiheitswissenschaft verstanden wird. Nur das ist Kreativität, was sich als Wissenschaft von der Freiheit ausweisen und beweisen kann." 21 Gerade weil sich in dieser Rückbesinnung auf das "eigentliche Wesen" zur Überwindung von Entfremdungserfahrungen, essentialistischen Identitätspolitiken, der Feier von Ganzheitlichkeit und kreativer Freiheit einerseits viele "un/heimlichen Nachbarschaften" zwischen linker und rechter Globalisierungs-, Amerika- und Kapitalismuskritik ausmachen lassen und diese andererseits anschlussfähig an neoliberale Selbstverwirklichungsimperative und Biopolitiken sind, lohnt es sich, genauer hinzusehen, inwiefern Teile dieses Gedankenguts auch im eigenen Denken herumspuken.

Geistesverwandtschaften: Künstlerische und kuratorische Forschungen

Das ambivalente Erbe der Moderne sowie sein un/heimliches Fortwirken bis heute bildete auch die Klammer einer Reihe von Projektseminaren zur kuratorischen Forschung, die ich 2019 den Zurück-zur-Natur-Bewegungen der letzten hundert Jahre widmete. Ausgehend von Carolyn Christov-Bakargievs kuratorischen Rückverweisen auf Harald Szeemanns Ausstellung Monte Verità. Die Brüste der Wahrheit (1978) im Rahmen der dOCUMENTA (13) (2012) nahm ich unter dem Titel Back to the Roots? Re_(form/search/enact) das hundertjährige Bauhaus-Jubiläum zum Anlass, um mit Studierenden der Kunsthochschule Kassel retroutopische Vergangenheitsbezüge in lebensreformerischen Initiativen zwischen 1919 und 2019 zu erforschen. Neben Auseinandersetzungen mit Slow and Conscious Living-Trends wie Yoga, Veganismus oder Achtsamkeit beschäftigten wir uns u.a. mit der Lohelandschule für Körperbildung, Landbau und Handwerk, einer als "Amazonenstaat in der Rhön" bekannten Frauensiedlung, die wie das Bauhaus 2019 ihr hundertjähriges Jubiläum feierte. Ähnlich wie die bekannte Reformsiedlung auf dem Monte Verità bestand sie aus Hütten auf einem Hügel und war von Ernst Bloch als "Reinigungsbewegung" beschrieben worden, deren Bemühungen um eine Befreiung von zivilisatorischen Korsetten durch das Freilegen "natürlicher" Bewegungsabläufe zu dem Eindruck führe, die Loheländerinnen seien "in Freiheit dressiert" gewesen.22

Die 2019 realisierte Ausstellung in freiheit dressiert. being natural is simply a pose widmete sich schließlich der Indienstnahme von Natur und Natürlichkeit durch (neu)rechte Bewegungen und neoliberales Nachhaltigkeitsmarketing sowie Aktualisierungen historischer Querfrontbildungen zwischen ökologisch orientierten Rechten und Linken vor dem Hintergrund geteilter essentialistischer Vorstellungen von Unmittelbarkeit, Natürlichkeit, Reinheit und Freiheit.23 Der Fußboden unseres Arbeits- und Ausstellungsraums in Kassel war mit getrocknetem Laub von Beuys-Eichen bedeckt. Im Buch-Display war neben anderen Publikationen sein Sprechen über Deutschland (1985) ausgestellt. Glasscherben unter der großen Fensterwand erinnerten zusammen mit einem Baseballschläger aus Eichenholz an die in Kassel bereits ein paar Tage vor der Reichspogromnacht 1938 stattfindenden judenfeindlichen Ausschreitungen und stellten die Unmittelbarkeit versprechende Transparenz der Fensterscheibe infrage, während eine Gegenüberstellung von Leni Riefenstahls Olympia-Film-Intro (1936) mit Madonnas Musikvideo Vogue (1990) die kompositorischen Gemeinsamkeiten beider Sequenzen bei divergierenden Körperpolitiken anschaulich machte. Als exemplarische Praxis einer "Annährung an und Ausstellung des phantasmatischen Status der Realitätsnorm"24 nutzen wir Voguing als kuratorische Methode, um u.a. auch die Loheland’schen Authentizitätsvorstellungen zu entnaturalisieren.

Bei einem Gastspiel in der Galerie der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig unternahm die Projektgruppe nach verschiedenen öffentlichen Proben den Versuch, in Form eines kritischen zeitgenössischen Reenactments der Loheland’schen Körperpraktiken die Spannungen zwischen Emanzipation und Essenzialisierung, Nachhaltigkeit und Naturalisierung, Normativität und Emanzipation, Reproduktion und Reaktualisierung zur Aufführung zu bringen.25 Mittels künstlerischer und kuratorischer Rahmensetzungen ging es darum, die materiellen, medialen und sozialen Bedingtheiten von "Natur" und "Natürlichkeit" in Szene zu setzen, das Vermitteln zu vermitteln, und darüber zu reflektieren, wie wir als Konsument:innen und Produzent:innen selbst an Natürlichkeits-, Reinheits- und Unmittelbarkeitsvorstellungen im Zuge von (vermeintlich) grünen Lifestyle-Trends, Detox und "Decluttering" partizipieren. Die Ambivalenzen von Freiheit, Reinheit und Natürlichkeit als emanzipatorische Kategorien auf der einen Seite und eskapistische, essentialistische und gar eugenische Fiktionen auf der anderen, sind seit der Pandemie mit Blick auf Corona-Leugner:innen, Impfgegner:innen und Querdenker:innen sowie die populäre Instagram-Ästhetik "Cottagecore" oder völkische Siedler:innen noch aktueller geworden.

Eine Entnaturalisierung und Exponierung epistemologischer und sprachlicher, materieller und medialer, künstlerischer, kuratorischer und historischer Rahmensetzungen spielte auch in der kuratorischen Versuchsanordnung wir alle sind gespenster: haunting infrastuctures eine Rolle, die ich im Dezember 2021 zusammen mit Mitgliedern der dis_continuities-Forschungsgruppe und Studierenden der Kunsthochschule Kassel im Kunstverein Kassel im Museum Fridericianum realisierte.26 Hier ging es darum, das Ausstellen als eine Methode der kuratorischen Forschung in Stellung zu bringen, um völkisch-nationalistische Kontinuitäten in Kunst und Kultur nicht nur auszustellen, sondern sich den germanischen Geistern der Vergangenheit auch zu stellen. Während eine Präsentation von Ergebnissen künstlerischer und wissenschaftlicher Forschungen es erlaubt hätte, sich durch Distanz aus der Affäre zu ziehen, könnte man unsere Besetzung der Räume im Museum Fridericianum als eine Art kuratorische Familienaufstellung verstehen, die im Sinne eines Ent/lernens Formen des Umgangs mit der Gegenwärtigkeit von Geschichte jenseits von Verdrängung, Schuldabwehr und Selbstreinwaschung erprobte.

In dem experimentellen Setting wollten wir durch Zusammenstellungen heterogener Materialien sowohl neues Wissen schaffen als auch alte Gewohnheiten in Frage stellen, "Körperpanzer"27 knacken und eigene Verstrickungen verstehen lernen - etwa indem wir die Fäden aufnahmen, die braune Pullis im letzten Jahr zu einem Bild für "Menschen mit Nazihintergrund"28 haben werden lassen. Während sie von Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharajah als Zeichen der gegenwärtigen Verstricktheiten von Menschen in braune Vergangenheiten getragen wurden, taucht ein selbstgestrickter Wollpulli in Christian Krachts Roman Eurotrash als ein zunächst harmlos anmutendes Öko-Hippie-Accessoire auf, dass sich dann aber als Produkt einer völkischen, rechtsesoterischen Siedlungsgemeinschaft herausstellt.29 Von hier lassen sich auch die 2021 vor dem Fridericianum demonstrierenden Querdenker:innen, die sich u.a. auch "Freiheit" auf die Fahnen geschrieben hatten, mit Beuys Philosophie - Gleiches mit Gleichem zu heilen - verknüpfen, eine Verfilzung, die in der Ausstellung u.a. durch Tina Turnheims Entnazifizierungsglobuli "Similar Simulus Curentur" aus Beuys-Eichenlaub herausgestellt wurde.

Anliegen der Ausstellung war es auch, eine Alternative zu dem mitunter fast pornografischen Othering "der bösen Anderen" zu etablieren, das nach den Enthüllungen der NS-Biografien mehrerer documenta-Gründungsfiguren besonders in der medialen Berichterstattung zu verspüren war. Wenn man den Zusammenhängen zwischen vergangenen und gegenwärtigen rechten Narrativen und Netzwerken (sowie ihren "un/heimlichen Nachbarschaften" und Querverbindungen bis ins linke Lager) nachgeht, wird deutlich, dass völkische, rassistische, antisemitische und heteropatriarchale Gewalt nicht auf rechtsextreme Einzeltäter:innen reduzierbar ist, sondern im Rahmen diskursiver, ästhetischer, ökonomischer, epistemologischer und institutioneller Infrastrukturen und Praktiken sozial re/produziert und getragen wird. Wider selbstentlastende Weghistorisierungen, Externalisierungen oder Individualisierungen von Verantwortung wäre es im Sinne einer "Gegenwartsbewältigung"30 also wünschenswert, einen Umgang mit Geschichte zu kultivieren, der nicht davor zurückschreckt, die Verwicklung der eigenen Forschungsansätze, Kunstvorstellungen und edukativen Ideale in vergangene und gegenwärtige Machtverhältnisse und epistemologische Regime selbstkritisch zu berücksichtigen.

Anmerkungen

1) Vgl. z. B. Nanne Buurman 2020: "Northern Gothic. Werner Haftmann’s German Lessons, or: A Ghost (Hi)Story of Abstraction", in: documenta studien Nr. 11; https://documenta-studien.de/media/1/documenta_studies__11_nanne_buurman_1.pdf.

2) Armin Mohler 2005 [1950], 6., völlig überarb. und erw. Aufl.: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918-1932, Graz. Seine Schriften werden heute im neurechten Thinktank Institut für Staatspolitik in Schnellroda von Götz Kubitschek verlegt.

3) Die Gruppe ist Teil des Projektes Kunst Forschung Praxis documenta, das von der ehemaligen documenta-Professorin Nora Sternfeld initiiert wurde. Vgl. dazu: https://kunsthochschulekassel.de/willkommen/news/dis-kontinuitaeten-/-dis-continuities.html (Zugriff: 25.10.2022).

4) Helmut Lethen 2009: Unheimliche Nachbarschaften. Essays zum Kälte-Kult und der Schlaflosigkeit der philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert, Freiburg u. a.: 44.

5) Vgl. Friedrich Nietzsche 1988 [1874]: "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" (Unzeitgemäße Betrachtungen, Zweites Stück), in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hg. von Giorgio Colli / Mazzino Montinari, München [u. a.]: 292.

6) Ebd.: Drittes Stück: "Schopenhauer als Erzieher": 351.

7) Ebd.: 354-359.

8) Vgl. Julius Langbehn 1922 [1890]: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen, Weimar: 61. Langbehn war Nietzsche-Fan, reiste nach dessen gesundheitlichem Zusammenbruch 1889/90 zu ihm und war der Meinung, nur er könne ihn heilen. Vgl. Fritz Stern 1986: "Julius Langbehn und der völkische Irrationalismus", in: ders.: Kulturpessimismus als Politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, München: 139.

9) Vgl. Julius Langbehn 1922: Rembrandt als Erzieher, von einem Deutschen, 50. Auflage, Autorisierte Neuausgabe, Leipzig.

10) Vgl. Christian Stass 2021: "Die Zeit und die NS-Zeit", in: Die Zeit 19, siehe: https://www.zeit.de/2021/19/nationalsozialismus-die-zeit-zeitung-ns-geschichte-75-jahre-zeit/komplettansicht.

11) Vgl. Werner Haftmann 1946: "Gespräche zur Schulreform", in: Die Zeit 35, Ausgabe vom 17. Oktober 1946.

12) Vgl. ders. 1950 [1947]: "Machiavelli und die Artistik des Politischen", in: Frankfurter Hefte 5, H. 5; Wiederabdruck in: ders. 1960: Skizzenbuch. Zur Kultur der Gegenwart, München: 14-19.

13) Vgl. Frank Gieseke /Albert Markert 1996: Flieger, Filz und Vaterland. Eine erweiterte Beuys-Biografie, Berlin.

14) Vgl. dazu die vierbändige Beuys-Biografie von Hans Peter Riegel; insb. ders. 2013: Beuys. Die Biographie (Bd. 1), Berlin: 232-236, 269-277; vgl. auch Richard Stöss 1980: Konservative Revolution gegen den Basiskonsens. Vom Nationalismus zum Umweltschutz. Die Deutsche Gemeinschaft / Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher im Parteiensystem der Bundesrepublik, Opladen.

15) Vgl. Joseph Beuys 1985: Sprechen über Deutschland, Wangen.

16) Beat Wyss 2018: "Der ewige Hitlerjunge", in: Monopol, https://www.monopol-magazin.de/der-ewige-hitlerjunge (Zugriff: 25.10.2022).

17) Joseph Beuys 1985 (s. Anm. 15): 9-12.

18) Vgl. Julius Langbehn 1922 (s. Anm. 9): 373; 380.

19) Joseph Beuys 1985 (s. Anm. 15): 11.

20) Micha Brumlik 2016: "Das alte Denken der neuen Rechten. Mit Heidegger und Evola gegen die offene Gesellschaft", in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 3; https://www.blaetter.de/ausgabe/2016/maerz/das-alte-denken-der-neuen-rechten (Zugriff: 26.10.2022).

21) Joseph Beuys 1985 (s. Anm. 15): 16.

22) Ernst Bloch 1959: "Wunschbild im Tanz, die Pantomime und das Filmbild", in: ders.: Das Prinzip Hoffnung (Gesamtausgabe in 16 Bänden, Bd. 5), Frankfurt am Main: 458.

23) Vgl. https://documenta-studien.de/in-freiheit-dressiert (Zugriff: 25.10.2022).

24) Judith Butler 1997: "Gender is Burning: Questions of Appropriation and Subversion", in: Anne McClintock / Aamir Mufti / Ella Shohat (Hg.): Dangerous Liaisons: Gender, Nation, and Postcolonial Perspectives, Minneapolis: 388f [eigene Übersetzung].

25) Das Programm widmete sich dem Kuratorischen als probend-forschende Praxis; vgl. https://showandtryagain.kdk-leipzig.de/ (Zugriff: 25.10.2022).

26) Vgl. https://www.kasselerkunstverein.de/ausstellung/kkvexh/detail/kkv/wir-alle-sind-gespenster (Zugriff: 30.05.2022).

27) Vgl. Klaus Theweleit 1977: Männerkörper. Zur Psychoanalyse des weißen Terrors (Männerphantasien, Bd. 2), Basel.

28) Vgl. Moshtari Hilal / SinthujanVaratharajah 2021: "Kapital und Rassismus bei Menschen mit Nazihintergrund", Gespräch auf Instagram im Februar; https://www.instagram.com/tv/CLU2dZiqvMGF9mX AtGJDx4Bpkjv_nYWV2IYs2w0/ (Zugriff: 30.05.2022).

29) Christian Kracht 2021: Eurotrash, Köln.

30) Max Czollek 2020: Gegenwartsbewältigung, München.

Nanne Buurman, M. A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin für documenta- und Ausstellungsstudien, Kunsthochschule Kassel, Forschung zu kuratorischen Praktiken, künstlerische Forschung, Gender, Arbeit, Macht und Globalisierung im Feld der zeitgenössischen Kunst, Epistemologie und Ökonomie des Kuratorischen, Geschichte und Gegenwart des Ausstellens, NS-Kontinuitäten in Kunst- und Kultur, Medialität historiografischer Praktiken, Institutions- und Infrastrukturkritik.