Klingbeils Imperativ und Ischingers Handreichung

Bei der Berliner Tiergartenkonferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung am 21. Juni 2022 hat es sich der SPD-Kovorsitzende Lars Klingbeil in einer Grundsatzrede angelegen sein lassen, die Feststellung seines Parteifreundes und Bundeskanzlers Olaf Scholz, wonach die unmittelbarste nachwirkende Folge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine das Eintreten einer Zeitenwende sei, seinerseits zu erklären. In diesem Kontext gab er die Erkenntnis zum Besten: „Wir stehen vor einer riesigen Gestaltungsaufgabe.“ Klingbeil untersetzte sie mit dem Imperativ: „Deutschland muss den Anspruch einer Führungsmacht haben.“ Im Hinblick auf die Gestaltungsinstrumente bekannte er: „Friedenspolitik bedeutet für mich, auch militärische Gewalt als ein legitimes Mittel der Politik zu sehen.“

„Wie hat er das gemeint?“, fragte Die ZeitDie Welt, weit weniger zögerlich, applaudierte stante pede: „[…] bemerkenswerte neue Grundsätze für die Außenpolitik seiner Partei“. Die britische Times hingegen menetekelte, Klingbeil wolle, dass Deutschland „wieder eine Großmacht werde“.

Seither ist es um den Klingbeilschen Paukenschlag allerdings erst einmal still geworden.

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Wolfgang Ischinger war bundesdeutscher Spitzendiplomat (unter anderem Botschafter in den USA) und leitete bis Frühjahr dieses Jahres die Münchner Sicherheitskonferenz, was ihn als Kompetenzträger ausweist. Mit Ischingers Weltsicht hat sich der Autor bereits vor Längerem beschäftigt – anlässlich des Erscheinens von dessen „Welt in Gefahr. Deutschland und Europa in unsicheren Zeiten“ (Blättchen 22/2018). Jetzt ist Ischinger Pensionär, bringt seine Expertise aber nach wie vor ein, wie er womöglich selbst formulieren würde, um diplomatisch anzudeuten, dass in jedem Falle Substanzielles erwartet werden darf. Sein jüngster Beitrag erschien in Foreign Affairs, dem führenden außenpolitischen Magazin der USA, und dreht sich keineswegs nur um das titelgebende Thema „Germany’s Ukraine Problem“.

Vielmehr sieht Ischinger „Deutschland in einer Zeit der Ungewissheit in der Europäischen Union in einer guten Position, um eine entscheidende Führungsrolle zu übernehmen, […] auch in Bezug auf die allgemeinen Sicherheitsherausforderungen der EU“. Denn: „Da das Vereinigte Königreich nach dem Brexit weiterhin wütende gegenseitige Schuldzuweisungen mit Brüssel austauscht, der französische Präsident Emmanuel Macron etwas von seiner Starqualität eingebüßt hat und Italien die zuverlässige Amtsführung von Ministerpräsident Mario Draghi abrupt beendet hat und zu politischer Volatilität zurückgekehrt ist, fragen sich viele, ob Berlin wieder bereit ist zu führen.“ Wohin geführt werden soll, daran lässt Ischinger keinen Zweifel: Die EU müsse „besser in der Lage sein, militärisch zu handeln“.

Einen optimalen Ausgangspunkt, dieses Ziel unter deutscher Führung zu erreichen, sieht Ischinger vor allem in der Rolle des Landes für die globalstrategische Machtprojektion der USA: „Deutschland ist zweifellos gut gerüstet, um eine solche Anstrengung anzuführen: Seit 70 Jahren stellt es die wichtigsten Stützpunkte für die US-Militärpräsenz in Europa, und sein Militär ist vollständig in die NATO-Strukturen integriert. Bei einem militärischen Notfall in Europa wäre Deutschland der offensichtliche strategische und logistische Knotenpunkt für die Vereinigten Staaten.“ Ob er vor diesem Hintergrund davon ausgeht, dass Washington eine deutsche Führungsrolle in EU-Europa unterstützen würden, lässt Ischinger offen. Dankbar darf man dem Autor allerdings für seinen direkten Bezug auf einen „militärischen Notfall in Europa“ sein, wofür nach derzeitiger Lage in erster Linie ein unmittelbarer kriegerischer Konflikt zwischen der NATO und Russland infrage käme. Damit stützt Ischinger die in diesem Magazin jüngst geäußerte Befürchtung, dass Deutschland angesichts der allgemeinen konventionellen Unterlegenheit Moskaus gegenüber dem westlichen Bündnis schon in der Frühphase eines solchen Konfliktes bevorzugtes Zielgebiet für russische Vernichtungsschläge gegen zentrale militärische Infrastruktureinrichtungen wäre (Blättchen 15/2022).

Zugleich betont Ischinger, dass ein solcher militärischer Notfall aus dem Ukraine-Konflikt erwachsen könnte: „[…] selbst wenn die NATO keine direkte Rolle in dem Konflikt spielt, bestehen für Deutschland Risiken: Durch Waffenlieferungen an Kiew könnten sich Deutschland und andere Länder zur Zielscheibe einer möglichen russischen Eskalation machen.“ Die quasi Gretchenfrage in diesem Zusammenhang laut Ischinger: „Wird Russland beispielsweise die Lieferung von Artillerie und Munition tolerieren, nicht aber von Kampfflugzeugen oder großen Panzern westlicher Bauart?“ Und wird, so ist man versucht zu ergänzen, Moskau endlos hinnehmen, dass die USA nicht nur Mehrfachraketenwerfer vom Typ HIMARS an die Ukraine liefern, sondern zugleich aktiv deren Zielführung betreiben, da Kiew nicht über die erforderlichen elektronischen oder gar weltraumbasierten Aufklärungsmittel verfügt?

Doch zurück zur Führungsrolle Deutschlands – für Klingbeil, wie gesagt, ein Imperativ, auch für Ischinger zweifellos höchst wünschenswert.

Stellt sich die Frage nach möglichen Hindernissen und Bedingungen auf dem Weg zum Ziel. Da ist Ischinger konkreter als der SPD-Politiker. Was bei dem lediglich als Bekenntnis zu einer speziellen Art von Friedenspolitik daherkommt, das ist bei Ischinger conditio sine qua non: Um die Chance auf eine Führungsrolle „nutzen zu können, muss die deutsche Regierung jedoch die Abneigung des Landes gegen den Einsatz militärischer Gewalt […] überwinden“. Diese Bedingung muss man nun nicht unbedingt als nie mehr deutsche Stimmenthaltung im UN-Sicherheitsrat, wenn wieder mal ein misshelliges Regime weggebombt werden soll (wie im Falle Libyens) oder als gefälligst immer an der Seite der USA, selbst wenn diese ohne UN-Mandat, also völkerrechtswidrig, militärisch intervenieren (wie im Falle Irak) interpretieren, doch in die Richtung an sich geht Ischingers Einlassung schon. Damit nicht genug, hat er offenbar auch eine eigenständige Fähigkeit der EU zu entsprechenden Aktionen vor Augen, wenn er schreibt, die EU müsse ertüchtigt werden, „militärisch zu handeln, wenn die NATO nicht in der Lage oder nicht willens dazu ist“. Im Übrigen – was daraus werden kann, wenn selbst für einen SPD-Kovorsitzenden „militärische Gewalt […] ein legitimes Mittel“ von Friedenspolitik ist, darüber muss kaum spekuliert werden. Mit einem solchem Ansatz lassen sich die Erfolge entsprechender Friedenspolitik wie in Afghanistan und Mali, um nur zwei Beispiele zu nennen, beliebig oft wiederholen.

Ischinger sieht jedoch eine zweite unerlässliche Voraussetzung für den Weg zur Führungsmacht Deutschland – das Einstimmigkeitsprinzip in der EU müsse fallen. Der Grund liegt auf der Hand: „Nach den derzeitigen Protokollen erfordert jede außenpolitische Entscheidung der EU die einstimmige Unterstützung aller Mitgliedstaaten; jedes einzelne Mitglied kann ein Veto einlegen, das Maßnahmen verhindert.“

Völlig richtig. Solange gemeinsames EU-Handeln Einstimmigkeit im Kreise der 27 Mitgliedstaaten voraussetzt, lässt sich zwar wohlfeil klagen, „deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit“, wie es Polens früherer Außenminister Radosław Sikorski vor Jahren tat, doch im Falle des Falles kann mittels Veto Untätigkeit weiterhin jederzeit „verordnet“ werden. Mehr noch – das Einstimmigkeitsprinzip hat schon seit den Gründungsjahren der EU-Vorläuferin EWG (zunächst überwiegend intern, inzwischen längst auch öffentlich) immer wieder in der Kritik gestanden. Also seit nunmehr 65 Jahren. Doch dass es, solange es existiert, zugunsten von Mehrheitsentscheidungen abgeschafft werden könnte, ist heute, wo nicht mehr nur sechs, sondern 27 Zustimmungen erforderlich wären, schwerer vorstellbar denn je.

Den daraus sich ergebenden circulus vitiosus hat auch Ischinger vor Augen und schlägt daher vor: „Eine Möglichkeit, Fortschritte zu erzielen, bestünde darin, dass Scholz einfach erklärt, dass Deutschland in einer 26:0-Situation kein Veto einlegen, sondern sich stattdessen der Stimme enthalten wird, und andere auffordert, diesem Beispiel zu folgen.“ Doch dieser Vorschlag ist eher Ausdruck von Hilflosigkeit als tatsächlicher Ansatz zur Lösung des Problems. Es ist schlechterdings nicht zu erwarten, dass sich Staaten bei Entscheidungen, durch die sie ihre eigenen Interessen gefährdet sehen, der Stimme enthalten und die Entscheidung passieren lassen, anstatt mit Nein einfach zu blockieren …

Diese Sachlage mag für Klingbeil, Ischinger und andere Befürworter einer EU-Führungsrolle Deutschlands ein steter Quell des Missvergnügens bleiben, doch in einer Welt, in der Schlimmes und Schlimmstes bereits übergenug passiert, ist es vielleicht nicht das Übelste, wenn ein weiterer Akteur zumindest daran gehindert wird, dabei „nicht nur an den Grenzen Europas, sondern in der ganzen Welt“, wie es Ischinger vorschwebt, noch aktiver mitzumischen als eh schon.