„Les Préludes“ im Ohr und den Endsieg im Visier?

Was deutsche Medien an Nachrichten zum Ukraine-Krieg abliefern, in Sonderheit an Kommentierungen zu den Konsequenzen, die daraus für das Verhältnis zwischen dem Westen und Russland zu ziehen sind, erinnert im Duktus zu nicht geringen Teilen bereits seit längerem an Kriegsberichterstattung unseligen Angedenkens. Als ob etliche Verfasser beim Schreiben bereits wieder „Les Préludes“ im Ohr und den Endsieg im Visier hätten.

Im Juli orakelte Eckhart Lohse in der FAZ, dass „es eine neue Wirklichkeit gibt, die einer sehr alten Wirklichkeit wieder nahe kommen kann“. Und für die Nachgeborenen, denen der Verlauf des Zweiten Weltkrieges nicht mehr gar so präsent ist, im Klartext: „Deutschland muss nicht nur der Ukraine helfen, sondern sich auf Panzerschlachten […] im eigenen Land“ einrichten.

Jüngst zeigte das Titelbild des Magazins Focus, Ausgabe 35/2023, den Berliner Reichstag mit einem übergestülpten Stahlhelm unter der Headline „Der Ernstfall“. Mit der Kopfzeile „Was, wenn Putin uns angreift?“ Im zugehörigen Beitrag raunte Claudia Major, promovierte Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), der Denkfabrik der Bundesregierung, unheilschwanger: „Einen Angriff Russlands auf Nato-Territorium kann man nicht ausschließen.“ Allerdings: „Derzeit würden Putins Streitkräfte [sic!] noch die Fähigkeit für einen derartigen Überfall fehlen.“ Daher raunte für alle, die den Schuss immer noch nicht hören wollen, Focus nach: „Noch.“ Zu weiteren Auffassungen der Frau Major siehe übrigens Blättchen 18/2023.

Bereits der Anfang des genannten Beitrags wäre an Dramatik kaum zu toppen gewesen: „Rostock droht zu fallen. Feindliche Truppen haben die Grenze überquert und halten einen Teil der Republik besetzt. Jetzt rücken sie auf den wichtigen Ostseehafen vor. Die Nato hat den Bündnisfall ausgerufen […]“ So die Manöverlage bei „Air Defender 23“, der größten Luftkriegsübung der NATO in ihrer gesamten bishrigen Geschichte, die im Juni 2023 vornehmlich über Norddeutschland stattfand. Wie es den von Osten – woher sonst?  – vorrückenden feindlichen Truppen und vor allem mit welchen Kräften zuvor gelungen sein mag, quasi ganz Polen zu überrennen, war der geballten Kompetenz der neun Autoren des Beitrags keine Nachfrage wert. Doch warum dem Manövergegner der Name Occasus (lateinisch gleich Verderben) verpasst worden war, das enthüllten sie natürlich: „Verderben steht für Russland.“ Denn der Westen steht vor der Frage: „Droht eine Offensive aus dem Osten nicht schon morgen?“ Sir John Hackett, der vor 45 Jahren mit einem vergleichbaren Startszenario wie die jetzigen NATO-Übung schon mal den Dritten Weltkrieg für den Westen gewonnen hatte, dürfte sich im Grabe begeistert auf die Schenkel schlagen. Man lese dazu in den Spiegel-Ausgaben 44, 45 und 46/1978 nach.

In der gegenwärtigen, vom völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Moskaus gegen die Ukraine geprägten militärischen Realität in Europa hingegen haben die russischen Streitkräfte seit Februar 2022 vor allem das unter Beweis gestellt, was sie offenkundig nicht vermögen, weil ihnen dazu augenscheinlich sowohl die personellen Kräfte als auch die militärtechnischen Mittel und das strategische Know How fehlen: erfolgreich raumgreifende konventionelle Offensivoperationen zu führen. Dafür haben russische und westliche Experten schon frühzeitig eine Reihe von Ursachen ausgemacht, unter anderem:

– einen unzureichenden Ausstattungsgrad an modernsten konventionellen Großwaffensystemen; bis vergangenes Jahr waren zum Beispiel weder der auch in westlichen Medien bereits vor Jahren gehypte neue Kampfpanzer T-14 Armata noch das seit langem in der Erprobung befindliche Tarnkappen-Mehrzweckkampfflugzeug der fünften Generation Suchoi Su-57 in Serienproduktion gegangen oder gar in relevanter Stückzahl eingeführt;
– die ungenügenden Reichweiten russischer Artilleriesysteme;
– eine mangelnde Verfügbarkeit an Präzisionswaffen und entsprechenden Zielgeräten;
– unzulängliche Fern- und Zielaufklärungskapazitäten, insbesondere auch weltraumbasierter Art;
– die Unfähigkeit der russischen Streitkräfte, die ukrainische Luftabwehr durchgängig auszuschalten und die Lufthoheit über ukrainischem Gebiet zu erringen.

Die militärische Realität in Europa ist darüber hinaus aber vor allem dadurch gekennzeichnet, dass die NATO den russischen Streitkräften im konventionellen Bereich bei allen relevanten Komponenten und Faktoren uneinholbar überlegen ist. Das war bereits der Fall, bevor Finnland und Schweden als zwei weitere militärisch potente Staaten dem Bündnis beigetreten sind. Eine ausführliche Darstellung dieser Überlegenheit findet sich im Blättchen 15/2022. Seit Beginn des Ukraine-Krieges hat sich dieses Ungleichgewicht durch die immensen Verluste Russlands an Menschen und Material drastisch weiter zulasten Moskaus verschoben. Wenn sich also der amtierende estnische Verteidigungsminister Hanno Pevkur gegenüber Russlands Präsident Putin geharnischt in die Brust wirft („Wage es nicht, es mit uns aufzunehmen!“), dann ist das Theaterdonner, pubertäres Imponiergehabe, um nicht zu sagen – lächerlich.

Sind all diese Fakten solchen Experten wie Claudia Major und Eckhart Lohse vielleicht nicht bekannt? Die Frage stellen, heißt sie beantworten … Warum liefern jedoch Major, Lohse & Co. dann die Begleitmusik zur aktuellen Aufrüstungshysterie des Westens? Das ist selbst nach der Logik der Abschreckung, die von Experten dieser Provinienz gern bemüht wird, nicht eingängig. Denn sie – gleich ihren Vorgängern im Geiste – können die Frage, wie im Falle eines Versagens der Abschreckung die Eskalation auf die atomare Ebene und damit die allgemeine nukleare Vernichtung zu verhindern wären, schon seit Jahrzehnten nicht beantworten.

Seit dem jüngsten NATO-Gipfel sind zwei Prozent des Bruttosozialproduktes je Mitgliedstaat für Militärausgaben nicht mehr bloß Ziel, sondern gemeinschaftlich beschlossenes Minimum. Das wird zu einem weiteren gewaltigen Rüstungsschub gegenüber einem Feind führen, der schon heute in einer direkten konventionellen Konfrontation mit der NATO nicht gewinnen könnte. Dies wiederum wird im Falle des Falles zwangsläufig den Zeitraum weiter verkürzen, bis hoffnungslos unterlegene russische Frontkräfte die Moskauer Führung zur ultima ratio greifen lassen. Siegen wird die NATO also auch künftig nicht, denn das kann Russland ihr als atomare Supermacht allemal verwehren.

Für dieses existenzielle sicherheitspolitische Dilemma wird es angesichts des singulären Vernichtungspotenzials von Kernwaffen in Zukunft ebenso wenig eine militärische Lösung geben wie in den seit Beginn des Nuklearzeitalters bereits vergangenenJahrzehnten. Ein politischer Modus vivendi des friedlichen Umgangs miteinander bleibt daher unumgänglich.

Zwar muss der 1975 mit der Schlussakte von Helsinki eingeleitete entsprechende Versuch als gescheitert angesehen werden, doch um einen neuen Anlauf führt kein vernünftiger Weg herum. Das in dieser Ausgabe veröffentlichte gemeinsame Papier von Peter Brandt, Hajo Funke, Harald Kujat und Horst Teltschik liefert dafür diskutable Ansatzpunkte.