Machtkampf in der Ukraine

Gerd Bedszent stellt uns eine überarbeitete und aktualisierte Version seines Artikels aus der Zeitschrift BIG Business Crime 02/2014 zur Verfügung.

Vorgeschichte

Gleich vorab: Eine detaillierte Darstellung der Entstehung des heutigen ukrainischen Staates kann hier nicht geliefert werden. Diese würde den zur Verfügung stehenden Umfang des Artikels sprengen. Nur soviel: In der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (1922-1991) wurden Territorien mit höchst unterschiedlicher Historie zusammengefasst. Der Osten der heutigen Ukraine war lange Zeit umkämpftes Grenzland zwischen der polnischen Krone und dem russischen Zarenreich. Er kam nach einem Kosakenaufstand im Jahre 1654 zu Russland. Weitere Gebiete in der heutigen Zentralukraine und im Süden wurden im 18. Jahrhundert als Folge der polnischen Teilungen und der Zerschlagung des Khanats der Krimtataren von Russland annektiert.

Der Westen der heutigen Ukraine gehörte dann lange Zeit zum österreich-ungarischen Habsburgerreich und wurde nach dessen Zerfall zwischen Polen, der Tschechoslowakischen Republik und Rumänien aufgeteilt. Den ukrainischsprachigen Teil Polens besetzte die Sowjetunion 1939 nach dem deutschen Überfall. Die zeitweise tschechoslowakische Karpatho-Ukraine wurde 1939 von Ungarn annektiert und kam dann 1945 ebenfalls zur Ukrainischen Sowjetrepublik. Die mehrheitlich russischsprachige Autonome Sowjetrepublik Krim (1921-1945) wurde aufgrund eines Dekretes von Generalsekretär Nikita Chrustschow im Jahre 1954 aus der Russisch-Föderativen Sowjetrepublik (RFSSR) ausgegliedert und dafür der Ukrainischen Sowjetrepublik angeschlossen.

Aus der unterschiedlichen Geschichte der einzelnen Regionen resultiert noch heute ein heftiges Wirtschaftsgefälle von Ost nach West. Im rohstoffreichen Donezbecken im äußersten Osten der Ukraine wurde seinerzeit ein umfänglicher Zweig der sowjetischen Schwerindustrie aus dem Boden gestampft. Da es eine Grenze zwischen den einzelnen Sowjetrepubliken faktisch nur auf dem Papier gab, wanderten im Zuge der Industrialisierung zahlreiche Russen in den Osten der Ukraine ein; sie bilden derzeit eine Minderheit von etwa 17 %. Die übrigen Teile der Ukraine blieben im Wesentlichen agrarisch geprägt. Noch heute wird der übergroße Teil des Bruttoinlandproduktes der Ukraine im stark russisch geprägten Osten erzeugt. Der Export, hauptsächlich von Kohle und Stahl, verlagerte sich in den 1990er Jahren stark von Russland nach Westeuropa.

Mehrere die Wirtschaft des Donezbeckens kontrollierende Oligarchen haben bis in die Gegenwart hinein entscheidenden Einfluss auf die Regierungspolitik des Landes. Die politischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre sind nicht zuletzt Versuche, die Macht dieser Oligarchengruppe zu brechen.

Die Wirtschaft der Ukraine ist stark von Erdgaslieferungen aus Russland abhängig. Versuche des russischen Konzerns GAZPROM, seine Erdgaspreise auf Weltmarktniveau anzuheben, führten in der Vergangenheit zu schweren politischen Konflikten zwischen beiden Staaten.

Überlagert wird dieser Konflikt durch die Historie: Von großen Teilen der westukrainischen Bevölkerung wird die Zugehörigkeit zur Sowjetunion heute als aufgezwungene Fremdherrschaft betrachtet, während die Bevölkerung der Ostukraine diese Jahrzehnte hauptsächlich als eine Zeit wirtschaftlichen Aufschwungs erlebte.

Russland: Von der Sowjetunion zum Ölimperium

Das ehemalige Zarenreich wurde unter der Herrschaft der Bolschewiki einem gigantischen, zum Teil mit brutaler Gewalt durchgesetzten Modernisierungsprogramm unterzogen. Lenins kurze, wenn auch nur bedingt zutreffende Definition "Kommunismus ist gleich Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes" galt als ideologischer Leitfaden. Die schon in der zaristischen Zeit bestehenden Disproportionen zwischen den einzelnen Landesteilen wurden allerdings nicht vollständig beseitigt. Es gab Regionen, in denen zuletzt Schwerindustrie dominierte, andere waren mehr agrarisch geprägt, wieder andere dienten überwiegend als Rohstofflieferanten. Aus dieser Ausgangslage resultierte die nach dem Zerfall der Sowjetunion sehr unterschiedliche Entwicklung der einzelnen Teilrepubliken, auch ihre Konflikte, die teilweise den Charakter von Wirtschaftskriegen annahmen.

Im Zuge der Krise der sowjetischen Volkswirtschaft der 1980er Jahre und des Scheiterns der unter Generalsekretär Michail Gorbatschow propagierten "Perestroika" kam es in der sowjetischen Elite zu einer Renaissance wirtschaftsliberalen Denkens. Der linke russische Politologe Boris Kagarlitzki schilderte beispielsweise 1988 die Begegnung mit einem konservativen britischen Berater, der zuvor die neoliberalen Grausamkeiten der Regierung Thatcher maßgeblich mitgestaltete, sich nun in Moskau aber plötzlich als Verfechter von staatlichem Dirigismus wiederfand: "Was Ihre Ökonomen für Meinungen vertreten, ist einfach unsinnig. Sie glauben allen Ernstes, die Wirtschaft könne auf staatliche Eingriffe verzichten, man brauche zum Beispiel nur die Subventionen für die Landwirtschaft zu streichen, und alles ist in Ordnung. Die Leute haben nicht die geringste Ahnung, welch schreckliche Folgen eine solche Politik haben kann." (s. Boris Kagarlitzki: "Der gespaltene Monolith. Die russische Gesellschaft an der Schwelle zu den neunziger Jahren", Edition KONTEXT, 1991, Seite 5f)

Solche berechtigten Einwände dürften allerdings mehr die Ausnahme gewesen sein. Tatsächlich wurde von Vertretern der führenden westlichen Staaten maßgeblich auf eine neoliberale Schocktherapie in Osteuropa hingearbeitet, der Noch-Generalsekretär Gorbatschow auf dem G7-Gipfel von 1991 gezielt unter Druck gesetzt. ( Ausführlich siehe Naomi Klein: "Die Schock Strategie. Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus", Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2009, Seite 303ff) Als Gorbatschow zunächst noch zögerte, wurde er in der Folge eines missratenen Putschversuches der alten Nomenklatura durch den ehemaligen Moskauer Parteichef Boris Jelzin ersetzt. 

Jelzin waren Skrupel unbekannt; er löste im Dezember 1991 durch einen Federstrich die Sowjetunion auf und ließ sich vom russischen Parlament zeitlich befristete Sonderbefugnisse zwecks Durchführung liberaler Wirtschaftsreformen erteilen. Als sich die ersten desaströsen Folgen zeigten, versuchte eine Mehrheit der gewählten russischen Parlamentarier die Notbremse zu ziehen.

Am 4. Oktober 1993 errichtete Jelzin daraufhin eine Präsidialdiktatur, ließ Truppen aufmarschieren und unter dem Beifall westlicher Beobachter das Parlamentsgebäude von Panzern zusammenschießen. Etwa 500 Menschen kamen bei dem Staatsstreich ums Leben. Die militärisch durchgesetzte Änderung der russischen Verfassung hat bis heute Bestand. Damals wurde ihre Einführung westlicherseits bejubelt, heute gilt sie in den meisten Medien als Relikt des Sowjetsystems.

Der weiteren Umsetzung der Schocktherapie stand danach nichts mehr im Wege. Die osteuropäischen Gesellschaften transformierten sich zu einem grandiosen Experimentierfeld neoliberaler Wirtschaftsstrategen. Eine ganze Generation frischgebackener Universitätsabsolventen und gewesener Komsomolfunktionäre wurde auf ehemals volkseigene Betriebe losgelassen, bar jeder naturwissenschaftlichen und technischen Grundkenntnisse, dafür aber randvoll abgefüllt mit Thesen über die Schädlichkeit staatlicher Eingriffe in die freie Entfaltung einer sich selbst regulierenden Privatwirtschaft. Und außerdem getrieben von dem unstillbaren Zwang, sich persönlich zu bereichern.

Die Folgen waren entsprechend. Die industrielle Produktion in Russland brach massiv ein, betrug im Jahre 2000 nur noch 57 % des Standes von 1990; das reale Geldeinkommen der Bevölkerung halbierte sich. (s. Frank Deppe: "Autoritärer Kapitalismus. Demokratie auf dem Prüfstand. VSA Verlag, Hamburg 2013, Seite 196.) Zeitgleich explodierte die Kriminalität. Wie Boris Kagarlitzki später schrieb, wurden die meisten sowjetischen Unternehmen für weniger als ein Prozent ihres Marktpreises privatisiert. (s. Boris Kagarlitzki: "Back in the USSR", Edition Nautilus, Hamburg 2012, Seite 10)

Unter Jelzin sank Russland nicht nur von einer Industriemacht auf den Stand eines Schwellenlandes zurück. Die verbliebenen Teile der Wirtschaft gerieten außerdem in die Hände einer Schicht von Oligarchen, die sich auf Kosten der verarmenden Bevölkerung schamlos bereicherten. Die russische Politologin Olga Kryschtanowskaja beschrieb die neu entstandenen Machtverhältnisse wie folgt: "Am Beginn des 21. Jahrhunderts ist die russische Wirtschaftselite eine abgekapselte Personengruppe, die mit Genehmigung des Staates riesige Kapitalien und ganze Industriebranchen kontrolliert." (s. Olga Kryschtanowskaja: "Anatomie der russischen Elite. Die Militarisierung Russlands unter Putin", Kiepenheuer und Witsch, Köhn 2004, Seite 198)

Unter Nutzung ihres unter fragwürdigen Umständen erworbenen Vermögens erlangten die Oligarchen immer mehr politische Macht, rissen Ämter an sich und gerierten sich in den von ihnen kontrollierten Regionen als Alleinherrscher. Der Oligarch und spätere Milliardär Wladimir Potanin wurde beispielsweise im Jahre 1996 Stellvertreter des russischen Ministerpräsidenten, zahlreiche andere Oligarchen ließen sich als Gouverneure, Präsidenten von Teilrepubliken und von Autonomen Bezirken einsetzen.

Den Tiefpunkt erreichte Russland 1998, als es seine Staatsschulden nicht mehr begleichen konnte und die Währung zusammenbrach. (s. Kagarlitzki 2012, Seite 19) Der neue Ministerpräsident und wegen Jelzins wodkabedingter Amtsunfähigkeit amtierende Vizepräsident Jewgeni Primakow trat die Flucht nach vorn an und versuchte mittels eines keynesianistischen Konjunkturprogrammes die Reste der russischen Wirtschaft zu stabilisieren, was ihm auch gelang.

Mit dem Bankencrash von 1998 verschwand jener Teil der Oligarchen, der bis dahin die russische Finanzindustrie dominiert hatte, für immer von der Bildfläche. Die Zahl der russischen Banken schrumpfte drastisch. Es kam in der Führungsspitze zu einem Machtwechsel. Das Sagen hatten nunmehr Oligarchen, die sich der verbliebenen Industrieunternehmen bemächtigt hatten. Als Interessenvertreter dieser Schicht setzte sich nach dem Abgang Jelzins sein Zögling Wladimir Putin durch. Diesem gelang es, allerdings mittels fragwürdiger Methoden, den wirtschaftlichen Niedergang und Verfall der russischen Staatsmacht aufzuhalten, teilweise sogar umzukehren.

Die derzeit durch die Medien geisternden Einschätzungen Putins als postsozialistischer Diktator und neuer Stalin stammen allesamt aus dem Vokabular des Kalten Krieges und sind keinen Pfifferling wert. Der ehemalige KGB-Offizier Putin, der in den 1990er Jahren im Windschatten seines Förderers Jelzin stufenweise die Leitersprossen der Macht erklomm, machte nie irgendwelche Anstalten, den 1992 eingeschlagenen Kurs rabiater Privatisierungen wieder rückgängig zu machen. Sein Ziel war lediglich, die wirtschaftliche Macht Russlands – auch im Interesse der Oligarchen – zu stabilisieren, lokale Alleinherrscher wieder unter die Regierungsgewalt zu zwingen, den unter Jelzin entstandenen "Mafiakapitalismus" zu zivilisieren und einen neuen Finanzcrash zu verhindern. Die Schere zwischen Arm und Reich verbreiterte sich auch in Putins Russland immer weiter, die Zahl der Dollar-Milliardäre stieg und steigt stetig an. (s. Frank Deppe, Seite 207f)

Putin setzte schon sehr früh vorrangig auf den Export von Erdöl und Erdgas – die meisten Lagerstätten sind noch immer im Staatseigentum, eine knappe Mehrheit der Aktien des Konzernriesen GAZPROM ebenfalls. Der Anstieg der Ölpreise nach 2000 machte Russland wieder zum Globalplayer. Von den erwirtschafteten Petrodollars finanziert Putin den größten Teil seines Staatshaushaltes. Die Exportpreise von GAZPROM liegen teilweise um das Mehrfache höher als die innerhalb Russlands berechneten Binnenpreise. Der Konzern wirkt so als Motor der russischen Wirtschaft.

Oligarchen, die den veränderten Kurs und Putins zaghafte Reformen des politischen Überbaus nicht mittrugen, erfuhren eine rabiate Behandlung. Dazu bediente Putin sich vorrangig der Justiz: Da die Vermögen der neuen russischen Oberschicht allesamt kriminelle Wurzeln hatten, reichte zumeist ein kurzer Besuch der Staatsanwaltschaft, um den Betreffenden auszuschalten. Verschiedene Oligarchen setzten sich daraufhin mitsamt ihrem milliardenschweren Vermögen ins Ausland ab, andere landeten tatsächlich hinter Gittern. Wieder andere konnten sich mit einem Teil ihrer illegal erworbenen Milliarden freikaufen, verloren aber entscheidend an politischem Einfluss. Die Vermögen der entmachteten Oligarchen wurden allerdings nicht rückverstaatlicht, sondern unter anderen Oligarchen verteilt, die die Zeichen der Zeit schneller erkannt hatten und das Regime Putin stützten.

Diese Verfahrensweise hat natürlich nur wenig mit bürgerlicher Rechtstaatlichkeit und schon gar nichts mit Sozialismus zu tun, erinnert eher an den Umgang Iwan des Schrecklichen mit widerspenstigen Bojaren. Putin ist als aufgeklärter Herrscher allerdings in der Neuzeit angekommen – in Russland werden seit 18 Jahren keine Todesurteile mehr vollstreckt.

Die Ergebnisse von Putins Wirtschaftspolitik kann man allerdings nur als Erfolgsgeschichte bezeichnen. Gemäß offiziellen russischen Angaben hat sich zwischen den Jahren 2000 und 2010 das russische Bruttosozialprodukt fast verdoppelt, das Außenhandelsvolumen mehr als vervierfacht. Das Lohnniveau verdoppelte sich, das Rentenniveau verdreifachte sich, die Armutsrate wurde halbiert, die Kriminalität sank, wenn auch nur geringfügig. (Genaue Zahlen siehe Frank Deppe, Seite 206) All diese Zahlen sind natürlich mit Vorsicht zu bewerten, da sie auf dem Ausgangspunkt eines Zusammenbruchs am Ende der Ära Jelzin basieren und eventuell auch etwas geschönt sind. Aber immerhin scheint Russland aus der Talsohle herausgekommen zu sein und seit 2000 ist in einigen Bereichen eine "deutliche Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse erkennbar". (s. Frank Deppe, Seite 196f)

Eine staatlich gelenkte und auf der Basis von Rohstoffexport florierende Wirtschaft ist neoliberalen Hardlinern natürlich ein Gräuel. Zudem tangiert der zunehmend global agierende russische Handel natürlich die Interessen anderer Wirtschaftsmächte. Russland ist mittlerweile der weltweit zweitgrößte Erdölförderer nach Saudi-Arabien, außerdem weltweit größter Erdgasexporteur. Ein Großteil von in Europa verbrauchtem Erdöl und Erdgas kommt aus Russland – was die beispielsweise mit dem saudischen Königreich kooperierenden US-amerikanischen Ölkonzerne ganz sicher nicht freut. Die US-Regierung versucht seit Jahren mehr oder weniger erfolgreich, die wiedergewonnene Macht Russlands einzugrenzen, Randstaaten Russlands sowie andere Staaten, mit denen Russland enge Beziehungen unterhält, entweder dem russischen Einfluss zu entziehen oder aber sie nachhaltig zu destabilisieren. Im Fall Syrien ist letzteres wohl gelungen.

Die Europäische Union setzt gegenüber Russland einerseits auf Kooperation, um die bestehenden Handelskontakte nicht zu gefährden, bemüht sich aber ansonsten ebenfalls nach Kräften, den politischen Einfluss Russlands auf seine Nachbarstaaten zurückzudrängen und so für die europäischen Wirtschaft neue Märkte zu erschließen.

Die Ukraine, deren Wirtschaft zum größten Teil auf Erdgasimporten aus Russland basiert und über deren Territorium Pipelines in Richtung Westeuropa laufen, führt schon über zehn Jahre unter verschiedenen Regierungen einen Preiskrieg mit dem russischen Konzern GAZPROM.

Ob hinter dem jüngst erfolgten Regierungsumsturz in der Ukraine nun primär US-amerikanische oder europäische Wirtschaftsinteressen stecken, dürfte schwer nachzuweisen sein. Langfristig nutzen tut es in jedem Fall beiden: Die Ukraine selbst ist ein riesiger Markt, wenn auch ein finanziell ausgebluteter. Der Bürgerkrieg in der Ukraine und der in diesem Zusammenhang eskalierende Konflikt zwischen der Ukraine und Russland hat den russischen Öl- und Gasexport nach Westeuropa erst einmal ausgebremst.

Ukraine: Der schmutzige Weg in den Kapitalismus

Die Ukraine hinkte dem in Russland umgesetzten Programm neoliberaler Reformen nur ganz wenig hinterher. 1992 erfolgte eine generelle Freigabe der Preisgestaltung, 1994 wurde ein Programm marktwirtschaftlicher Reformen verabschiedet, in der Folge große Teile der Industrie und des Bankensektors privatisiert. Gleichzeitig zog sich der Staat bis zum Jahr 2000 schrittweise aus der Agrarproduktion zurück. Die Folgen dieser Schocktherapie waren ebenfalls verheerend: Das reale Bruttosozialprodukt der Ukraine betrug Ende der 1990er Jahre nur etwa 40 % des Jahres 1989. (s. Andreas Kappeler: "Kleine Geschichte der Ukraine", Verlag C. H. Beck, 3. Auflage 2009, Seite 263) Die landwirtschaftliche Produktion sank zeitgleich um die Hälfte. Zudem sorgte die in den Jahren 1990 bis 1996 galoppierende Hyperinflation von jährlich (!) etwa 800 % für eine Enteignung der Spargroschen der Bevölkerungsmehrheit, bevor mit Einführung der neuen Währung Griwna die Geldentwertung gestoppt wurde. 

Auch in der Ukraine brachte die Aufteilung des ehemaligen Volkseigentums eine Gruppe schwerreicher Oligarchen hervor, die sich des größten Teils der ukrainischen Banken und der im Donezbecken ansässigen Schwerindustrie bemächtigten. Anfänglich dominierten bei diesen Oligarchen gewesene sowjetische Betriebsdirektoren, Partei- und Komsomolfunktionäre, die ihre Machtpositionen zur persönlichen Bereicherung ausgenutzt hatten. Bei den folgenden kriminellen Verteilungskämpfen setzten sich dann zumeist ganz gewöhnliche Banditen durch, die in der Schwäche der Staatsgewalt ihre große Chance sahen und entsprechend handelten.

In der Ukraine lebte man in den 1990er Jahren als Oligarch gefährlich, Schutzgelderpressung war Normalität. Auseinandersetzungen zwischen konkurrierenden Firmen wurden mit Baseballschlägern und Eisenstangen ausgetragen, Geschäftsabschlüsse mittels Autobombe und Maschinengewehrsalve besiegelt. Hunderte von Betriebsdirektoren, Bankern, Hotel- und Gaststätteninhabern kamen in den Jahren des entfesselten Raubtierkapitalismus ums Leben. Victor Timtschenko, Autor einer immer noch lesenswerten Reisebeschreibung über die Ukraine, hat in einem Kapitel des Buches die Methoden des schmutzigen Weges in den Kapitalismus ausführlich beschrieben und brachte das Ergebnis wie folgt auf den Punkt: "Eines Tages gab es in der Ukraine keine Banditen mehr, sondern nur Geschäftsführer." (s. Victor Timptschenko: "Ukraine. Einblicke in den neuen Osten Europas", Ch. Links Verlag, Berlin 2009, Seite 142)

Vor dem Bürgerkrieg kannte die Forbes-Liste der reichsten Männer der Welt zehn ukrainische Milliardäre: An der Spitze stand Rinat Achmetow als reichster Mann der Ukraine und graue Eminenz hinter dem unlängst gestürzten Präsidenten Janukowitsch. Achmetow soll seine Karriere Anfang der 1990er Jahre als Chef einer Gang von Hütchenspielern begonnen haben. Mehrere seiner Geschäftspartner starben eines gewaltsamen Todes. Sein Vermögen wurde zuletzt auf 15,4 Milliarden US-Dollar geschätzt. In der Forbes-Liste stand er auf Platz 47. 2011 machte er Schlagzeilen, als er für 165 Millionen Euro die teuerste Wohnung der Londoner Innenstadt kaufte.

Wiktor Pintschuk, ein Ingenieur, der als Schwiegersohn des damaligen Präsidenten Leonid Kutschma durch undurchsichtige Privatisierungen ein Vermögen erwarb, besaß nur kärgliche 3,8 Milliarden US-Dollar. Igor Kolomojskij, Besitzer von schäbigen 2,4 Milliarden US-Dollar, galt lange Zeit als Intimus einer gewissen Julia Timoschenko. Der "Schokoladenkönig" Petro Poroschenko (1,6 Milliarden Dollar) ließ sich nach dem Sturz von Janukowitsch zum neuen Präsidenten wählen.

Es wird aus Platzgründen darauf verzichtet, die Auflistung ukrainischer Milliardäre hier komplett abzuarbeiten. Nur soviel: Julia Timoschenko selbst gehört dem erlauchten Kreis nicht an: Ihr Vermögen soll (Stand: 2007) "nur" einige Hundert Millionen Dollar betragen. Aus gegebenem Anlass sei ihr dennoch ein längerer Abschnitt gewidmet.

Die Gasprinzessin

Die Karriere der "Gasprinzessin" ist ein Paradebeispiel für die in der Ukraine bestehende Verflechtung zwischen Politik, Wirtschaft und Kriminalität. Timoschenko begann 1989 ihre Kariere als Geschäftsführerin eines Jugendzentrums und war zeitgleich Inhaberin einer Videothek, in dem man sich aus dem Westen importierte Schmuddelpornos reinziehen konnte. (s. Dimitri Popov, Ilia Milstein: "Julia Timoschenko. Die autorisierte Biographie", Redline-Verlag, 2012, Seite 53. Von einem Erwerb dieses grauenhaft schlecht geschriebenen Buches wird an dieser Stelle ausdrücklich abgeraten.) Den Erlös setzte sie in damals billig zu habende Aktien um und wurde schließlich Mitinhaberin eines Geflechtes von Firmen, die billiges russisches Erdgas teuer weiterverkauften.

Ihren Aufstieg als Oligarchin verdankt sie ihrem politischen Ziehvater, dem damaligen Ministerpräsidenten Pawlo Lasarenko. Beide sollen zusammen 690 Millionen US-Dollar Schwarzgeld aus dem russischen Erdgashandel auf ihre persönlichen Konten abgezweigt haben. Lasarenko flüchtete später in die USA, wurde dort wegen Korruption und Erpressung inhaftiert und zu neun Jahren Gefängnis verurteilt. Seine in der Ukraine begangenen Straftaten – unter anderem ermittelte die Staatsanwaltschaft gegen ihn wegen Auftragsmordes – waren nicht Gegenstand des Verfahrens.

Die Umstände, unter denen Timoschenkos Firmenimperium Ende der 1990er Jahre insolvent ging, sind schwer nachzuvollziehen. Vermutlich haben andere Oligarchen sie nach dem Sturz Lasarenkos mittels Einflussnahme auf die neue Regierung aus dem lukrativen Zwischenhandel verdrängt. Die gigantischen Schulden, die ihr die Firmeninsolvenz bescherte, wollte Timoschenko allerdings nicht begleichen. In der von ihr autorisierten Biographie heißt es jedenfalls, dass sie ihr restliches Vermögen so versteckte, dass "weder russische oder ukrainische Staatsanwälte noch Interpol es bisher finden konnten" Was die "Gasprinzessin" nicht hinderte, die nachfolgenden Ermittlungen wegen Geldwäsche als politisch motiviert anzuprangern.

Julia Timoschenko trat nach dem Konkurs die Flucht nach vorn an, formierte ihr überflüssig gewordenes Firmenmanagement zu einem Parteiapparat um und wurde 1999 im zweiten Kabinett Kutschma Energieministerin sowie stellvertretende Ministerpräsidentin. Ihre neugewonnene Position nutze sie zu einem Privatkrieg gegen die Oligarchen Victor Pintschuk und Dimitri Firtasch, die sich die Reste ihres Firmenimperiums einverleibt hatten. Ihre politische Haltung unterlag unberechenbaren Schwankungen zwischen pro-westlicher oder rein populistischer Rhetorik und pro-russischer Realpolitik. 2001 wurde sie dann doch angeklagt, 1,1 Milliarden US-Dollar illegal auf ausländische Konten verschoben zu haben und als Ministerin entlassen. Daraufhin gründete sie ein "Forum zur Nationalen Rettung" und setzte zum Sprung auf das oberste Staatsamt an.

Krise in Orange

Die sogenannte "Orangene Revolution" der Jahre 2003 bis 2004 wurde von der westlichen Öffentlichkeit als demokratischer Aufstand gegen ein korruptes Regime gefeiert und von vielen ihrer Akteure ganz sicher auch als ein solcher empfunden. "Diebe ins Gefängnis" war eine der populärsten Losungen der Demonstranten. Eine Bekämpfung der allgegenwärtigen Korruption sollte das Land für westliche Investoren attraktiver machen.

Getragen wurden die Proteste hauptsächlich vom Mittelstand und von jungen Intellektuellen, die sich von einem wirtschaftlichen Aufschwung eine Verbesserung ihrer Lage erhofften. Finanziert wurden die meisten Parteien und NGOs, in denen sich die jugendlichen Revolutionäre organisierten, allerdings zu großen Teilen aus westlichen Geldspenden dubioser Herkunft.

Die Massendemonstrationen endeten im Dezember 2004 mit erzwungenen Neuwahlen, in denen sich ein zusammengewürfeltes Oppositionsbündnis gegen die von ost-ukrainischen Oligarchen dominierte "Partei der Regionen" durchsetzen konnte. Der Banker Wiktor Juschtschenko wurde neuer Präsident, die Oligarchin Julia Timoschenko Ministerpräsidentin. Beide lieferten sich in der Folge einen erbitterten Machtkampf.

Obwohl dem "orangenen" Bündnis zeitweilig auch eine sozialistische Partei angehörte, stand eine Re-Verstaatlichung nicht auf der Liste ihrer Forderungen. Und tatsächlich wurden nach dem Regierungswechsel nur in ganz wenigen Fällen unter eindeutig kriminellen Umständen erfolgte Privatisierungen wieder rückgängig gemacht, die betreffenden Unternehmen dann aber ganz schnell ein zweites Mal, diesmal unter günstigeren Konditionen, privatisiert.

Hinter der Fassade eines demokratischen Aufbruchs tobte ein Machtkampf zwischen verschiedenen Oligarchengruppen. Die Besitzer der großen Stahlwerke im Osten der Ukraine waren auf den Import billigen Erdgases aus Russland und die Förderung subventionierter einheimischer Steinkohle angewiesen, sträubten sich demzufolge gegen die westlicherseits geforderte Aufhebung der Subventionierung defizitär produzierender Kohlebergwerke. Andere Oligarchen, die mehr auf den Export von Billigprodukten in Richtung Westeuropa setzten, waren allerdings geneigt, den bis dahin die ukrainische Politik dominierenden Schaukelkurs zwischen Russland und den westlichen Staaten zugunsten einer einseitigen Westorientierung aufzugeben.

Die Regierungszeit von Präsident Kutschma galt in Verlautbarungen der "orangenen Revolutionäre", die von den meisten westlichen Massenmedien völlig unkritisch übernommen wurden, als eine Art "bleierne Zeit" einer einseitigen Russlandorientierung, die durch den Umsturz ein Ende fand. Tatsächlich verlagerte sich schon in den 1990er Jahren der ukrainische Export maßgeblich von Russland nach Westeuropa. Und Kutschma hatte bei seiner Wiederwahl im Jahre 1999 einen Beitritt der Ukraine zur EU bei Beibehaltung der guten Beziehungen zu Russland zum strategischen Fernziel erklärt. (s. Kappeler, Seite 280) Die zweite Amtsperiode Kutschmas von 2000 bis 2004 war außerdem eine Phase dynamischen, wirtschaftlichen Aufschwungs.

Offensichtlich hatte nach den Privatisierungsorgien der 1990er Jahre und den nachfolgenden kriminellen Verteilungskämpfen – ebenso wie etwa zeitgleich in Russland – ein Prozess der Stabilisierung auf niedrigem Niveau eingesetzt. Die Machtergreifung der Opposition beendete dieses Intermezzo. Die Steigerung des Bruttoinlandproduktes sackte sofort von zuletzt jährlich 12 Prozent auf drei Prozent herunter.

Selbstverständlich war die Regierung Leonid Kutschma korrupt, so wie die gesamte ukrainische Politik und Wirtschaft von kriminellen Seilschaften unterwandert war und ist. Ein Beispiel: Gegen Ende der zweiten Regierung Kutschmas wurde in einer Blitzaktion das größte immer noch staatseigene Stahlwerk der Ukraine privatisiert. Gemeinsame Sieger der Ausschreibung waren die Oligarchen Rinat Achmetow und Wiktor Pintschuk. Als nach den erzwungenen Neuwahlen das ukrainische Parlament die Privatisierung rückgängig machte und das Werk an einen indischen Konzern verkaufte, konnte es das Sechsfache des zuerst gezahlten Preises einstreichen. (s. Kappeler, Seite 288)

Der Deal spülte zwar für den Moment einen Milliardenbetrag in die klammen ukrainischen Staatskassen; die als Folge einsetzende Rechtsunsicherheit wirkte sich jedoch lähmend auf das Investitionsklima aus. Einheimische Oligarchen zogen es in der Folge vor, ihre Gelder lieber dubiosen Steuerparadiesen anzuvertrauen – die britischen Jungferninseln wurden bevorzugter Partner der ukrainischen Finanzindustrie. Ausländische Investitionen in die ukrainische Realwirtschaft hielten sich weiter im bescheidenen Rahmen.

Als weitere Ursache der nach der "Orangenen Revolution" einsetzenden Krise gilt die sofort einsetzende Verschlechterung der Handelsbeziehungen zu Russland – die ukrainische Wirtschaft war und ist hochgradig von Gasimporten abhängig. Dies betrifft nicht nur den umfänglichen Eigenbedarf – in den 1990er Jahren wurde aufgrund bestehender Verträge in Größenordnungen billiges Gas erworben und teuer in den Westen weiterverkauft. Auf den Sieg der Opposition in Kiew reagierte der russische Konzern GAZPROM mit einer Erhöhung der Gaspreise in Richtung Weltmarktniveau. Die in diesem Zusammenhang unausweichlichen Auseinandersetzungen eskalierten zu einem immer wieder aufflackernden Wirtschaftskrieg.

Und natürlich konnte – da von den orangenen Revolutionären ein Ende der Oligarchenherrschaft und eine Reprivatisierung ihrer kriminell angehäuften Vermögen nicht einmal angedacht, geschweige denn in Angriff genommen wurde – von einer nachhaltigen Bekämpfung der Korruption keine Rede sein. Letztlich erschöpfte sich der Umsturz des Jahres 2004 in einem Verteilungskampf zwischen verschiedenen Oligarchengruppen, welcher eine Phase erneuten wirtschaftlichen und politischen Verfalls einleitete.

Julia Timoschenko hatte sich infolge wirksamer Public Relation auch international zur Ikone der "Orangenen Revolution" hochstilisieren können. Unter anderem ersetzte sie ihre brünette Haarfarbe, die "auf eine verdächtige kaukasische oder noch problematischere jüdische Herkunft hinweisen könnte" (s. Popov, Milstein, Seite 202), durch einen blonden Zopf. Das Bild der demokratischen Märtyrerin bekam freilich zunehmend Risse. Bekannt wurde, dass ausgerechnet US-amerikanische Anwaltskanzleien gegen die Schweizer Bank Credit Suisse wegen Geldwäsche ermittelten und dabei auf die gefeierte Heldin als Nutznießerin der Transaktionen stießen.

Während der neugewählte Präsident Wiktor Juschtschenko zwar einen rabiaten Annäherungskurs in Richtung Westen verfolgte, dabei aber auch mit den die Wirtschaft dominierenden ost-ukrainischen Oligarchen zusammenarbeitete, setzte Julia Timoschenko den Kampf mit ihren Intimfeinden rücksichtslos fort, entwickelte dabei einen populistischen und völlig unberechenbaren Politikstil. Sie wurde von ihren bisherigen Verbündeten fallengelassen und trat als Ministerpräsidentin zurück. Bei den auch von internationalen Beobachtern als internationalen Standards entsprechend eingeschätzten Wahlen vom März 2006 siegte dann die "Partei der Regionen". Victor Janukowitsch wurde kurzzeitig Ministerpräsident, musste dann 2007 den Platz wieder zugunsten von Julia Timoschenko räumen. Im Jahre 2010 wurde er zum neuen ukrainischen Präsidenten gewählt.

Julia Timoschenko wurde 2010 nach einem Misstrauensantrag als Ministerpräsidentin entlassen, kandidierte dann bei der Präsidentschaftswahl von 2010 erfolglos gegen Janukowitsch. 2012 wurde sie wegen Amtsmissbrauch verurteilt und inhaftiert. Ein zweiter Prozess wegen Veruntreuung und Steuerhinterziehung konnte von ihren Anwälten erfolgreich verschleppt werden und gelangte nicht mehr zum Abschluss.

Die "Orangene Revolution" wurde in der ukrainischen Bevölkerung höchst unterschiedlich aufgenommen. In einer repräsentativen Umfrage des Instituts für Soziologie der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften im März 2005 betrachteten 60,4 Prozent der Westukrainer, aber nur 8,8 Prozent der Ostukrainer die Revolution als "bewusster Kampf von Bürgern, die sich für die Verteidigung ihrer Rechte zusammengetan haben". Dagegen schätzten 50,5 Prozent der Ostukrainer, aber nur 5,50 Prozent der Westukrainer sie als "Staatsstreich, durchgeführt mit Unterstützung aus dem Westen" ein. Schon allein diese Umfragewerte deuteten auf den beginnenden Staatszerfall in der Ukraine hin.

Eine nicht geleistete Unterschrift samt Folgen

In der Amtszeit von Präsident Janukowitsch setzte sich die mit der "Orangenen Revolution" eingeläutete Stagnation der ukrainischen Wirtschaft fort. Auf Betreiben der ost-ukrainischen Oligarchen wurden die defizitär arbeitenden Kohlegruben weiter aus dem Staatshaushalt subventioniert. Der Preiskrieg um russisches Erdgas schien 2008 vorläufig beigelegt, als Wladimir Putin und Julia Timoschenko eine Vereinbarung unterzeichneten, nach der die Gaspreise für die Ukraine innerhalb von drei Jahren dem Weltmarktpreis angeglichen werden durften. Dass Janukowitsch ausgerechnet die damalige Ministerpräsidentin wegen der Unterzeichnung dieses Abkommens zum Sündenbock für die schlechte Wirtschaftslage stempelte und sie wegen Amtsmissbrauch inhaftieren ließ, sollte sich später als ein schwerer Fehler erweisen. Der Konflikt mit Russland um die Höhe des Gaspreises tobte weiter.

Unter Janukowitsch erlebte die Wirtschaftskriminalität traurige Rekorde, wobei auch die Familie des Präsidenten mit gutem Beispiel voranging. Auf dem weltweiten Korruptionsindex von Transpary International ist für die Ukraine auch nach der "Orangenen Revolution" ein fast durchgehender Abwärtstrend zu verzeichnen – vom Platz 69 im Jahre 1998 ist das Land im Jsahre 2013 auf Platz 144 abgerutscht und bildet damit von allen europäischen Staaten das Schlusslicht. Russland belegte immerhin "nur" den Platz 127. Den Platz 144 teilt sich die Ukraine übrigens mit dem Iran, Kamerun, Nigeria, Papua-Neuguinea und der Zentralafrikanischen Republik.

Ausländische Unternehmen zogen sich zunehmend aus der Ukraine zurück, der Warenexport nach Westeuropa nahm langsam, aber stetig ab. Die heimischen Oligarchen begannen auf Distanz zu gehen und knüpften vorsichtig Kontakte zu Opposition.

Westlicherseits wurde Janukowitsch allerdings vor allem deshalb zur Unperson, weil er Auflagen des IWF zunehmend ignorierte und die Preiserhöhungen für russisches Erdgas nicht an den Endverbraucher, also die eigene Bevölkerung weiterverrechnete. Deren Heizgasverbrauch wurde somit aus dem Staatshaushalt subventioniert.

Die Staatsschulden der Ukraine stiegen demzufolge permanent an und betrugen zuletzt 40 Prozent des Bruttoinlandproduktes, die Auslandsverschuldung gar 75 Prozent. Der Internationale Währungsfond stellte 2013 eine weitere Kreditierung der Ukraine in Frage, da das Land mehrmals die vom IWF geforderten Anpassungsprogramme nicht oder nur teilweise umgesetzt hatte. Unstrittig scheint indes, dass die Ukraine einen weiteren Wirtschaftskrieg mit Russland nicht ohne massive finanzielle Unterstützung westlicher Staaten durchstehen konnte und kann.

Als ein Beispiel für den zunehmenden Zerfall staatlicher Autorität sei hier genannt, dass gemäß einem Bericht der Tageszeitung "junge Welt" ein im Westen der Ukraine stationiertes Panzerregiment spurlos verschwand. Die etwa 50 hochmodernen Gefechtsfahrzeuge seien nach Informationen eines höheren Offiziers der ukrainischen Grenztruppen zu Schrott umdeklariert und vermutlich auf Rechnung eines Oligarchen in ein arabisches Land verkauft worden.

Am 21. November 2013 stoppte Präsident Janukowitsch die Vorbereitungen für den Abschluss eines Assoziierungsabkommens mit der EU. Dem vorausgegangen war eine wochenlanger Handelsblockade von Seiten Russlands, welches die Unterzeichnung des Abkommens verhindern wollte und der Ukraine stattdessen den Beitritt zur bereits bestehenden Zollunion zwischen Russland. Belarus und Kasachstan nahelegte. Beide mögliche Vereinbarungen schlossen einander ausdrücklich aus – die ukrainische Regierung musste sich für eine der beiden Optionen entscheiden.

Assoziierungsabkommen mit der EU haben offiziell das Ziel, in den betreffenden Staaten Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft zu befördern. Tatsächlich geht es allerdings eher darum, die Nachbarländer nachhaltig in die EU-Wirtschaftszone zu integrieren und neoliberale Reformen zu forcieren.

Diesbezügliche Verhandlungen zwischen EU und Ukraine liefen schon seit 2005; der Vertragsentwurf lag seit 2012 unterschriftsreif vor. In dem im Wesentlichen von westlicher Seite formulierten Entwurf ging es hauptsächlich darum, die Ukraine im Verlauf einer zehnjährigen Übergangszeit in eine EU-kompatible Freihandelszone zu verwandeln. Die Ukraine wurde im Abkommen verpflichtet, innerhalb dieser Zeit ihre noch aus sowjetischer Zeit stammenden Produktstandards und Zertifizierungsmethoden an das europäische System anpassen. Diese Vereinheitlichung sollte den Handel zwischen der Ukraine und den EU-Staaten befördern, hätte nach russischer Darstellung allerdings auch eine zunehmende Verdrängung ukrainischer Waren vom eigenen Binnenmarkt zur Folge. Die Umstellung würde außerdem den bisher relativ problemlosen Handel zwischen der Ukraine und anderen ehemals sowjetischen Staaten massiv erschweren. Die Ukraine exportiert in den Westen hauptsächlich Rohstoffe, nach Russland dagegen überwiegend Maschinen und Produkte der Lebensmittelindustrie.

Das langfristige Szenario nach Unterzeichnung des Abkommens wäre also mit hoher Wahrscheinlichkeit eine drastische Reduzierung des Handels mit Russland, der Zusammenbruch von weiteren Teilen der ukrainischen Industrie und die Verwandlung des Landes in eine verlängerte Werkbank westeuropäischer Unternehmen.

Außerdem war die Ukraine schlicht nicht mehr in der Lage, die finanziellen Voraussetzungen für die Umsetzung des von der EU gewünschten Abkommens zu tragen. Das Land stand kurz vor einem Staatsbankrott; die von der EU bereitgestellten Kredite reichten nicht aus, um diesen abzuwenden. Mögliche IWF-Kredite waren an wirtschaftliche "Reformen" gebunden, deren Umsetzung für Janukowitsch unweigerlich das politische Ende gebracht hätte. Allein die Umstellung der Produktionsstandards hätte das Land in den nächsten zehn Jahren 165 Milliarden Euro – also jährlich etwa 16,5 Milliarden Euro – gekostet. Dieses Geld war und ist im ukrainischen Staatshaushalt nicht vorhanden und die EU hatte es abgelehnt, sich maßgeblich an der Finanzierung des Abkommens zu beteiligen.Versuche der ukrainischen Regierung zur Nachverhandlung der Vertragsbedingungen scheiterten an der starren Haltung der EU-Bürokraten.

Die Opposition reagierte sofort auf die Nichtunterzeichnung des Assoziierungsabkommens und warf dem Präsidenten Verrat an den nationalen Interessen der Ukraine vor. Noch am selben Tag begann die Kette der unter der Bezeichnung Euro-Maidan bekannten Proteste.

Von den wirtschaftlichen Hintergründen der Nichtunterzeichnung war im Verlauf der Proteste freilich nicht die Rede. Nach dem Sturz von Janukowitsch beeilte sich die neu gebildete und durch keine Wahlen legitimierte Übergangsregierung, vollendete Tatsachen zu schaffen und den politischen Teil des Vertragsentwurfs ohne weitere Nachverhandlung zu unterschreiben. Dafür wurden ihr die dringend benötigten Kredite gewährt. Die Rechnung folgte allerdings auf dem Fuße: ab 1. Mai 2014 Erhöhung der Gaspreise für die Bevölkerung um 50 Prozent infolge Streichung der Subventionen sowie Entlassung von etwa 10 Prozent der Staatsangestellten. Die Umsetzung weiterer IWF-Auflagen ist bereits angekündigt. Kürzungen der Mittel von Polizei und Staatsanwaltschaft dürften zu einem weiteren Anstieg der ohnehin schon allgegenwärtigen Korruption führen. Ob die Ukraine je in der Lage sein wird, die gewährten Kredite zu bedienen oder gar zurückzuzahlen, ist eher fraglich.

Zankapfel Krim

Das Regionalparlament der Krim hatte schon einmal, im Jahre 1992, seine Unabhängigkeit erklärt. Das bereits geplante Referendum wurde damals jedoch wieder abgesetzt, nachdem die Kiewer Regierung der Krim den Status einer mehrsprachigen Autonomen Region zugesichert hatte. Die auf der Krim stationierte ehemals sowjetische Schwarzmeerflotte wurde in einem 1997 geschlossenen Vertrag zwischen Russland und der Ukraine aufgeteilt. Der Kriegshafen Sewastopol blieb ukrainisch, wurde aber auf Dauer an Russland verpachtet. Russland gewährte der Ukraine im Gegenzug einen Preisnachlass für Erdgaslieferungen.

Mit Zunahme der Wirtschaftskonflikte zwischen der Ukraine und Russland wurde der Kompromiss um die Krim von ukrainischer Seite immer mehr in Frage gestellt. Hier nur einige kurze Beispiele:

Im Jahre 2006 brüskierte die damalige ukrainische Regierung die mehrheitlich russischsprachige Krimbevölkerung durch Teilnahme an einem NATO-Manöver, in dessen Verlauf US-Marinetruppen auf der Krim landeten. Die Stadt Fedossija wurde am 29. Mai 2006 und den folgenden Tagen Schauplatz massiver Proteste der Bevölkerung; das Regionalparlament der Krim erklärte damals die Halbinsel zur "NATO-freien Zone".

Am 11. Februar 2013 kam es im ukrainischen Parlament zu einer Schlägerei zwischen Abgeordneten der Regierungskoalition und der Opposition. Anlass war die Ratifizierung eines Abkommens über gemeinsame Katastrophenschutzmaßnahmen auf dem Territorium des russischen Flottenstützpunktes auf der Krim.

Die ukrainisch-nationalistische Welle während der Euro-Maidan-Proteste, welche auch zur Flucht zehntausender russischsprachiger Ukrainer über die östliche Landesgrenze führte, ließ im Gegenzug die sezessionistische Bewegung auf der Krim erstarken. Dass die frisch aus der Haft entlassene Politikerin Julia Timoschenko dann auch noch am 4. März 2014 erklärte, sie strebe einen Ausstieg aus dem Stationierungsabkommen der russischen Flotte auf der Krim an, wirkte wohl als Initialzündung. Die Abgeordneten des Regionalparlamentes der Krim erklärten mit übergroßer Mehrheit ihre Unabhängigkeit von der Ukraine und proklamierten wenig später den Anschluss an Russland. Ein bereits geplantes Referendum der Bevölkerung wurde vorgezogen, um der Sezession die nötige Legitimität zu verschaffen.

Das Referendum ist zwar bis heute international nicht anerkannt und die offiziell veröffentlichen Zahlen zum Abstimmungsverhältnis werden gelegentlich in Frage gestellt. Internationale Beobachter sind sich jedoch darin einig, dass nicht nur fast die gesamte russischsprachige Bevölkerungsmehrheit, sondern auch ein beträchtlicher Teil der auf der Krim ansässigen Ukrainer und der Krimtataren für die Sezession und den Anschluss an Russland stimmten. Die Gründe dafür sind simpel: Die Region Krim war von der Kiewer Regierung gründlich vernachlässigt worden und man erhofft sich vom Anschluss an das Nachbarland einen wirtschaftlichen Aufschwung. Zudem sind die in Russland gezahlten Renten durchschnittlich doppelt so hoch, wie bisher auf der Krim, das Lohnniveau beträgt gar das Dreifache.

Einen nennenswerten Widerstand gegen die russische Annexion gab es nicht. Das auf der Krim stationierte ukrainische Militär streckte entweder sofort die Waffen oder aber leistete ausschließlich passiven Widerstand. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der ukrainischen Soldaten wechselte in die russischen Streitkräfte. Russland konnte sich bei dieser Gelegenheit den größten Teil der ukrainischen Kriegsflotte fast kampflos aneignen.

Die Kommentare der meisten westlichen Politiker zum Anschluss der Krim an Russland gehen völlig fehl – ein gewisser Wolfgang Schäuble verglich den Vorgang gar mit der Besetzung des Sudetengebietes durch Hitler. Was man von der Annexion der Krim auch halten mag: Putin ist eben kein durchgeknallter Großmachtchauvinist. Als weitsichtiger Politiker denkt er in volkswirtschaftlichen Kategorien. Ihm ging es wohl in erster Linie um die Sicherung von Russlands Zugang zum Schwarzen Meer. Die durch die Ukraine in Richtung Westeuropa führende Pipelines sind durch den Umsturz und den sich anbahnenden Zerfall der Ukraine extrem gefährdet. Ein russisch-italienisches Konsortium hat daher schon vor längerer Zeit den Bau einer weiteren Erdgaspipeline quer durch das Schwarze Meer nach Bulgarien und von dort aus weiter in Richtung Italien angeschoben – Baubeginn war im November 2013 , Lieferant der Erdgasröhren eine deutsche Firma. Unter dem Druck westlicher Staaten musste das Projekt Ende 2014 allerdings abgebrochen werden.

Die Besetzung der Krim und Eroberung der ukrainischen Kriegsflotte dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit dem Flankenschutz dieses Unternehmens gedient haben. Zudem werden vor der Küste der Krim umfängliche Erdgaslagerstätten vermutet, die sich Russland bei dieser Gelegenheit ebenfalls sicherte.

Der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland wurde durch die Annexion der Krim natürlich kräftig angeheizt. Die Ukraine verlangt nun von Russland eine Rückerstattung des von der Krim-Regierung beschlagnahmen ukrainischen Staatseigentums und erhöhte die Transitgebühren für russisches Erdgas um 10 Prozent. Dem stehen allerdings Forderungen Russlands in Höhe von 16 Milliarden Dollar entgegen, wegen nicht bezahlter Gasrechnungen, fälliger Kredite sowie gewährter Nachlässe auf ältere Gasrechnungen, bei denen die daran geknüpften Bedingungen obsolet geworden sind.

Schadenfreude und eine einseitige Parteinahme zugunsten Russlands dürfte allerdings wenig angebracht sein: Das Regionalparlament der Krim hatte angekündigt, das beschlagnahmte ukrainische Staatseigentum zu privatisieren. Über kurz oder lang dürfte es wohl in den Taschen russischer Oligarchen verschwinden.

Aufstieg der Rechtsradikalen

Die besondere Brutalität des ukrainischen Nationalismus hat eine Ursache in seiner späten Entstehung. Vor 1918 hat es eine Eigenstaatlichkeit der Ukraine nie gegeben. Die damals ausgerufene Republik endete sehr schnell durch einen Einmarsch deutscher Truppen, die einen Sattelitenstaat unter der Knute von Hetman Skoropadskyj installierten. Es folgte ein vierjähriges Bürgerkriegschaos, in dem ukrainische Nationalisten sich hauptsächlich durch blutige Pogrome gegen den jüdischen Bevölkerungsteil auszeichneten. Der Bürgerkrieg in der Zentral- und Ost-Ukraine endete 1922 mit einem Sieg der – zeitweise mit den Bauernmilizen des ukrainischen Anarchisten Nestor Machno verbündeten – Roten Armee, die die Truppen der Nationalisten zerschlug, die Reste der weißen Armeen ins Meer warf und schließlich auch mit ihren anarchistischen Verbündeten Schluss machte.

Im der Westukraine wurde 1918 ebenfalls eine Republik ausgerufen, diese aber schon 1919 von polnischen Truppen zerschlagen. Die folgende nationale Unterdrückung der ukrainischen Minderheit in Polen beförderte die Entstehung der "Organisation Ukrainischer Nationalisten" (OUN), die einen bewaffneten Untergrundkrieg gegen den polnischen Staat führte.

Während des 2. Weltkrieges stellten sich die ukrainischen Nationalisten – trotz gelegentlicher Konflikte – mehrheitlich an die Seite der faschistischen Mächte und versuchten, mittels ethnischer Säuberungen und Massenmorde an der polnischen und jüdischen Bevölkerung ihre Idee von einer ethnisch reinen Westukraine zu verwirklichen. Ukrainische Einheiten beteiligten sich unter anderem an dem Massenmord von Babyn Jar von 1941, dem etwa 33.000 jüdische Sowjetbürger zum Opfer fielen. Nachgewiesen ist außerdem ihre Beteiligung an den antisemitischen Gemetzeln in der westukrainischen Stadt Lemberg (Lwiw). Ukrainische Nationalisten stellten die Mannschaft für die SS-Division "Galizien", zwei der deutschen "Abwehr" unterstellte Bataillone sowie zahlreiche Polizeieinheiten, die von den Besatzern hauptsächlich zur "Partisanenbekämpfung" eingesetzt wurden. Aus ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangen ukrainischer und baltischer Nationalität rekrutierte die SS-Führung Wachmannschaften für Vernichtungslager: Treblinka, Auschwitz, Sobidor, Maly Trostinez… Ukrainische SS-Leute waren unter anderem an der Vernichtung des Warschauer Ghettos beteiligt. Die Liste damaliger Gräueltaten der im deutschen Solde stehenden ukrainischen Nationalisten ließe sich beliebig fortsetzen.

Nach dem Ende des 2. Weltkrieges führte die "Ukrainische Aufständische Armee" (UPA) als militärischer Arm der OUN mit Unterstützung westlicher Geheimdienste noch einen jahrelangen Guerillakrieg gegen polnische und sowjetische Truppen. Ihre Reste flüchteten Anfang der 1950er Jahre nach Westeuropa, wo sie als vorgebliche Befreiungskämpfer mit offenen Armen aufgenommen wurden.

Seit dem Zerfall der Sowjetunion und der Unabhängigkeit der Ukraine kam es besonders im Westen des Landes zu einer Renaissance nationalistischen und antisemitischen Gedankenguts. Die "Organisation Ukrainischer Nationalisten" wurde völlig unkritisch zu einer Befreiungsbewegung hochstilisiert.

Der Zusammenbruch von Teilen der Industrie sowie die Zerschlagung der noch der aus sowjetischer Zeit überkommenen landwirtschaftlichen Kooperativen brachte besonders auf dem Lande flächendeckende Armut hervor. Aus der in einer Atmosphäre von Trost- und Hoffnungslosigkeit aufwachsenden Generation konnten Nationalisten und Rechtsradikale zunehmend Nachwuchs rekrutieren.

1991 gründete sich die "Sozial-Nationale Partei der Ukraine", die sich 2004 wohl aus taktischen Gründen in "Allukrainische Vereinigung ‚Swoboda‘" (Freiheit) umbenannte. Swoboda sieht sich in der Tradition der einstigen OUN und gilt als Sammelbecken ultranationalistischer, faschistischer, fremdenfeindlicher und antisemitischer Kräfte.

Bei den ukrainischen Präsidentschaftswahlen des Jahres 2010 erreichte ihr Parteivorsitzender Oleg Tjaknibok zwar nur 1,43 Prozent der Wählerstimmen, bei den Parlamentswahlen von 2012 waren es dann aber schon 10,4 Prozent der Stimmen, hauptsächlich im Westen der Ukraine. Im Dezember 2012 kam es zu einem Treffen einer Swoboda-Delegation mit der Fraktion der NPD im sächsischen Landtag.

Am 14. Oktober 2013 demonstrierten in Kiew 25.000 Rechtsradikale und Nationalisten auf einem Marsch "zu Ehren der UPA". Die ungewöhnlich hohe Teilnehmerzahl an diesem Marsch dürfte die Initialzündung für ein Bündnis zwischen bürgerlicher und rechtsradikaler Opposition gewesen sein.

Zu Beginn der Euro-Maidan-Proteste im November 2013 bildete "Swoboda" gemeinsam mit Vitali Klitschkos "Ukrainische demokratischen Allianz für Reformen" (UDAR) und Julia Timoschenkos "Allukrainischer Vereinigung ‚Vaterland‘" ein Dreierbündnis mit dem Ziel des Sturzes von Präsident Janukowitsch. Die ursprünglich friedlichen Demonstrationen wurden immer mehr von bewaffneten Rechtsextremen dominiert und nahmen schließlich im Februar 2014 den Charakter bürgerkriegsähnlicher Auseinandersetzungen an, die zahlreiche Opfer forderten.

Verschiedene paramilitärische Gruppen vereinigten sich während der blutigen Straßenschlachten mit regierungstreuen Polizeieinheiten zum "Rechten Sektor". Dieser positionierte sich noch radikaler als "Swoboda" und soll über mehrere Tausend bewaffnete Kämpfer verfügen. Die neugegründete rechtsextreme Partei steht für militante Fremdenfeindlichkeit; zu ihren Zielen zählt eine ethnische Säuberung des Landes von allen Nicht-Ukrainern, radikaler Einwanderungsstopp, sowie Abbruch sämtlicher Wirtschaftsbeziehungen zur EU und zu Russland.

Der Umsturz in der Ukraine erfolgte allerdings nicht in Form einer Machtergreifung der bewaffneten Faschistenverbände. Nachdem der deutsche Außenminister Steinmeier versucht hatte, zwischen den kämpfenden Parteien zu vermitteln und die Auseinandersetzungen bis zu den ohnehin fälligen Neuwahlen auszubremsen, kam es zu einer Art Palastrevolte. Mehrere bisher die Regierung unterstützende Oligarchen, darunter Rinat Achmetow, wechselten auf die Seite der Opposition, was eine faktische Spaltung der die Regierung dominierenden "Partei der Regionen" zur Folge hatte. Die abtrünnigen Abgeordneten stimmten dann gemeinsam mit der Opposition einer Amtsenthebung des gewählten Präsidenten zu.

Bei Bildung einer Übergangsregierung am 26. Februar 2014 erhielt "Swoboda" vier Ministerposten (darunter den des Verteidigungsmisters) und außerdem den Posten des Generalstaatanwaltes. Die Übergangsregierung wird ansonsten von der Anhängerschaft Julia Timoschenkos dominiert – Vitali Klitschkos UDAR erhielt lediglich den Posten des Geheimdienstchefs. Der Anführer des "Rechten Sektors" wurde immerhin stellvertretender Sekretär des "Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates".

Die bewaffneten Milizen des "Rechten Sektors" kontrollieren seit dem Umsturz große Teile der ukrainischen Hauptstadt; es kam zu Plünderungen, Schutzgelderpressung und zu Gewalttaten gegen politische Gegner. Am 14. März feuerten in der ostukrainischen Stadt Charkow Mitglieder des "Rechten Sektors" auf pro-russische Demonstranten und die Polizei, es gab mehrere Tote. Der Anführer des "Rechten Sektors" kündigte Anschläge auf russische Erdöl- und Erdgaspipelines an, wenn auch nur ein russischer Soldat ukrainischen Boden betrete.

Ob das Bündnis zwischen Marktradikalen und Rechtsextremen von Dauer sein wird, ist allerdings zu bezweifeln. Verschiedene Regierungen Westeuropas haben als Bedingung für die Gewährung von Krediten die Entwaffnung der paramilitärischen Banden gefordert.

Es gab einige halbherzige Versuche, den faschistischen Ungeist wieder zurück in die Flasche zu zwingen. Am 25. März besetzten ukrainische Polizeieinheiten das Kiewer Hauptquartier der von rechtsradikalen Gruppen dominierten Nationalgarde. (s. Tageszeitung Junge Welt vom 26.3.2014) Im Westen der Ukraine wurde ein führendes Mitglied des "Rechten Sektors" von Polizisten festgenommen und dabei erschossen. Als Folge umstellten etwa 2000 Rechtsradikale vorübergehend das ukrainische Parlament und forderten die Entlassung des Innenministers. Nach einer vom "Rechten Sektor" zu verantwortenden Schießerei im Zentrum Kiews ordnete Übergangspräsident Alexander Turtschinow am 1. April 2014 offiziell die Entwaffnung aller paramilitärischen Gruppen an und ließ das Kiewer Hauptquartier des "Rechten Sektors" von Polizeieinheiten räumen.

Wer diese Entwaffnung landesweit durchsetzen sollte, war allerdings unklar. Die reguläre Armee befand sich in Auflösung; die Nationalgarde war und ist von rechtsradikalen Gruppen unterwandert und dürfte eher an einer Rückeroberung der Krim sowie einer ethnischen Säuberung der Ost-Ukraine vom russischen Bevölkerungsteil interessiert sein. Anfang 2014 wurden im Westen der Ukraine mehrere Arsenale des Militärs geplündert worden; die in diesem Zusammenhang verschwundenen Waffen befinden sich mutmaßlich in den Händen des "Rechten Sektors" und/oder krimineller Banden. Die Ukraine stand im Frühjahr 2014 am Rande eines Bürgerkrieges.

Ausblick

Es kann nicht Sinn dieses Artikels sein, in den Auseinandersetzungen zwischen neoliberalen Geostrategen, westlichen Unternehmen, russischen und ukrainischen Oligarchen für irgendeine dieser Seiten Partei zu ergreifen. All diese Konfliktparteien haben letztlich nur ein Ziel: Eine weitere Ausplünderung der schon jetzt bettelarmen Bevölkerung der Ukraine. Derzeit tobt ein Verteilungskampf zwischen Plünderern.

Auf dem weltweit erfassten Wohlstandsindex (Human Development-Index, abgerufen am 31.03.2014) teilt sich die Ukraine aktuell den Platz 78 mit Mazedonien; von allen europäischen Staaten geht es nur Bosnien-Herzegovina (Platz 81) und Moldawien (Platz 113) noch schlechter. Russland belegt den Platz 55, liegt also noch vor den EU-Staaten Rumänien (Platz 56) und Bulgarien (Platz 57).

Westliche Wirtschaftsstrategen sehen als einzigen Ausweg aus der katastrophalen wirtschaftlichen Situation eine beschleunigte Westintegration der Ukraine und als deren Voraussetzung eine neoliberale Schocktherapie. Dass die desaströse Entwicklung im letzten Jahrzehnt Produkt gerade einer solchen Schocktherapie in den 1990er Jahren ist, kommt in ihren Denkmustern nicht vor.

Teile der ukrainischen Bevölkerung hungern schon jetzt. 80 Prozent der Rentner bezogen beispielsweise im Jahre 2012 als einziges Einkommen die Mindestrente von umgerechnet 81 Euro im Monat. Auf dem Lande lebt ein Großteil der Bevölkerung von kümmerlicher Subsistenzwirtschaft. Im September 2013 gaben bei einer Umfrage des Kiewer Zentrums für Sozialforschung sechs Prozent der Ukrainer an, selbst beim Essen sparen zu müssen, nur zwei Prozent erklärten, sie könnten sich jederzeit alles kaufen.

Wer den berechtigten Widerstand gegen eine neuerliche Politik der sozialen Grausamkeiten organisieren soll, ist derzeit allerdings völlig unklar. Die demokratische Zivilgesellschaft wurde von ihren westlichen Geldgebern weitgehend korrumpiert und vertritt ausschließlich deren Interessen. Die Partei "Ukrainische demokratische Allianz für Reformen" (UDAR) des ehemaligen Profiboxers Vitali Klitschko soll sich beispielsweise zu 100 Prozent aus Geldern der Konrad-Adenauer-Stiftung der CDU finanzieren.

Die traditionsmarxistische "Ukrainische Kommunistische Partei" hat sich durch ihre Zusammenarbeit mit dem korrupten Janukowitsch-Regime ins politische Aus manövriert. Ihr Kiewer Büro wurde im Februar 2014 von rechten Milizen gestürmt und verwüstet. Im Westen des Landes ist die Partei faktisch nicht mehr existent, im Osten beschränkt sie sich weitgehend auf die Verteidigung von Relikten der untergegangenen Sowjetunion. Eine Linksabspaltung der Kommunisten, die sich zum Widerstand gegen neoliberale Wirtschaftspolitik und rechten Terror formiert hat, ist zahlenmäßig schwach und wird verfolgt.

Es ist daher zu befürchten, dass der Unmut über die bereits angelaufene erneute neoliberale Plünderungswelle ausschließlich der extremen Rechten zugutekommt.

Ein endgültiges Auseinanderbrechen der Ukraine in verfeindete Regionen sowie als Folge ein militärisches Eingreifen Russlands und/oder der NATO ist für die Zukunft nicht auszuschließen.

Es sieht für die ukrainische Bevölkerung schlecht aus. Sehr schlecht.

Einen Nachschlag gibt es hier.

s. auch: Entstaatlichte Territorien – Bürgerkrieg und Plünderungen.Aufzeichnung einer öffentlichen Veranstaltung in Frankfurt am Main am 04.12.2014 mit Gerd Bedszent.


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