Das größte Buch in meiner Bibliothek wiegt viereinhalb Kilo und ist 32 cm hoch, 25 cm breit und 6 cm dick. Es ist 120 Jahre alt, heißt „China“, gibt einen vielfältigen, reich bebilderten Einblick in die chinesische Geschichte und die Verhältnisse im Land, und alles wäre gut, trüge es nicht den Untertitel „Ein Denkmal den Streitern und der Weltpolitik“.
Ein Denkmal. „Den Streitern“. Das meint: den Männern jenes deutschen „Expeditionskorps‘“, das sich im Bunde mit den Truppen anderer imperialistischer Mächte an der Niederschlagung des chinesischen „Boxer“-Aufstands 1900/1901 beteiligte und, als die Niederlage der Rebellen längst besiegelt war, in einem Rachefeldzug chinesisches Land verwüstete, Städte und Dörfer brandschatzte und einige Tausend Zivilisten umbrachte, und zwar genau in der ihnen vom Kaiser aufgetragenen Weise. „Die deutsche Fahne“ – so hatte der Monarch am 2. Juli 1900 verkündet – sei „beleidigt“ worden, „dem deutschen Reiche Hohn gesprochen“, und das verlange nach „exemplarischer Bestrafung und Rache“. Weshalb er am 27. Juli in seiner als „Hunnenrede“ bekannt gewordenen Hetztirade noch einmal nachlegte: „Kommt Ihr vor den Feind, so wird er geschlagen, Pardon wird nicht gegeben; Gefangene werden nicht gemacht.“ Und noch: „Der Name Deutschland“ möge „in China in einer solchen Weise bekannt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.“ „Die Streiter“ haben das verdammt ernst genommen. Der zweite Teil des gewaltigen Buches legt davon ein so überhebliches wie rassistisches Zeugnis ab.
Und das Buch ein Denkmal auch „der Weltpolitik“? Oh, Herausgeber Joseph Kürschner wusste, wovon er sprach und wes Lied er sang. „Die ‚Wirren‘“ – so nennt er die Kämpfe in China – seien „den deutschen Waffen und deutscher Kriegskunst […] zu einem Ruhmesblatt geworden“. Nun – endlich – sei klar, dass es Deutschland um die ganze Welt zu tun sein müsse. „Der jähe Aufstieg zur zweiten Handelsmacht der Welt, Hand in Hand mit tiefgehenden sozialen Spaltungen“, habe zuweilen „die Erkenntnis für die weltgeschichtliche Mission Deutschlands jenseits der Grenzen der schwarz-weiß-roten Pfähle [verdunkelt]“; nun aber sei der „Wandel“ eingeleitet, der „heranwachsenden Jugend“ ein „neues verheißungsvolles Ideal aufgerichtet für das deutsche Jahrhundert: die Erringung und Behauptung unserer Weltmachtstellung, gestützt auf eine der Armee ebenbürtige Marine.“ „Mit tausend und abertausend Fäden“ sei das Reich mit der „modernen Weltwirtschaft“, „mit der Entwickelung der modernen Verkehrsmittel, mit dem Schwinden von Raum und Zeit und mit der Zunahme von Produktion und Güteraustausch [verflochten]“, und so sei es nur folgerichtig, dass es „als vollwichtiger Kämpfer in den Wettbewerb der Großmächte“ eintreten müsse.
120 Jahre später – am 4. März 2021 – äußert sich die Süddeutsche Zeitung zur in Aussicht genommenen „Reise“ der deutschen Fregatte „Bayern“ in den „Indopazifik“. Deutschland komme dem „Wunsch der Bündnispartner“ nach, „Präsenz in einer umstrittenen Region zu zeigen“, und die Fahrtroute sei zweierlei: ein „Bekenntnis zu offenen Seewegen“ und „eine Botschaft an China“. Welch letztere ihre Begründung finde in den im September 2020 verabschiedeten regierungsamtlichen „Leitlinien zum Indopazifik“, in denen klargestellt sei, dass mehr als 90 Prozent des weltweiten Außenhandels über die Seehandelswege abgewickelt würden; deren „Beeinträchtigung“ daher „gravierende Folgen für Wohlstand und Versorgung unserer Bevölkerung“ habe; und China die Quelle von derlei „Beeinträchtigung“ darstelle.
Es ist tatsächlich wie vor 120 Jahren. Es müsse Chinas „militärischen Machtdemonstrationen“ Einhalt geboten werden, und die Fregatte „Bayern“ habe dazu ihren Beitrag zu leisten. Chinas „Streitigkeiten etwa mit Taiwan, Malaysia und den Philippinen“ gefährdeten die Freiheit der Seefahrt, und da könne Deutschland nicht abseits stehen. Dies zu untermauern, liefern Expertinnen und Experten gern jede Menge Zahlen zum Wachstum der chinesischen Armee und Flotte und zur Befeuerung des Eindrucks, dass da unbedingt gegenzuhalten sei. Ich lege den Fokus auf anderes.
Erstens auf die Frage, ob es den „Indopazifik“-Besorgten in Deutschland und NATO genehm wäre, wenn plötzlich im Rahmen einer chinesischen „Baltoatlantik“-Strategie chinesische Fregatten im Kattegat auftauchten, um „Wohlstand und Versorgung der chinesischen Bevölkerung“ zu sichern. – Solches ist im westlichen Machtblock aber noch nie gedacht worden: dass alles auch einmal ganz andersherum geschehen könnte. So groß und unerschütterlich und über Generationen hinweg tief verwurzelt ist der westliche Überlegenheitsdünkel, dass er die Einbahnstraße der unbegrenzten westlichen Vormachtstellung als das auf der Welt einzig Denkbare ansieht.
Und zweitens auf die Geschichte. Die kennt im 20. Jahrhundert viele Versuche, China so zu zerschlagen, dass es sich willfährig allen westlichen Beherrschungswünschen ergeben würde: Die Niederschlagung des Aufstandes 1900/1901 war der Anfang. Es folgten die Demütigung durch den Versailler Vertrag, die Hinnahme der japanischen Annexion der Mandschurei 1931 und der umfassenden japanischen Aggression 1937, die Unterstützung Tschiang Kaischeks im Bürgerkrieg 1946–1949 und dann – nach der Gründung der Volksrepublik – der Kampf um die „Eindämmung“ „Rot-Chinas“, zu dessen Bestandteilen der Koreakrieg 1950–1953 und der Vietnamkrieg 1965–1975 gehörten. Keiner dieser Versuche hat sein Ziel erreicht, und auch das von seinen Schöpfern als völlig normal und „gottgegeben“ betrachtete System der rund um die Welt errichteten US-Stützpunkte konnte den Aufstieg Chinas nicht verhindern.
Und da sollen wir uns ausgerechnet jetzt, da die VR China so stark ist wie nie zuvor, wieder Konfrontation vorstellen müssen? Weil ausgerechnet jetzt eine deutsche Fregatte in der Nähe Chinas ein bisschen mitzündeln will? Um zu zeigen – ja, was denn: wo in der Welt der Hammer hängt? Aber wem denn? Der Welt? Oder „den eigenen Leuten“? – Die Niederschlagung des „Boxer“-Aufstandes vor 120 Jahren war für die Einstimmung der deutschen Bevölkerung auf künftige Kriege von großer Bedeutung. Als der Kaiser 1914 zum Weltkriegsbeginn davon sprach, keine Parteien mehr zu kennen, sondern „nur noch Deutsche“, hatte ihm dafür die Beschwörung der „Gelben Gefahr“ den Boden bereitet. Und wie sich nun die Bilder gleichen. „Europa“ – die Europäische Union –, innerlich uneins und zerrissen, sieht sich vereint nur in dem einen: in den Feindbildern Russland und China. Und nicht alle, die in linker Opposition sich sehen, entziehen sich der Idee, dass es „nach außen“ vielleicht doch ein übergreifendes nationales oder auch „europäisches“ „Wir“ geben könnte. Da wäre es hilfreich, August Bebels Reichstagsreden zum „Boxer“-Aufstand zu lesen. Wider die Großkotzigkeit.