Wie Mao in deutsche Köpfe kam (I)

von Wolfram Adolphi

Am 9. August 1930 stießen die Leserinnen und Leser des Vorwärts – des Zentralorgans der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands – auf Seite 2 ihrer Zeitung auf einen Artikel mit der Überschrift „Tschu-Mao. Der Popanz des ‚Temps‘“. Unter dem Herkunftsvermerk „Moskau, 8. August. (Ost-Express.)“ bekamen sie das Folgende zu lesen:

„Die ‚Prawda‘ wirft dem Pariser ‚Temps‘ vor, ‚sei es aus Unwissenheit, sei aus Spekulation auf die Unwissenheit seiner Leser‘, die unglaublichsten Tatarennachrichten über die gegenwärtigen Kämpfe in China verbreitet zu haben. Nach der ‚Prawda‘ zeigen die Artikel des ‚Temps‘ zunächst einen derartigen Mangel an geographischen Kenntnissen über China, daß ihm Missverständnisse passierten, ‚etwa als ob man Spanien mit Jugoslawien verwechselt‘. Mit besonderer Schärfe und Ironie greift aber die ‚Prawda‘ einen China-Bericht des ‚Temps‘ vom 2. August an, in welchem gemeldet war, daß ein chinesischer General Tschu Mao, der in Deutschland militärisch ausgebildet worden sei, als Sowjetagent die ‚kommunistischen Horden‘ führe, und zwar nur zum Zwecke des Plünderns, des Mordens und Zerstörens. Die ‚Prawda‘ bemerkt dazu, daß dieser General überhaupt nicht existiere! Wenn mit dem sagenhaften Tschu Mao etwa der Führer des vierten Roten Korps gemeint sein sollte, so heiße dieser Tschu Deh [Zhu De], habe sich niemals in Deutschland aufgehalten, wohl aber in Frankreich, wo er die kommunistische Lehre kennen lernte. Außerdem gebe es bei den chinesischen Kommunisten einen Kommissar namens Mao-Tse-Tun [Mao Zedong]. Aus diesen beiden Männern habe der ‚Chinakenner‘ offenbar den schrecklichen Mordbrenner Tschu Mao geformt, mit dessen Greueltaten der französische Spießbürger nunmehr erschreckt werde.“ [Hervorhebungen i. O. – W.A.]

Es ist auf diese kryptische Weise, dass der Vorwärts zum ersten Mal auf Mao Zedong, die künftige Jahrhundertgestalt der chinesischen Revolution, zu sprechen kam. Wahrlich: ein seltsamer Text. Die französische Zeitung Temps baut mit konterrevolutionären Schlagworten einen Popanz auf, die sowjetische Prawda kontert mit einer Mischung aus Richtigstellung (natürlich gab es keinen Tschu Mao, und Zhu und Mao hatten 1928 in den Jinggang-Bergen tatsächlich gemeinsam die Vierte Armee gegründet) und eigener Verwirrinformation (Zhu De hatte nicht in Frankreich gelebt, sondern wirklich – von 1922 bis 1925 – in Deutschland), und der sozialdemokratische Vorwärts zitiert und hält sich ansonsten raus.

Dabei waren Aufruhr und Bürgerkrieg in China für die Vorwärts-Interessierten natürlich nichts Neues. Am 9. September 1927 erfuhren sie, dass „die Nanking-Regierung gegründet worden“ sei, um die „Kuomintang [Guomindang] von den Kommunisten zu reinigen“. Am 7. Juni 1928 bot ihnen Der Abend, die Spätausgabe des Vorwärts, eine ausführliche Lektüre über „China und seine Generale“, will sagen: über die Warlords Tschang Tsolin [Zhang Zuolin], Wu Pei-Fu [Wu Peifu], Sun Tschuan Fan [Sun Chuanfang], Tschang Tsun Tschang [Zhang Zongchang], Feng Yu Hsiang [Feng Yuxiang] und Yen Hsi Shan [Yan Xishan], die nun alle von Tschiang Kai Scheck [Jiang Jieshi], der „die Oberleitung der Nationalarmee“ an sich gerissen und „im Frühjahr 1927 die Diktatur im Yantse-[Yangzi]-Gebiet“ errichtet hat, besiegt oder zumindest zurückgedrängt oder botmäßig gemacht wurden, und erneut lasen sie, wie „wichtig“ es sei, dass der neue militärische Führer sich „mit aller Schärfe gegen die kommunistische Bewegung und alle kommunistischen Einflüsse in der Kuomin Tang [Guomindang]“ kehre. Und noch einmal Der Abend war es, der sie am 24. Februar 1930 darüber informierte, dass China sich zum „Abnehmer von ehemaligen deutschen Offizieren, denen die politischen Verhältnisse zu eng geworden sind“, entwickele.

So fiel die erstmalige Mao-Nennung im Vorwärts am 9. August 1930 durchaus auf einen chinapolitisch vorbereiteten Boden. Allerdings auf einen ganz anderen als den, den Die Rote Fahne, die Zeitung der KPD, schon lange beackert hatte. Bei ihr war von Mao schon deutlich früher – am 23. April 1929 – die Rede, und hätten die sozialdemokratischen Redakteure dort einmal nachgeschaut, hätten sie’s nicht im Kryptischen belassen müssen. „Die Entwicklung der revolutionären Armeen unter der Führung der Genossen Tsude [Zhu De] und Maotsedun [Mao Zedong]“, heißt es da unter der Überschrift „Siegeszug der roten Armee in China“, nehme „für die Generale der Provinzen Kiangsi [Jiangxi], Hunan, Kwangtung [Guangdong] und Fukien [Fujian] gefährlichen Umfang an“. Die Provinzen könnten „in Kürze genötigt sein […], von der Zentralregierung Verstärkungen [anzufordern] für den Kampf gegen die revolutionären Armeen“, die „gut ausgerüstet und organisiert“ seien. Zum Ausweis all dessen folgten genaue Angaben zu verschiedenen Angriffsrichtungen der revolutionären Truppenteile in den genannten südostchinesischen Provinzen (den ganzen Artikel siehe im Sammelband „Aus dem Kampf der deutschen Arbeiterklasse zur Verteidigung der Revolution in China“, Dietz Verlag Berlin 1959, der im Übrigen prallvoll ist mit revolutionssolidarischen Artikeln und Dokumenten). In späterer deutscher Geschichtsschreibung wird zu lesen sein, dass „zwischen Herbst 1927 und Mitte 1930 […] sich die Einheiten der Roten Armee wie Ölflecken über die südliche Landkarte aus[breiteten]“, „15 revolutionäre Stützpunktgebiete, vor allem in Südjiangxi und Westfujian“ entstanden und aus allem „das ‚Zentrale Revolutionäre Stützpunktgebiet‘ um die Kleinstadt Ruijin (Provinz Jiangxi)“ herausragte, in dem im November 1931 „der Erste Nationale Arbeiter-, Bauern- und Soldatenkongress“ tagte, der „die Chinesische Räterepublik ausrief, eine Arbeiter- und Bauernregierung einsetzte und Ruijin zur Hauptstadt des Roten China erklärte“ (Oskar Weggel, Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1989).

Mit den Artikeln der Roten Fahne vom 23. April 1929 und des Vorwärts vom 9. August 1930 war der Anfang gemacht: Von nun an tauchte Mao Zedong immer mal wieder in deutschen Zeitungen auf. Ein klares Bild jedoch entstand daraus noch lange nicht. Zu unsicher waren die Informationen, und zu unterschiedlich die Positionen derer, die sie an die Öffentlichkeit brachten.

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Nachsatz: Zur Schreibweise der chinesischen Eigennamen. In den Zitaten wird die originale Schreibweise verwendet und in eckigen Klammern die heutige Pinyin-Schreibweise angefügt. Nicht hinzugefügt wird die Pinyin-Fassung dann, wenn – wie bei Oskar Weggel – bereits im Original mit Pinyin gearbeitet ist. Ebenfalls mit Pinyin gearbeitet wird im Fließtext.

Wird fortgesetzt.