Das Volk, das im Museum fehlt

in (26.05.2021)

Unter dem Titel Die Küsten Österreichs eröffnete des Volkskundemuseums in Wien am 19. September 2018 seine neue Schausammlung. Für die Ausstellung hat ein Kurator*innen-Kollektiv – bestehend aus Yarden Daher, Alexander Martos, Negin Rezaie, Ramin Siawash, Niko Wahl, Sama Yasseen und Reza Zobeidi – eine Revision der bestehenden Schausammlung weitgehend volkskundlicher Objekte unternommen. Die Ausstellung soll bis auf weiteres stehen bleiben, genau genommen ist sie bis 2044 angekündigt.[1] Die Kurator*innen intervenierten in die Erzählung, änderten und kommentierten Narrationen, befragten Exponate und fügten welche hinzu. Sie schlagen eine Neuperspektivierung der Geschichte vor, bei der Migrationsgeschichte zur Alltagsgeschichte wird und Objekte aus Bauernstuben auf solche aus Notquartieren treffen. Während sie die Ausstellung, konzipierten, planten und umbauten, waren fast alle im Asylverfahren, niemand wusste ob und wann es gelingen würde, den Status der Flucht zu beenden. Anders als die neue Schausammlung, konnten also nicht alle KuratorInnen damit rechnen, wenigstens bis 2044 zu bleiben. Und doch sind sie Teil der Geschichte Österreichs und haben oder hatten hier einen Alltag, einen Alltag dem eine Flucht vorausging, die selbst in diesen Alltag eingeschrieben ist. Die Ausstellung im Volkskundemuseum erzählt also eine Geschichte aus der Perspektive eines Volkes, das fehlt.[2]  So selbstverständlich es erscheinen kann, dass ein Museum für Alltagskultur nicht nur den Alltag der autochthonen Österreicher*innen in seinen Sammlungspolitiken im Blick hat, so bemerkenswert ist doch, dass Die Küsten Österreichs die Erwartungen an eine volkskundliche Schausammlung herausfordert, ihre Grenzen erweitert. Indem sie das tut, macht sie eigentlich klar, dass das Volk einen offenen Charakter hat, und dass es nicht unterschätzt werden muss, denn, wie Brecht es formulierte: „Das Volk/Ist nicht tümlich“[3].

Es gibt eben nicht nur eine völkische, sondern auch eine demokratische Dimension des Volkes. Darauf will Brecht bestehen, weil er dem Volk im Sinne des Demos und nicht des Ethnos verpflichtet ist. An diese radikaldemokratische Dimension  des Volkes erinnert uns auch Chantal Mouffe in ihrem Buch Für einen linken Populismus
[4] und verweist darauf, dass auf diese zu verzichten heißen würde, der Postdemokratie das Feld zu räumen, in der die Macht des Volkes (mit anderen Worten die Demokratie) Mouffe zufolge durch Verwaltungsmechanismen und Logistiken untergraben wird. Sie wiederherzustellen und dabei nicht dem Rechtspopulismus zu überlassen (in dem wie Walter Benjamin schreibt, die Massen zu ihrem Ausdruck kommen, aber beileibe nicht zu ihrem Recht[5]) ist das Ziel eines linken Populismus.

Und was ist nun die Aufgabe von Museen in einer neoliberalen Welt, die sich vielerorts faschisiert? „Künstlerischen und kulturellen Praktiken wächst“, so Mouffe, „im Rahmen einer linkspopulistischen Strategie eine wichtige Funktion zu. Um seine Hegemonie aufrecht zu erhalten, muss das neoliberale System ständig die Wünsche der Menschen mobilisieren und ihre Identität formen. Die Konstruktion eines für den Aufbau einer anderen Hegemonie geeigneten ‚Volkes‘ erfordert die Kultivierung einer Vielzahl diskursiver/affektiver Praktiken, die die gemeinsamen Affekte, von denen die neoliberale Hegemonie aufrecht erhalten wird, erodieren und die Bedingungen für eine Radikalisierung der Demokratie schaffen würden.“
[6]

Heute wird viel von der Krise der Museen gesprochen. Denn die alten musealen Selbstverständlichkeiten, wie die scheinbare Neutralität und Objektivität, die  folgenreichen oft gewaltvollen Unterscheidungen, die Macht der Präsentationsformen und die zumeist bürgerlichen, westlichen, patriarchalen und nationalen Gesten des Zeigens wurden längst infrage gestellt. Die Antwort auf die ausgerufene Krise ist aber leider nicht besser: Denn so sehr sich die Museen in der Krise heute auch gerne als Museen der Zukunft proklamieren, tendieren sie doch zur Distinktion, zur zunehmend privatisierten Scheinöffentlichkeit und zur immersiven Postdemokratie.

Ich möchte hier demgegenüber eine andere museale Kernaufgabe im 21. Jahrhundert vorschlagen. Als öffentliche Institutionen, die allen gehören, können Museen die offene Frage stellen, wer alle sind und dabei die bestehenden Einteilungen und Zuschreibungen, im Hinblick auf die Imagination einer anderen möglichen Hegemonie herausfordern.
[7]

Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Nr. 57, Frühling 2021, „Kultureller Populismus“.

Nora Sternfeld ist Kunstvermittlerin und Kuratorin. Sie ist Professorin für Kunstpädagogik an der HFBK Hamburg.
 

 

[1] Die Küsten Österreichs. Die neue Schausammlung des Volkskundemuseum Wien, https://volkskundemuseum.at/diekuestenoesterreichs(28.02.2021)

[2] Vgl. Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt am Main 1991, S. 295

[3] Bertolt Brecht, Da das Instrument verstummt ist, in: ders. Werke, Band 14, S. 418

[4] Chantal Mouffe, Für einen linken Populismus, Berlin 2018

[5] Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Walter Benjamin – Gesammelte Schriften Band I, Teil 2, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1980, S. 471–508, hier S. 507f.

[6] Chantal Mouffe, Für einen linken Populismus, Berlin 2018, S. 91.

[7] Denken wir an den Louvre und damit an das revolutionäre Gründungsmoment des modernen Museums, daran, dass das „öffentliche Museum“ entstand, als die repräsentativen Dinge des Adels und der Kirche öffentlich angeeignet wurden. Sie waren nunmehr vergesellschaftet und gehörten der Allgemeinheit. Vgl. Edouard Pommier, Museum und Bildersturm zur Zeit der Französischen Revolution, in: Sigrid Schade, Gottfried Fliedl und Martin Sturm (Hrsg.), Kunst als Beute. Zur symbolischen Zirkulation von Kulturobjekten (Museum zum Quadrat, Nr. 8), Wien: Turia und Kant 1997, S. 27–43, sowie Andrew McClellan, Inventing the Louvre. Art, Politics and the Vision of the Modern Museum in Eighteenth Century Paris, Berkely: University of California Press 1994.