Der Kampf der USA gegen den Aufstieg Chinas ist eine zentrale Achse der gegenwärtigen internationalen Beziehungen. Er begann nicht erst mit Donald Trump, sondern bereits unter Barack Obama und seiner Außenministerin Hillary Clinton und ihrer „Wendung nach Asien“. Heute agieren die USA nicht nur mittels Handelskrieg, sondern auch mit militärischer Aufrüstung und Einkreisung, mit der Anzettelung regionaler Konflikte in geographischer Nähe Chinas – nicht nur im Südchinesischen Meer, auch in Taiwan und Korea, der Förderung sezessionistischer Kräfte in Tibet und Xinjiang, geheimdienstfinanzierten Operationen für eine „Farbrevolution“ in China, aktuell mit der Unterstützung von Unruhen in Hongkong, aber auch mit wirtschaftlichem und politischem Druck auf Drittländer.
Die Frage nach dem „großen Krieg“ der USA gegen China, wie sie der Historiker Hobsbawm bereits vor 15 Jahren aufgeworfen hat, steht nach wie vor im Raum. Die aus Nordamerika kommenden Trotzkisten, wie Leo Panitch, rubrizieren die gesamte Nachkriegsentwicklung unter dem Stichwort „American Empire“ und sehen in der Auseinandersetzung lediglich das Bestreben der Herrschenden in den USA, China in dieses „Empire“ einzuordnen. Dabei verschwinden nicht nur die Eigenheiten des hegemonialen Übergangs im Weltsystem, wie sie historisch Fernand Braudel und Immanuel Wallerstein beschrieben haben, sondern auch die Unterschiede zwischen den globalistischen Interventionisten, wie sie Obama und Biden verkörpern, und dem neuen nationalistischen Unilateralismus, für den Trump steht. Bei den jetzigen Präsidentenwahlen geht es nicht nur im Innenpolitik, sondern auch um eine außenpolitische Weichenstellung.
Betrachtet man den derzeitigen politischen Kontext, so zeigt sich: Beide Seiten sind unter Donald Trump und Xi Jinping sichtlich bemüht, eine direkte Interessenkollision, eine militär-strategische Konfrontation nicht zuzulassen. Chinas Aufstieg braucht keinen Krieg. Es gilt die Grunderkenntnis aus der Spätphase des Kalten Krieges: die Clausewitz'sche Formel, dass der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, gilt nicht mehr; es gibt keine Politik, die durch einen alles vernichtenden Nuklearkrieg zu realisieren wäre. Das heißt: ein Atomkrieg ist weder führbar noch gewinnbar. Chinas Kultur der Politik ist rückwärts, in die Vergangenheit, wie vorwärts in die Zukunft betrachtet eine, die in Jahrtausenden rechnet, während der westliche Spätkapitalismus nur ein Heute kennt. China hat Zeit, sein Aufstieg ist friedlich und zugleich unaufhaltsam, während der „Welt des weißen Mannes“ die Vorherrschaft zwischen den Fingern zerrinnt. Entscheidend für die nächsten zehn Jahre ist: Zwingt China im Bündnis mit Russland und anderen Mächten sowie friedenswilligen Kräften in aller Welt – hier wäre auch über deutsche Außenpolitik zu reden – die USA und die NATO, einen großen Krieg nicht auszulösen?
Der Friedensforscher Ulrich Knappe kam vor zwei Jahren in einem Resumé des Kalten Krieges zu dem Ergebnis, dass auch der Kalte Krieg eine Friedensform war. Er trug „neben dem Moment der Konfrontation auch das der Kooperation“ in sich. Er war „die Entstehung des gefährdeten Weltfriedens, der den alles vernichtenden Weltkrieg als Alternative gehabt hätte“. Unter der Voraussetzung der Nicht-Führbarkeit und Nicht-Gewinnbarkeit eines thermonuklearen Weltkrieges war der Kalte Krieg die Austragungsform der Auseinandersetzung zwischen USA, NATO und „dem Westen“ auf der einen und der Sowjetunion und ihren Verbündeten auf der anderen Seite. Heute sind neues Wettrüsten und Handelskrieg Austragungsformen des Hegemonialkampfes, den die absteigenden USA gegen das aufsteigende China führen. Das muss aber nicht heißen, dass der Zweck dieser USA-Politik der große Krieg ist. Der Zweck ist das Aufhalten und Behindern des Aufstiegs Chinas. Das soll auch aus USA-Sicht nicht um den Preis der Vernichtung der Welt geschehen. Insofern liegen heute Betrachter falsch, die in einem traditionalistischen Sinne die Handelskriege als Kriegsvorbereitungen für den großen Krieg zu fassen suchen.
Kürzlich gab Kevin Rudd, Sinologe und früherer Premierminister Australiens, heute Präsident eines Asien-Instituts mit Sitz in New York, der Neuen Zürcher Zeitung ein Interview. Die Rivalität zwischen den USA und China, betonte er, sei Ergebnis struktureller und personeller Faktoren. Die strukturelle Seite sei völlig klar: die Veränderung des Kräfteverhältnisses in militärischer, wirtschaftlicher und technologischer Hinsicht. Zur personellen Seite gehöre einerseits der Führungsstil Xis, „der bestimmender und aggressiver ist, als der all seiner Vorgänger seit Mao“, andererseits Trumps „Besessenheit in Bezug auf bestimmte Teile der Wirtschaft, besonders den bilateralen Handel“. Die politischen Eliten der USA, Republikaner und Demokraten, seien zu dem Schluss gekommen, „dass China unter Xi keine Status-quo-Macht“ mehr sei, „sondern dass es Amerika in seiner globalen Führungsposition ablösen“ wolle. Dann differenziert Rudd sehr interessant: „Hätte Hillary Clinton 2016 gewonnen, wäre ihre Reaktion sehr hart gewesen. Trump ist primär oberflächlich hart aufgetreten, vor allem in den Bereichen Handel und Technologie. Er wurde erst durch die Covid-19-Krise, die seine Wiederwahl bedroht, zu einer umfassend härteren Gangart veranlasst. Wäre der nächste Präsident der USA ein Demokrat, dürfte die neue Regierung gegenüber China ebenso robust, aber systematischer auftreten.“ Mit anderen Worten: Eine Entspannung wird es nicht geben.
Das Ergebnis, das mit Corona verstärkt wurde, sei eine weltwirtschaftliche Entkopplung zwischen den USA und China, die bereits begonnen habe. Das betrifft die Auflösung globaler Lieferketten; die Zweiteilung in Bezug auf „kritische Technologien“, wie bei der Halbleitertechnik und den Mikrochips, was am Ende zu einer Zweiteilung des Internets führen werde; die Schrumpfung wechselseitiger Direktinvestitionen sowie die Abkopplung der „Talentemärkte“. Dem stehen jedoch Gegenkräfte gegenüber. China liege, trotz aller Bemühungen, in der Halbleiterindustrie 3-7 Jahre hinter den USA, Taiwan und Südkorea zurück. Bisher stammen jedoch 50 Prozent der Gewinne der USA-Halbleiterindustrie von Kunden aus China. Dieses Geld finanziert entsprechende Forschungen in den USA. Um den technologischen Vorsprung zu halten, stehe deshalb das Pentagon „nicht auf der Seite der Anti-China-Falken“. Das gelte auch für die Herren des Silicon Valley und der Wall Street.
Am Ende warnt Rudd jedoch, er habe in Washington und in Peking mit zu vielen Leuten gesprochen, um einen militärischen Konflikt für eine nur theoretische Möglichkeit zu halten. Das widerspreche der Rationalität. Aber die habe 1914 in Europa auch nicht funktioniert. Der Nationalismus sei heute nicht weniger giftig. „Denken Sie daran, dass wir in Ostasien unsere eigene Version von Elsass-Lothringen haben: Sie heißt Taiwan.“