Krisen haben ein Geschlecht

Eine feministische Perspektive auf die Pandemie im Libanon

Corona ist nur eine Krise neben anderen im Libanon. Wirtschaftskollaps, Bankenkrise und die humanitäre Krise der Geflüchteten vor allem aus Syrien verschränken sich mit der Pandemie zu einer verheerenden Gesamtsituation. Für Frauen sind die Folgen besonders einschneidend, denn Krisen sind nie geschlechtsneutral. Ein feministischer Blick auf die Pandemie ist daher (nicht nur) im Libanon nötig.

Lange hieß es, Covid-19 diskriminiere nicht. Was dabei meist unerwähnt blieb: Es sind die bereits vorhandenen Ungleichheitsverhältnisse, die diskriminieren und auf die die Corona-Krise wie ein Katalysator wirkt. Die Folgen der Pandemie lassen sich deshalb nur realistisch erschließen, wenn man sie im Kontext verschränkter Ungleichheiten etwa entlang von Geschlecht, Klasse oder Einwanderungsstatus betrachtet.

Frauen sind in Krisen einem höheren Risiko kultureller, sozialer und ökonomischer Benachteiligung ausgesetzt. So steigt etwa die Gefahr für Frauen, geschlechtsspezifische Gewalt zu erleben, in Krisenzeiten erheblich an. In der Corona-Krise kommt erschwerend die soziale Isolation hinzu: Weltweit wird als Folge des Shutdown ein Anstieg häuslicher Gewalt gemeldet. Frauen sind zudem besonders häufig von den sozialen und ökonomischen Folgen betroffen, da sie meist die unbezahlte Care-Arbeit leisten, überproportional oft im informellen Sektor angestellt sind und entsprechend eher ihre Arbeit verlieren. Und sie sind gerade in jenen (meist unterbezahlten) Berufen tätig, die in der Pandemie ein besonders hohes Infektionsrisiko bergen: im Krankenhaus, in der Altenpflege und in Erziehungsberufen. Im Libanon beispielsweise sind 79,5 Prozent der Krankenpfleger*innen weiblich.

In der politischen Reaktion auf das Virus zeigt sich zudem ein Muster, das bereits aus anderen Krisenkontexten bekannt ist: Obwohl Frauen in vorderster Reihe an der Krisenbewältigung und Prävention der Pandemie beteiligt sind, werden sie weder als Expertinnen wahrgenommen, noch sind sie in ausreichender Zahl an der politischen Entscheidungsfindung beteiligt. Dies führt dazu, dass die Maßnahmen zur Krisenbewältigung große Blindstellen aufweisen, wenn es um die spezifischen Probleme von Frauen geht.

So auch im Libanon. Abir Chbaro, Expertin für Genderpolitik im Nationalen Frauenkomitee des Libanon, kritisiert genau dies mit Blick auf den Notfallplan der libanesischen Regierung: Zwar wurden sehr früh strikte Ausgangssperren verhängt. Frauenorganisationen kritisieren jedoch, dass die Regierung es verpasst habe, Geschlechtergerechtigkeit in der Pandemie-Bewältigung zu berücksichtigen: »Dieser Aktionsplan ist nicht nur geschlechterblind, er enthält auch keine Antwort auf die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Krise, insbesondere für die am stärksten Gefährdeten«, so Chbaro.

Im Libanon verschärft die Pandemie eine bereits desolate Situation. Das Land erlebt seit Jahren eine katastrophale Wirtschafts- und Finanzkrise. Die seit letztem Herbst anhaltenden Proteste gegen Korruption, Misswirtschaft und soziale Ungerechtigkeit wurden durch die Corona-Epidemie jäh unterbrochen. Das Land ist pleite, die Inflation rast, die Arbeitslosigkeit ist hoch und das Gesundheitssystem marode.

In isolierten Lagern

Wie sehr sich durch die Pandemie die Lage für jene Gruppen zuspitzt, die ohnehin von Diskriminierungen betroffen sind, zeigt auch der Blick auf Geflüchtete. Im Libanon, einem Staat mit knapp 4,5 Millionen Einwohner*innen, haben schätzungsweise 1,5 Millionen Menschen Schutz vor dem Krieg in Syrien gesucht, davon 70 Prozent Frauen und Kinder. Der Libanon hat dabei das Abkommen von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge nicht ratifiziert. Auch gibt es keine nationale Gesetzgebung, die sich eindeutig mit Geflüchteten befasst. Die Weigerung der Regierung, legale Aufenthaltstitel und Arbeitserlaubnisse zu gewähren, hat zur Folge, dass Frauen ohne legalen Status einem hohen Risiko sexueller Ausbeutung ausgesetzt sind – etwa durch Vermieter*innen, Arbeitgeber*innen oder Mitarbeiter*innen von Hilfsorganisationen.

Auf Drängen der libanesischen Regierung ist es dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) zudem seit 2015 untersagt, neu ankommende Geflüchtete zu registrieren. Dadurch werden viele Geflüchtete illegalisiert und leben in unzähligen informellen Siedlungen in der ohnehin strukturschwachen Bekaa-Ebene. Hier haben es Hilfsorganisationen schwer, flächendeckend humanitäre Hilfe anzubieten. NGOs, die Hygieneartikel und medizinische Ausrüstung verteilen wollen, brauchen derzeit aufgrund der Corona-Krise Genehmigungen der örtlichen Polizei.

Die informellen Geflüchteten-Camps sind räumlich, sozial und ökonomisch isoliert, was Probleme für alle Bewohner*innen mit sich bringt. Studien zeigen aber, dass Frauen zusätzlich dazu in diesen kriegsbedingten Flüchtlingslagern Gefahr laufen, geschlechtsbasierte Gewalt zu erfahren. Das hat viele Gründe: Männlich dominierte Machtstrukturen, fehlende Schutz- und Rückzugsräume, Arbeits- und Perspektivlosigkeit, Existenzängste und konfliktbedingte Traumata. Dazu erschwert es der unzureichende Zugang zu Polizei und Rechtsberatung, Übergriffe anzeigen.

Frauenrechtsorganisationen suchen Mittel und Wege gegen die Isolation der Lager, welche in Corona-Zeiten noch verstärkt wird: Über »Focal Points« in den informellen Siedlungen holt ein Netzwerk von Organisationen Informationen ein, um von betroffenen Frauen in den ansonsten isolierten Lagern zu erfahren, welche Unterstützung sie benötigen – notfalls via WhatsApp. Informationsveranstaltungen zu Prävention und Behandlung von Covid-19 werden nun auf virtuellen Plattformen angeboten.

Pandemie und Schattenpandemie

Schon vor der Corona-Pandemie war die Lage auch für Frauen mit libanesischer Staatsbürgerschaft oft prekär. Zwar hat der Libanon eine Reihe nationaler Gesetze und internationaler Verträge für Frauenrechte ratifiziert, doch es gibt noch immer kein Gesetz, das geschlechtsspezifische Gewalt ausdrücklich verbietet. Die schlechte wirtschaftliche Situation sowie Stress und Frustration in der Bevölkerung haben konfessionsübergreifend dazu beigetragen, dass Gewalt gegen Frauen stetig zunahm.

Schon vor der Corona-Krise betrieben verschiedene Frauenrechtsorganisationen Notfall-Telefone, Schutzhäuser oder stellten psychosoziale und rechtliche Beratungsangebote für Frauen zur Verfügung. Aufgrund der erwähnten »Geschlechterblindheit« des staatlichen Maßnahmenkataloges gegen Covid-19 sind es nun auch vor allem Frauenrechts-NGOs, die für den Schutz von Frauen während der Corona-Pandemie agieren.

Sie bieten ihre Beratungen mittlerweile über Telefon, Video und die Sozialen Medien an. Die Partnerinnen der Frauenrechts-NGO AMICA verzeichnen im März doppelt so viele Anrufe über ihre Hilfe-Hotline als im Vormonat. Allein für den April berichten sie von sechs getöteten Frauen. Die Dunkelziffer der von UN Women als globale »Schattenpandemie« bezeichneten häuslichen Gewalt wird noch deutlich höher geschätzt. Denn in Isolation – häufig gemeinsam mit dem Täter – ist es für viele Frauen unmöglich, die Hilfsorganisationen anzurufen.

»Seit März haben wir einen deutlichen Anstieg der Kontaktaufnahme von Frauen über die Sozialen Medien bemerkt. Es scheint der einfachere Zugang für Frauen während der Ausgangssperre zu sein.« berichtet eine libanesische Frauenrechts-NGO. So erklärt sich auch, dass sie von syrischen Frauen weniger Anrufe erhalten als sonst. »Das bedeutet nicht, dass die Gewalt gegen Frauen abnimmt. Vielmehr ist es ein Indikator für das zunehmende Level an Furcht, Einsamkeit und Isolation, das die Frauen aufgrund der strikten Ausgangsbeschränkungen in den Camps erleben. Sie können nicht einmal raus, um Geld abzuheben oder einkaufen zu gehen, geschweige denn, die Übergriffe zu melden oder anzuzeigen.«

Der ohnehin begrenzte Raum für zivilgesellschaftliche Akteur*innen schrumpft in Zeiten von Corona. Auch die NGOs sind von den strikten Ausgangsbeschränkungen betroffen. Doch feministische Organisationen im Libanon setzen sich weiterhin für Frauen, Geflüchtete, LGBTQ*-Personen und Menschen mit Behinderung ein, trotz und gerade in der Corona-Krise. Sie sind mit Kampagnen zur Gesundheitsaufklärung aktiv und verteilen Flyer in Apotheken, Arztpraxen und den Camps. Sie fordern, dass alle Zugang zu Unterstützungsleistungen bei Gewalterfahrungen erhalten und dass das Polizeipersonal in der Lage sein muss, rund um die Uhr auf Fälle häuslicher Gewalt zu reagieren. »Zu Hause bleiben darf nicht soziale Distanzierung bedeuten«, heißt der Appell. Er richtet sich auch an die internationale Gemeinschaft, gerade jetzt Programme zum Schutz vor geschlechtsbasierter Gewalt zu unterstützen und an alle, globale Solidarität zu zeigen gegen die im Wortsinn virulenten Ungleichheiten.

 

Dagmar Ihlau und Hannah Riede sind Mitarbeiterinnen der Frauenrechtsorganisation AMICA, die in Krisen-und Kriegsregionen mit lokalen Frauenrechts-NGOs zusammenarbeitet. Für ihre Partnerinnen im Libanon, Libyen, der Ukraine und Bosnien-Herzegowina sucht AMICA Unterstützung unter: https://bit.ly/2ZIDJ0c