Schlussfolgerungen für die Linken
Verwerfungen im Parteiensystem lassen sich nicht nur in Deutschland beobachten. Der Niedergang sozialdemokratischer Parteien und der Aufstieg populistischer Bewegungen haben in anderen europäischen Ländern schon früher und mit größerer Heftigkeit die Struktur des politischen Systems verändert. Die gesellschaftliche Linke hat darauf unterschiedlich und mit verschiedenen Ergebnissen reagiert, wie Cornelia Hildebrandt beobachtet.
Das politische Feld in Europa ist in Bewegung geraten. Die über Jahre produzierten Analysen zur Krise der Parteiendemokratie mit abnehmenden Parteien- und Wählerbindungen, asymmetrischer Demobilisierung und abnehmender gesellschaftlicher Repräsentanz müssen vor dem Hintergrund gegenläufiger Entwicklungen überdacht werden. Während in den Niederlanden sich das Parteiensystem auf neue Weise zersplittert, in Deutschland erstmalig die Regierungsbildung vor erheblichen Problemen steht, scheinen sich andere Parteiensysteme ohne SozialdemokratInnen auf neue Weise nationalkonservativ zu stabilisieren.
In Tschechien geht nur noch jeder Zweite zur Wahl, in Großbritannien erreicht die Wahlbeteiligung mit knapp 69 Prozent erstmals wieder Werte wie 1997 nach dem Sieg von Tony Blair. Jeremy Corbyn bringt die Labour Party wieder auf 40 Prozent und erreicht 72 Prozent von WählerInnen zwischen 18 bis 24 Jahren. Die tschechischen SozialdemokratInnen implodieren wie vor ihnen die griechischen, französischen und holländischen SozialistInnen und verlieren vor allem ihre jungen WählerInnen, die von tschechischen KommunistInnen schon seit Jahren nicht mehr erreicht werden.
Was steht hinter diesen Entwicklungen?
In Europa hat das EU-System der negativen Integration durch verschärften Wettbewerb unter den Bedingungen des neoliberalen Finanzmarktkapitalismus die nach oben orientierte Fahrstuhlgesellschaft (Beck) durch die nach unten kippende Abstiegsgesellschaft (Nachtwey) abgelöst. Halten kann sich nur, wer über ausreichend Fähigkeiten besitzt, auf der nach unten laufenden Rolltreppe aufzusteigen, oder mit reichlich Kapital oberhalb der Rolltreppe steht. Gesellschaftliche Diversität treibt so auseinander, segregiert, fragmentiert sich neu und wirkt auf das politische Feld, deren politische Repräsentanten sich angesichts neuer drohender Krisen eher in sicherer Entfernung zu den Rolltreppen positionieren. Weder ein "Weiter so" scheint möglich, noch sind seit den Krisen 2008/2009 Strategien eines Umsteuerns sichtbar. Die Fähigkeit zur sozialen, politischen und kulturellen Integration von Gesellschaften nimmt ebenso ab wie die Integrationsfähigkeit ihrer politischen Systeme. Die Fassaden der Demokratie bröckeln seit langem, nun auch die Säulen der Demokratie - die Parteien selbst, deren erstarrte Strukturen notfalls abgelegt und durch charismatisch geführte Bewegungsparteien als Wahlkampfmaschinen ersetzt werden.
Es ist die Zeit radikaler gesellschaftliche und politischer Umbrüche, Zeiten "in denen das Alte stirbt und das neue noch nicht zur Welt kommen kann" (Gramsci) - Zeiten des Interregnums, d.h. Zeiten des Zerfalls wie auch der Neuformierung von Gesellschaft, der Schwäche von Institutionen wie auch der Herausbildung von Gelegenheitsstrukturen. Es ist die Zeit für politisches Unternehmertum und der Neuformierung von AkteurInnen.
Es sind Zeiten, in denen sich neue Konfliktlinien herausbilden, die sich mit bisherigen überlappen, diese verstärken und/oder abschwächen können oder so überformen, dass der bisherige Zusammenhang zwischen vorhandenen Konfliktlinien und Organisationen sich auflöst. Die Folgen sind der Verlust von Vertrauen und Legitimation. Dies gilt erst recht in Momenten der Zuspitzung oder angesichts realer Katastrophen wie 2011 in Fukushima, als kurzfristig die ökologische Frage in das Zentrum politischer Auseinandersetzungen rückte und so die sozialen wie soziokulturellen Konfliktlinien in den Hintergrund drängte. Die Komplexität von Gesellschaft resultiert aus den unterschiedlichen Dynamiken von Konfliktlinien, die einerseits über lange Zeiträume die Tiefenstrukturen der Gesellschaft prägen und gleichzeitig durch gesellschaftspolitische Umbrüche und neue Konfliktlinien überlagert, überformt werden können. Auf dem politischen Feld können dann Parteien entstehen, die sich keinem traditionellen politischen Lager mehr dauerhaft zuordnen.1
Repräsentanz von Konfliktlinien
Ein anderes Problem stellt sich mit der Repräsentanz von Konfliktlinien.
Die politische Ausrichtung von Volksparteien zur gesellschaftlichen Mitte mit dem Ziel der Wählermaximierung war für die konservativen wie auch für die sozialdemokratisch/sozialistischen Parteien zunächst eine Antwort auf die sich auflösenden sozialpolitischen Milieus. Sie führte jedoch zugleich zur Neuverortung entlang den sozioökonomischen und soziokulturellen Konfliktlinien.
Für die Sozialdemokratie in Europa verband sich dieser Prozess mit dem "Dritten Weg" der Sozialdemokratie und dem Übergang von einer auf Ausgleich und weitgehende Gleichheit der Lebensverhältnisse ausgerichteten Sozialstaatlichkeit zugunsten neoliberaler sozialer Wettbewerbsstaaten unter globalisierten Bedingungen. Mit der so geformten Modernität sollte auf die soziostrukturellen gesellschaftlichen Umbrüche reagiert werden, in deren Folge sich traditionelle konservative Milieus auflösten. Die Sozialdemokratie konzentrierte sich auf die aufgestiegenen modernen Dienstleistungsmilieus in den mittleren und oberen Segmenten der Gesellschaft. Folgerichtig veränderten sich auch die Wählerpotentiale, die aus Sicht beider Volksparteien sich eher in der Mitte der Gesellschaft - also zwischen Markt und Sozialstaat positionierten. Bei dieser politischen Neuausrichtung konnten sich die SozialdemokratInnen/SozialistInnen auf jene gesellschaftlichen Milieus stützen, denen der sozialstaatlich gestützte Aufstieg bis in die bürgerliche Mitte gelungen war, deren Lebensstandards unter globalisierten Bedingungen postfordistischer Produktionsweise ggf. konservativ verteidigt wird. Gleichzeitig musste diese Ausrichtung der Politik zur Entfremdung gegenüber jenen führen, die auf sozialstaatliche Leistungen angewiesen sind.
Politische Entfremdung hat immer eine soziale und kulturelle und letztlich auch institutionelle Dimension. So vollzog sich die Herausbildung der Grünen vor dem Hintergrund sich abzeichnender sozioökonomischer Umbrüche fordistischer Produktionsweisen und sich gleichermaßen vollziehender soziokultureller Umbrüche einer scheinbar erstarrten Gesellschaft mit ihren Institutionen, Werten und Einstellungen. Die Endlichkeit natürlicher Ressourcen und drohender Umweltzerstörung über Klassen- und Ländergrenzen hinweg beförderte neue gesellschaftspolitische Diskurse zu ökologischen Fragen und wurde zum mobilisierenden Feld neuer gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und innovativer Suchprozesse, die ökologische Fragen mit alternativen Lebensweisen verbanden und über die Grünen hinaus soziale Praxen und Widerstandsformen veränderten.
Die Sicht auf die "eine", verletzliche und zerstörbare Welt rückte die globale Dimension als Handlungsebene und -notwendigkeit in den Fokus von Auseinandersetzungen, aber auch als Potential gesellschaftlicher Gestaltung, als Mobilisierungsraum und Möglichkeit neuer parteipolitischer Organisierung. Die Gründung grüner Parteien vollzieht sich dabei entlang eines neuen sozioökonomischen versus ökologischen Cleavages, der gebunden an die sich neu herausbildende weltoffen-libertäre versus traditionsgebundene-national fokussierte Konfliktlinie, die heute als kosmopolitisch versus regressiv kommunitaristische Konfliktlinie2 diskutiert wird und zur Herausbildung neuer Typen von rechten Protestparteien führte.
Das zunehmende Gewicht der soziokulturellen Konfliktlinie wurde zunächst als Zunahme von postmaterialistischen Werten diskutiert, bei der die globalen Friedens- und Umweltfragen mit Fragen individueller Lebensgestaltung und wachsender Diversität von Lebensweisen verknüpft wurden. Dazu gehörte neben dem friedenspolitischen und ökologischen Engagement die Emanzipation von Frauen, darunter Fragen von Schwangerschaftsverhütung und Abtreibung, die sich ausdifferenzierenden Identitätspolitiken und Minderheitenrechte, aber eben auch neue Formen der Organisierung und des Protestes.
Vieles schien möglich, vieles konnte sich weit über die Partei der Grünen und ihrer Anhängerschaft hinaus gesellschaftlich verankern und veränderte die Sicht auf natürliche Ressourcen und ökologische Fragen bis hin zum individuellen Konsum. Auf dem politischen Feld finden sich heute in fast allen Parteien Aussagen zu Umwelt- und Klimafragen, zur Gleichberechtigung von Frauen und teilweise auch zur Homoehe und zum Schutz von Minderheiten, die letztlich Modernisierungsprozesse von Parteien bis in die Reihen der Konservativen beförderten.
Diese Prozesse, maßgeblich getragen von den politischen Eliten ihrer jeweiligen Parteien, wurden jedoch nur von einem Teil der Anhänger und der Wählerschaft mitvollzogen, so dass insbesondere Volksparteien, die längst schon aufgrund des gesellschaftlichen Wandels ihr ursprüngliches Profil als konservative oder sozialdemokratische Parteien zugunsten von Catch-All-Parteien aufgegeben hatten, nunmehr mit einer wachsenden soziokulturellen Spreizung innerhalb ihrer Mitglied-, Anhänger- und Wählerschaft konfrontiert wurden und so an Bindungskraft einbüßten. Bereits 2009 beschreibt Franz Walter "im Herbst der Volksparteien" die Entfremdung von Parteien und Gesellschaft seit den 1990er Jahren.3 Bei den Europawahlen 2014 zeigte sich die deutlich nachlassende Bindungskraft nicht zuletzt bei den konservativen Parteien, die 8 Prozent ihrer Wählerschaft vor allem an die sich neuformierenden rechtspopulistischen Parteien abgaben.
Polarisierungsprozesse in den Volksparteien
Weder den Konservativen und noch weniger den SozialdemokratInnen gelang es unter den Bedingungen globalisierter Produktionsweisen eines finanzmarktgetriebenen Kapitalismus und der zunehmenden Europäisierung von Steuerungs- und Regelungsprozessen die soziale und kulturelle Spreizung zu verarbeiten. Innerhalb der Volksparteien selbst vollzogen sich Polarisierungsprozesse, die letztlich die Bindungskraft der Parteien zusätzlich schwächte.
Der Dritte Weg der SozialdemokratInnen/SozialistInnen, die Unterordnung sozialer Mindeststandards unter die globalisierten Erfordernisse freier Marktwirtschaft, beschreibt nicht nur eine Neuverortung entlang der sozioökonomischen Konfliktlinie zwischen sozialstaatlicher Politik und freier Marktwirtschaft, sondern die damit einhergehenden soziokulturellen Öffnungen der global agierenden Wirtschafts- und politischen Eliten. Traditionelle sozialdemokratische Werte spielen zwar vor allem in der Mitgliedschaft noch immer eine wichtige, aber gegenüber dem globalen Wirtschaftsgeschäft eher nachgeordnete Rolle.
Für einen Teil der international agierenden Eliten und die mit diesen aufsteigenden neuen Mittelschichten der sich ausdifferenzierenden oberen und mittleren sozialen Milieus bedeutet die Globalisierung Gestaltungs- und Lebensraum, der nicht mehr an feste nationale Räume gebunden zu sein scheint. Entkoppelt von den realen sozialen Prozessen agieren diese eher in der Logik globaler oder europäischer Institutionen des Finanzmarktkapitalismus, die demokratiezerstörend in nationalstaatliches Handeln systemregulierend eingreifen und die primär national gebundene (und errungene) (Sozial-)Staatlichkeit zugunsten global agierender Wettbewerbsstaaten verändern.
Für jene, die Globalisierung und Europäisierung als Bedrohung bisheriger Lebensweise oder als Rückbau von Sozialstaatlichkeit erfahren, als Gefährdung ihres sozialen Status und darüber hinaus als eine Entwicklung, die weder kontrollierbar noch steuerbar ist, erscheint der Rückzug auf den nationalen Sozialstaat, auf die Heimat, auf die wegbrechenden traditionellen Werte als Weg neuer Selbstbestimmung und Repräsentation.
Der Verlust an "Lebenssicherheiten", vor allem sozialer Sicherheit, und der Kontrollverlust über eigene Lebensplanungen, die sich vertiefenden sozialen Spaltungen sowie die Tendenzen umfassender Prekarisierung von Lebens- und Arbeitsweisen selbst in den sogenannten Kernländern der EU führte nach den Krisenjahren 2008/2009 angesichts der ausbleibenden Antworten auch sozialdemokratischer Parteien nach rechts und zu grundlegenden Veränderungen der politischen Landschaften.
Dort, wo mit der "Neoliberalisierung" der Sozialdemokratie auf der Suche nach einem dritten Weg von Sozialstaatlichkeit unter globalisierten Bedingungen die Unterordnung sozialer Standards unter die Wirksamkeit freier Märkte politisch durchgesetzt wurde oder wird, droht sozialdemokratischen/sozialistischen Parteien der Abstieg in die Bedeutungslosigkeit. Nur noch ein Viertel der Wähler können sozialdemokratische Parteien in Europa an sich binden.
Absturz und Aufstieg
Die größten Abstürze von sozialdemokratischen/sozialistischen Parteien vollzogen sich in Frankreich, wo die SozialistInnen bei den Parlamentswahlen von 29,35 Prozent im Jahr 2012 auf 7,44 Prozent in 2017 fielen; im gleichen Zeitraum sackten in den Niederlanden<B> <W0>die SozialistInnen von 24,84 Prozent auf 5,70 Prozent in 2017. In Deutschland erreichte 2017 die SPD mit 20,5 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis seit 1945. In Österreich wurde 2017 die SPÖ, die seit 2006 nicht mehr über 30 Prozent kam, mit einer hauchdünnen Differenz von 0,89 Prozent vor der deutschnationalen und rassistischen Freiheitlichen Partei (FPÖ) nur noch zweitstärkte Partei und konnte so deren Regierungseintritt nicht verhindern. In Tschechien stürzten die SozialdemokratInnen bei den Abgeordnetenhauswahlen 2017 von 20,45 auf 7,27 Prozent und die Kommunistische Partei Böhmen und Mährens von 14,9 auf 7,76 Prozent. 2016 fiel die irische Labour Party von 19,45 auf 6,1 Prozent. Seit 2015 ist in Polen erstmalig seit 1990 keine sozialdemokratische Partei mehr im nationalen Parlament vertreten. Der Abstieg der griechischen PASOK vollzog sich eher in Etappen: von 43 Prozent in 2009 auf 13,5 in 2012, und auf 4,68 Prozent im Jahr 2015.
Zugleich aber gibt es gegenläufige Tendenzen bzw. die Neuformierung von Kräften, die ihre Wurzeln auch in der Sozialdemokratie haben. Derzeit binden die skandinavischen SozialdemokratInnen zwischen 25 und 30 Prozent der WählerInnen. Die unter dem Druck der radikalen Linken nach links orientierten portugiesischen SozialistInnen stehen bei 30, die eher unentschlossen agierende spanische PSOE liegt bei 20 Prozent. Die Ausrichtung der britischen Labour Party unter Jeremy Corbyn entlang klassischer sozialdemokratischer Werte ermöglichte ihm einen Stimmzuwachs von 30,5 Prozent 2015 auf 40 Prozent bei den Wahlen 2017. Ihm gelang die Mobilisierung von NichtwählerInnen und die Mobilisierung junger Wählergruppen mit klassischen sozialdemokratischen Themen.
Aber der Blick nur auf die sozialdemokratischen Parteien reicht nicht, um die Tragweite der Veränderungen zu verstehen. So beträgt der Anteil der beiden Volksparteien in Deutschland 2017 nur noch 53,5 Prozent der WählerInnen. Das Schrumpfen oder mögliche Implosionen der Volksparteien verändern das gesamte Parteiengefüge, die Stabilität von Regierungen und die Integrationsfähigkeit einer sozial, politisch und kulturell auseinanderdriftenden Gesellschaft.
Vor dem Hintergrund innerparteilicher Pluralisierung und vor allem Polarisierung muss die nachlassende Bindungskraft von Parteien mit Hilfe charismatischer Persönlichkeiten ersetzt werden. Dies trifft in besonderer Weise, aber nicht nur die konservativen Parteien, die den Zusammenhalt ihrer AnhängerInnen- und WählerInnenschaft mit charismatischer Führung aufrechterhalten. Auf diese Weise sind in den letzten Jahren verschiedenartige neue Parteienprojekte entstanden wie die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien. Andere wie Macrons "En Marche" in Frankreich oder die Liste Sebastian Kurz verzichten kurzerhand auf die Unterstützung traditioneller Parteien zugunsten mobilisierungsfähiger Wahlpartei-Bewegungen, die zugeschnitten auf ihre Führungsfigur mühevolle parteiinterne Willensbildungsprozesse hinter sich lassen. Parteien sind so immer weniger Institutionen politischer Willensbildungen und verlieren ihren demokratisierenden Charakter. Vor allem populistische Rechtsparteien gewinnen an Einfluss oder halten sich stabil, wie nahezu alle Wahlen in Europa in 2017 aufzeigen. In Österreich regieren seit 2017 die Konservativen mit der zur extremen Rechten offenen Freiheitlichen Partei. Anders in Frankreich, wo linker Widerstand den Aufstieg des Front National zunächst stoppen konnte.
Sowohl Emanuel Macrons Bewegung "La République en Marche!" als auch Luc Melenchons Bewegung "La France insoumise" haben an ihrer Spitze Repräsentanten, die ihren politischen Weg in der Parti Socialiste begannen und nunmehr für zwei Projekte stehen: Losgelöst von ihren bisherigen klassischen Parteien formierten sie einen neuen Typ von Parteien-Bewegungsprojekten, die sich kontrovers gegenüberstehen und unterschiedliche Pole sozialistischer Erneuerung beschreiben. Die handlungsunfähige innerparteiliche Zerrissenheit der SozialistInnen findet sich nun wieder in unterschiedlichen Projekten, die sich beide als Alternativen gegen den Aufstieg der neuformierten radikalen Rechten verstehen. Seit 2017 ist der Front National mit 8 Sitzen im Parlament vertreten, seine diskursive Wirkungsmacht weist jedoch weit über diese parlamentarische Vertretung hinaus.
Während Macron in Frankreich die neoliberale Agenda 2010 der deutschen SozialdemokratInnen von 2003 durchsetzt und für ein erneuertes europäisches Projekt einer sich vertiefenden Europäischen Union mit vertiefter Zusammenarbeit in der Eurozone steht, gehört zur Programmatik von "La France insoumise" die Verteidigung sozialstaatlicher Mindeststandards, die Rechte der Arbeitenden, die Forderung nach einer neuen Verfassung zur Demokratisierung der Gesellschaft, eine (öko)keynesianische Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die ökologische Frage wurde 2017 zentral gesetzt mit Energiewende und komplettem Ausstieg aus der Atomenergie.
Nahezu exemplarisch lässt sich am Fall Frankreichs die von Zürn 2016 herausgearbeitete gesellschaftliche Konfliktlinie zwischen Kosmopolitismus und regressivem Kommunitarismus beschreiben.4 Anders jedoch als in den meisten europäischen Ländern wurde mit der Bewegung "La France insoumise" und ihrem Kandidaten Jean-Luc Mélenchon ein dritter gesellschaftlicher Pol sichtbar. Zwischen dem neoliberalen Kosmopolitismus Emmanuel Macrons und dem Kommunitarismus Marine Le Pens konnte sich in der gesellschaftlichen Debatte ein dritter solidarischer Pol durchsetzen, der die soziale Frage stark machte und für eine Überwindung des politischen Systems der V. Republik plädierte.5
Was heißt das für die Linken
Die Zeiten des Interregnums sind Zeiten widersprüchlicher Dynamiken, die zur Barbarei oder zur Humanisierung der Gesellschaft führen können. Geschichte bleibt offen. Und gerade angesichts hoher Fragilität und politischer Instabilität müssen sich Linke auf unterschiedliche Entwicklungen strategisch einstellen. Hilfreich ist hierfür die Arbeit an Szenarien auf der Grundlage gesellschaftlicher Analysen. Vor dem Hintergrund der Spaltung des herrschenden Blocks wurden 2011 vom Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung vier miteinander konkurrierende Strategien herausgearbeitet: der autoritäre Neoliberalismus, die Neue Rechte, der "Grüne Kapitalismus" und ein sozial-libertärer grüner New Deal.6 Letzterer steht für eine sozialökologische Transformation von Gesellschaft, die verbindend lokal, national, europäisch und global zu denken und zu entwickeln ist.
Die Linke muss sich dabei einbringen, die solidarische Mitte der Gesellschaft, wie sie im Kampf gegen TTIP oder in unzähligen Willkommensinitiativen ihren Ausdruck findet, zu erweitern und gesellschaftlich zu verankern als dritten Pol der Solidarität.7
Dies wird aber nur möglich sein, wenn sie auch auf die zunehmenden soziokulturellen Konflikte in Bezug auf Werte, Traditionen, Weltanschauungen oder Religionen aufgeklärte Antworten findet und diese mit solidarisch gesellschaftsintegrierenden Praxen und Lebensweisen verbindet. Auch eine Linke muss sich "konservativ" verhalten und die eigenen Werte verteidigen: Emanzipation, Menschen- und Bürgerrechte, Solidarität, Gleichheit und Freiheit. Hierzu sollten Linke zu den Initiatoren eines alternativen Dialogs werden, der Verteidigung mit machbaren Alternativen verbindet und hilft, ein mobilisierungsfähiges und gesellschaftsintegrierendes "Wir" und hierfür neue Organisationsformen und Willkommenskulturen zu kreieren, eine Gesellschaft, deren soziale, politische, kulturelle und weltanschaulich-religiöse Vielfalt wächst. Das heißt aber auch die eigene Diversität von Linken ernst zu nehmen.
Das heißt auch die Organisationsfrage neu zu stellen, wie dies Podemos und La France insoumise erfolgreich in unterschiedlicher Weise praktizieren. Aber auch hier ist gerade auch angesichts des Rückbaus und des Bröckelns der Säulen der Demokratie die demokratische Verfasstheit der organisierten Linken wie der solidarische Umgang miteinander langfristig der Schlüssel für Erfolg.
Anmerkungen
1) Holger Onken 2013: Parteiensysteme im Wandel. Deutschland, Großbritannien, die Niederlande und Österreich im Vergleich, Wiesbaden: 50.
2) Wolfgang Merkel 2017: Kosmopolitismus versus Kommunitarismus: Ein neuer Konflikt in der Demokratie, Wiesbaden.
3) Franz Walter 2009: Im Herbst der Volksparteien, Bielefeld: 10.
4) Vgl. Michael Zürn / Pieter de Wilde 2016: "Debating globalization: cosmopolitanism and communitarianism as political ideologies", in: Journal of Political Ideologies: 1-22.
5) Sebastian Chwala / Felix Syrovatka 2017: Frankreich nach der Wahl ist vor der Wahl. https://www.zeitschrift-luxemburg.de/frankreich-nach-der-wahl-ist-vor-der-wahl/.
6) Institut für Gesellschaftsanalyse 2011: Organische Krise des Finanzmarktkapitalismus: Szenarien, konkurrierende Projekte, Thesen August 2011 https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/rls_papers/Papers_Organische_Krise_web.pdf.
7) Michael Brie / Mario Candeias 2017: "Zeit für einen Strategiewechsel", in: Neues Deutschland, 2.10.2017.
Cornelia Hildebrandt ist Diplomphilosophin und arbeitet als stellvertretende Leiterin des Institutes für Gesellschaftsanalyse, Referentin für Parteien und soziale Bewegungen und für den weltanschaulichen Dialog an der RLS.