Schulische politische Bildung

Inhaltslosigkeit als neue Ideologie?

Geht es der schulischen politischen Bildung noch um demokratiepolitische Fragen, um gesellschaftskritische Analysen? Wie macht- und herrschaftskritisch ist die schulische politische Bildung? Gudrun Hentges, Bettina Lösch und Andreas Eis beleuchten diese Fragen und plädieren für eine Neugewichtung der politischen Bildung - gerade auch für (zukünftige) Lehrer_innen.

Am 25. November 2017 feierte die Bundeszentrale für politische Bildung ihren 65. Geburtstag. Dies sollte ein Anlass sein, um erneut über politische Bildung nachzudenken. Nicht zuletzt, weil in wenigen Wochen Abgeordnete der AfD in das Kuratorium der BpB einziehen werden. Die Aufgabe des Kuratoriums besteht darin, die Arbeit der BpB auf ihre Wirksamkeit und Ausgewogenheit zu überprüfen. Es ist zu erwarten, dass die AfD-Abgeordneten Einfluss auf die Ausrichtung der Arbeit dieser staatlichen Behörde nehmen werden, wie dies u.a. bereits in Baden-Württemberg der Fall ist.

Vor allem in Zeiten von Pegida und AfD, in Zeiten von Skandalisierung und Entdemokratisierung, in Zeiten des Wohlfühlens in Echoräumen1 steht die politische Bildung wieder oben auf der Agenda, auch in Bezug auf die Lehrer_innenbildung.

Demokratie als Lebensform vs. Demokratie als Staatsform

Hinsichtlich des Verständnisses politischer Bildung orientierten sich die Publikationen und Vorträge der Bundeszentrale, die anfangs unter "Bundeszentrale für Heimatdienst" firmierte, sehr stark an Theodor Litts Forderung nach einer "politischen Selbsterziehung des deutschen Volkes". Mit Litts Broschüre gleichen Titels wurde 1953 die Schriftenreihe der Bundeszentrale für Heimatdienst etabliert. Eine weitere Säule des Verständnisses der politischen Bildung waren Eduard Sprangers "Gedanken zur staatsbürgerlichen Erziehung", die ebenfalls in der Schriftenreihe publiziert wurden. Litts und Sprangers Beiträge zur politischen Selbsterziehung bzw. zur staatsbürgerlichen Erziehung erschienen in den folgenden Jahren in zahlreichen Auflagen und erfuhren eine weite Verbreitung. Somit wurde ein bestimmter Ansatz der politischen Bildung von staatlicher Stelle protegiert. Erziehungswissenschaftliche Theorien aus dem angloamerikanischen Raum, z.B. der Ansatz von John Dewey, die ebenfalls für die politische Bildung hätten nutzbar gemacht werden können, wurden ignoriert. Sie erfuhren im Umfeld der Bundeszentrale keinerlei Verbreitung und wurden nicht rezipiert.

Lediglich an einigen wenigen Stellen taucht in den Akten das von Theodor Wilhelm (alias: Friedrich Oetinger) in die Diskussion gebrachte Konzept der partnerschaftlichen Pädagogik auf - und zwar unter dem Begriff "Propagierung des Partnerschaftsgedankens". Unter dem Pseudonym Friedrich Oetinger hatte Wilhelm 1951 ein Buch unter dem Titel Wendepunkt der politischen Erziehung. Partnerschaft als pädagogische Aufgabe veröffentlicht, welches 1953 in überarbeiteter Auflage unter dem Titel Partnerschaft - Die Aufgabe der politischen Erziehung erschien. Gleichwohl sein Konzept politischer Bildung stärker an einem lebensweltlichen Verständnis von Gemeinschaftserziehung ansetzte, blieb dieses jedoch entpolitisiert und stand eher in einer Tradition der deutschen Volksgemeinschaft.2

Das Konzept der politischen Bildung bzw. der staatsbürgerlichen Erziehung war in einem sehr hohen Maße geprägt durch das Verständnis der Demokratie als Staatsform, durch die Vermittlung des Wissens um die staatlichen Institutionen und den Prozess der Gesetzgebung. Die (politische) Pädagogik wurde als Geisteswissenschaft begriffen, ihre sozialwissenschaftlichen Dimensionen blieben unberücksichtigt. Demokratie als Lebensform spielte in diesem Kontext fast keine Rolle und war für das Verständnis der politischen Bildung in den Jahren 1952 bis 1963 nur von einer äußerst marginalen, eher problematischen Bedeutung wie im Falle des NS-belasteten Pädagogen Wilhelm.3 In Übereinstimmung mit dem staatsbürgerlich ausgerichteten Verständnis der politischen Bildung beschränkten sich die bildungspolitischen Maßnahmen darauf, Kenntnisse über den Aufbau des Staates und über die Funktionsweise der repräsentativen Demokratie zu vermitteln.

Um sicherzustellen, dass für das Schulfach politische Bildung genügend Lehrer_innen zur Verfügung stehen, wurden ab Beginn der 1950er-Jahre Lehrstühle errichtet. So wurde z.B. Wolfgang Abendroth 1950 an die Philipps-Universität Marburg berufen, Theodor Eschenburg 1952 an die Universität Tübingen und Otto Suhr leitete von 1948 bis 1955 die Deutsche Hochschule für Politik, die dann im Jahre 1959 Eingang in das Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der FU Berlin fand.

Die Politikwissenschaft wurde als neues Fach etabliert, ebenfalls unter dem Einfluss der US-amerikanischen Besatzungsmacht, und wurde als Demokratiewissenschaft konzipiert. Vorwiegend normativ ausgerichtet, verfolgte die universitäre Lehre das Ziel, die Studierenden in den 50er- und 60er-Jahren zu jungen Menschen auszubilden, die dazu in die Lage versetzt werden sollten, Demokratie als zentrales Prinzip der jungen Bundesrepublik in den Schulen zu vermitteln. Im Rahmen einer solchen Neubegründung der Politikwissenschaft als "Demokratiewissenschaft" sollte sich politische Bildung nicht mehr (allein) dem Primat der Herrschaftssicherung, sondern in erster Linie gesellschaftlichen Demokratisierungsprozessen verpflichtet fühlen. Wie von Kurt Sontheimer4 konstatiert, waren es nicht zufällig die Student_innen der Politikwissenschaft, die ab Mitte der 1960er-Jahre unter dem Motto "Unter den Talaren - Muff von 1000 Jahren" nicht nur öffentlichkeitswirksam die personellen Kontinuitäten an den Universitäten skandalisierten, sondern darüber hinaus eintraten für radikale Prozesse der Demokratisierung, sei es an den Hochschulen oder in der Gesellschaft. Unter dem Eindruck der Studentenbewegung und der Außerparlamentarischen Opposition wurde auch eine Debatte über Ziele und Methoden der politischen Bildung eingeleitet.

Im Übergang der 1960er- zu den 1970er-Jahren wirkte sich das Erstarken der Außerparlamentarischen Opposition sowie der Schüler- und Studentenbewegung auf die politische Bildung aus. Die kritisch-emanzipatorischen Konzeptionen erhielten ihre Impulse von der antiautoritären (Studenten-)Bewegung sowie der kritischen Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule. Als Folge der radikalen Kritik an Macht und Herrschaft, an einer Erziehung zum Staate vollzog sich in der politischen Bildung ein Paradigmenwechsel - weg von einer rein affirmativen Staatsbürgerlehre oder Institutionenkunde, hin zu einer macht- und herrschaftskritischen politischen Bildung.

Auch wenn die Politikwissenschaft lange Zeit als akademische Fachdisziplin die politische Bildung dominierte, kamen wichtige gesellschaftskritische Impulse von weiteren Bezugsdisziplinen, hinsichtlich des demokratischen und emanzipativen Selbstverständnisses in erster Linie von der Soziologie und der Sozialphilosophie.

Beutelsbacher Konsens

Nach heftigen Auseinandersetzungen um Rahmenrichtlinien und die Frage, wieviel Gesellschaftskritik politische Bildung in der Schule leisten darf, einigten sich die politischen Lager auf einen Minimalkonsens. Der Beutelsbacher Konsens (BK) ist ein historisches Dokument, an dessen didaktischen Prinzipien sich die Community immer wieder abarbeitet. Benannt nach dem Ort einer Fachtagung der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg 1976, werden im BK - nach heftigen bildungspolitischen Kontroversen der 1970er-Jahre - drei Prinzipien als Minimalkonsens in einer Protokollnotiz festgehalten: (1) das Überwältigungsverbot, (2) das Kontroversitätsgebot und (3) die Orientierung an den Interessen der Schüler_innen. Der BK gilt auch heute noch als Grundkonsens der (schulischen) politischen Bildung (neuerdings vermehrt auch für die Jugend- und Erwachsenenbildung) und findet sich u.a. in den Rahmenrichtlinien wieder. Er hat einerseits dazu beigetragen, die Konflikte zwischen den unterschiedlichen Strömungen der Politikdidaktik zu verringern, andererseits mangelt es seither an wichtigen inhaltlichen Kontroversen. Nicht zuletzt durch Initiativen aus der non-formalen Bildung wird aktuell wieder offener diskutiert, inwiefern wir tatsächlich einen BK brauchen, um uns darüber zu verständigen, dass kontroverse Themen in Wissenschaft und Gesellschaft auch in Bildungsinstitutionen kontrovers thematisiert werden sollten. Dies klären bereits drei Absätze des Artikels 5 des Grundgesetzes.

Welche Funktion hat der Beutelsbacher Konsens? Wenn die Aufrechterhaltung oder Setzung eines Konsenses dazu dient, einen schwelenden Dissens still zu stellen, dann kann dies eine anti-demokratische Wirkung nach sich ziehen. Ein solcher Konsens - als tabuisierter Dissens - verhindert Aufklärung und das Denken in gesellschaftlichen Alternativen, anstatt sie anzuregen. Die Formulierung des Beutelsbacher Konsenses war darauf gerichtet, die gesellschaftlichen Konflikte, wie sie sich auch an den Hessischen Rahmenrichtlinien damals entzündet hatten, zu befrieden. Der BK trägt seinen Zeitgeist in sich. Aber Gesellschaft ist nicht konservierbar, sie entwickelt sich permanent weiter, sie befindet sich in einem ständigen Prozess der Veränderung. Das, was in dem Versuch einer konservierenden Stagnation ausbleibt und einer Professionalisierung von politischer Bildung geradezu abträglich ist, ist die Verweigerung bzw. Verhinderung einer grundsätzlichen politischen Auseinandersetzung und Analyse, in welche Richtung sich die gesellschaftlichen Verhältnisse wandeln, welche gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse vorliegen, welche Akteure und Gruppen welche Interessen vertreten.

"Neue politische Bildung"

Klaus Ahlheim stellt bereits für die 1990er-Jahre (kritisch) fest, dass auch im Bereich der Erwachsenenbildung eine "neue politische Bildung" konzeptionell gedacht wird. Ähnlich wie im schulischen Bereich ist eine deutliche Abkehr von herrschaftskritischen Fragen sozialer Ungleichheit sowie einer "utopischen Dimension" zu beobachten. Immer weniger kommt der (etablierten) politischen Bildung die Rolle zu, sich gesellschaftliche Verhältnisse anders vorstellen zu können, emanzipative Alternativen und konkrete Utopien, die in der gesellschaftlichen Praxis vorhanden sind, zu reflektieren und weiterzudenken. "Der alte Streit um Klassen- und Schichtmodelle scheine ausgestanden", es gehe um "Generationen", Milieus, Risiko-, Spaß- oder Erlebnisgesellschaft.5

Mit einer Rückgewinnung des Politischen verbinden wir jedoch nicht einfach einen "weiten Politikbegriff" oder die Ausdehnung bestimmter demokratischer Prinzipien (Partizipation, Repräsentation) auf die (Zivil-)Gesellschaft oder die Lebenswelt ("Demokratie als Lebensform"). Vielmehr geht es um die Problematisierung der herrschaftsförmigen Grenzziehungen zwischen Politischem, Gesellschaftlichem und Privatem (Ökonomie, Haushalt). Die Erweiterung des Politischen, die Aufhebung der strikten Trennung zwischen Privat und Öffentlichem ("das Private ist politisch") in den 1960er-/70er-Jahren und die Forderung der Demokratisierung sämtlicher Lebensbereiche hat der politischen Bildung entscheidende Impulse gegeben, ökonomische Machtverhältnisse, Rassismus, Geschlechterverhältnisse etc. infrage zu stellen. Entgegen einer Pädagogik, die allein an der eigenen Lebenswelt oder Betroffenheit ansetzt, bedarf es der Abstraktion des "Exemplarischen", das Denken von gemeinsamen Angelegenheiten über die individuelle Betroffenheit hinaus. Dies schließt Wissensvermittlung (das "Recht auf Wissen") ein, um selbstständiges Denken und Urteilen zu entwickeln.

Frankfurter Erklärung

Hier hat die kritische politische Bildung6 vor einigen Jahren und nun in einer Reihe von Publikationen7 versucht, Impulse zu setzen. Eine Autor_innengruppe von 23 Wissenschaftler_innen und Vertreter_innen der non-formalen politischen Bildung haben 2015 in einer "Frankfurter Erklärung" zentrale Prinzipien und Thesen "für eine kritisch-emanzipatorische Politische Bildung" zur Diskussion gestellt, denen sich zahlreiche weitere Akteur_innen und Bildungsträger angeschlossen haben.8 Einige Aspekte wollen wir hier aufgreifen:

Die Frankfurter Erklärung setzt da ein, wo der Beutelsbacher Konsens endet: mit einer fachdidaktischen Positionierung zu demokratietheoretischen Grundlagen, mit einem Bezug zu aktuellen Gesellschaftsanalysen und epochalen Schlüsselproblemen, die sich zur Begründung von Bildungsinhalten unseres Erachtens besser eignen als sogenannte "Bildungsstandards".

Diese Erklärung liefert Grundsteine, die in den jeweiligen theoretischen Ansätzen von Referenzautor_innen der politischen Bildung weiter ausformuliert sind. In der Frankfurter Erklärung werden auch Begriffe des Beutelsbacher Konsenses aufgegriffen. Sie reicht aber viel weiter.

Im ersten Teil der Frankfurter Erklärung wird die Notwendigkeit formuliert, sich wieder mehr den gesellschaftlichen Zeitdiagnosen in der politischen Bildung zuzuwenden, mit Wolfgang Hilligen oder Wolfgang Klafki gesprochen: den "epochalen Schlüsselproblemen". Mit welchen multiplen Krisenphänomenen sind wir derzeit global konfrontiert und was würde eine sozial-ökologische Transformation bedeuten? Diese politischen Diskussionen, die den gesellschaftlichen Dissens veranschaulichen könnten, gehen in der Auseinandersetzung um Bildungsstandards, empirische Messungen von Lernergebnissen etc. unter, wenn nicht sogar verloren. Auch die Kompetenzorientierung kann dann inhaltlich substanzlos werden.

Aus den veränderten Herrschafts-, Macht- und sozialen Ungleichheitsverhältnissen ergeben sich andere gesellschaftstheoretische Analysen und (Zeit-) Diagnosen. Daraus folgt, dass auch Prinzipien und Standards politischer Bildung anders und erweitert gedacht werden müssen. Da nicht nur oder sowieso nur in kleinem Maße die Schule Ort politischer Bildung ist, braucht es auch Prinzipien, die politische Bildung in ihrer Breite denken - in außerschulischen Einrichtungen, Bewegungen, Initiativen, Praxisfeldern wie der sozialen Arbeit etc. Welche Prinzipien eröffnen (aktuelle) herrschafts-, macht- und subjektkritische Perspektiven? Welche Prinzipien ermutigen zu politischem Engagement und erweitern emanzipatorische Urteils-, Kritik- und Handlungsmöglichkeiten?

Kritische Auseinandersetzung mit dem Beutelsbacher Konsens

Überwältigungsverbot

Politische Bildungsprozesse sind Teil von Herrschafts- und Machtverhältnissen, sie sind eingebettet in Herrschafts- und Machtstrukturen. Niemand, auch keine kritische Perspektive, befindet sich außerhalb dieser Verhältnisse. Kritische politische Bildungsansätze greifen daher auf neuere Gesellschafts- und Subjekttheorien zurück, die diese Eingebundenheit (besser) zu verstehen suchen. Wie sind Individuen vergesellschaftet und wie werden sie subjektiviert? Überwältigung passiert heute nicht primär durch intentionale und personalisierte Indoktrination und deutliche Hierarchien, sondern viel stärker durch symbolische Herrschaftsformen, nämlich durch Normierungen und Disziplinierungen und eine neue Verbindung von Macht und Wissen. Hier müsste das Überwältigungsverbot des Beutelsbacher Konsenses erweitert gedacht und formuliert werden. Macht- und Herrschaftsverhältnisse im (politischen) Bildungsprozess transparent zu machen, z.B. indem Pseudopartizipation analysier- und verstehbar gemacht, statt affirmiert wird, kann dazu beitragen, Überwältigung durch symbolische Herrschaft zu minimieren oder ihr gar vorzubeugen. Sie eröffnet zumindest Selbstreflexivität, die für Professionalisierung zentral ist.

Aktuelle Prozesse stellen hier mitunter eine Umkehrung von demokratiepolitischen Prämissen dar, wenn etwa Wirtschaftsverbände Einfluss auf Curricula nehmen, Unternehmensstiftungen Bildungsmaterialien bereitstellen oder - wie auch die Bundeswehr oder der Verfassungsschutz - gleich selbst Teile des Unterrichts (oder von Fortbildungen für Lehrer_innen) übernehmen.

So wirken in der schulischen politischen Bildung seit geraumer Zeit eine ganze Reihe neuer Akteure durch Unterrichtsmaterialien, Besuche im Unterricht, Simulationen wie Pol&IS etc. hinein, etwa die Bundeswehr, Wirtschafts- und Bankenverbände, unternehmensnahe Stiftungen. Diese Akteure sind mit Macht ausgestattet, bereits ihr Erscheinen im Unterricht ist Überwältigung.

Kontroversitätsgebot

Das Kontroversitätsgebot führte z.B. dazu, dass Pro-Contra Diskussionen in der politischen Bildungsarbeit und in Materialien populär geworden sind. Ähnlich wie in anderen simulativen Methoden, etwa dem didaktisch beliebten Format der Talkshow, werden hier nicht selten Machtverhältnisse reproduziert. Demokratietheoretisch wäre zu prüfen, ob hier nicht eine postdemokratische "simulative Demokratie" (Blühdorn) wiederholt und bestätigt wird. Auch eine anschließende Reflexion kann die Einsicht in das Machtungleichgewicht und die unterschiedlichen Ressourcen und sozialen Positionen der Akteure meist nicht einholen. Es fehlt das Element zu begreifen, was nicht thematisiert wird - hier haben dekonstruktivistische Herangehensweisen der neueren kritischen Gesellschaftstheorien ideologiekritische Herangehensweisen ergänzt - und es fehlt die Möglichkeit, das Alternative, das Neue, das Transformative kognitiv und sinnlich erfahrbar werden zu lassen.

Handlungsfähigkeit

Neben der kritischen Analyse von immer konflikthaften, widersprüchlichen, mit Krisen einhergehenden gesellschaftlichen Verhältnissen, die sich auch in den jeweiligen Bildungsprozessen zeigen, ist die politische Handlungsfähigkeit ein zentrales Element politischer Bildung. Das unterscheidet diese von anderen Bildungsprozessen. Die Individuen sollen die Verhältnisse, in die sie tagtäglich eingebunden sind, verstehen und reflektieren und ihre eigenen Handlungen und Denkweisen in einen gesellschaftlichen Zusammenhang stellen können. Das ist für die politische Bildung auch deshalb relevant, um der Individualisierung von gesellschaftlichen Problemen und Konflikten entgegenwirken zu können. Nicht jede und jeder ist ihres oder seines Glückes Schmied und nicht jede und jeder wird durch Partizipation oder Anpassung im Bildungsprozess ihre oder seine soziale Position selbst bestimmen können. Wenn unter politischem Handeln mehr verstanden wird als der mit einem Kreuzchen erledigte Wahlakt, dann bedarf es des gemeinsamen, kooperativen Denkens und Tuns und struktureller Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse. Sonst erschöpfen sich die Individuen in einer (endlosen) Sisyphusarbeit.

Handeln meint mehr als das Bestehende nachzuvollziehen, zu reproduzieren. Auch hier denken wir mit Hannah Arendt, dass Handeln die Möglichkeit, etwas Neues zu erfahren, zu denken und zu gründen enthält. Handeln bezieht sich nicht nur auf individuelles Verhalten (Werte-, Demokratie-, Konsumerziehung), sondern meint das sich "In-Beziehung-setzen" zur Welt, zu den allgemeinen menschlichen Angelegenheiten. Wie bei der erweiterten Urteilskraft kommen hier das Individuum, die Kooperation und das Gemeinsame zusammen. Das wäre dann auch das Kriterium für das didaktisch-methodische Setting.

Ausblick

100 Jahre nach Gründung der Reichszentrale für Heimatdienst (1918), 65 Jahre nach Gründung der Bundeszentrale für Heimatdienst bzw. politische Bildung arbeiten Studien einen stärker werdenden Autoritarismus heraus. So macht z.B. die Studie "Enthemmte Mitte"9 deutlich, dass es erkennbare Anstiege bei der Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur (von 3,6% auf 5%) und beim Chauvinismus (von 13,6% auf 17,4%) sowie bei der Ausländerfeindlichkeit gibt (von 18,1% auf 20,4%). Die Studie konstatiert einen Rückgang der klassischen Einstellungsdimensionen des Rechtsextremismus, vor allem mit Blick auf Antisemitismus, Sozialdarwinismus, Verharmlosung des NS, bei einer gleichzeitigen Zunahme der rechtspopulistischen Einstellungen und Meinungen.

Vor dem Hintergrund einer solchen Zustimmung zum autoritären Kapitalismus steht politische Bildung vor gigantischen Herausforderungen - nicht als Feuerwehr, sondern im Sinne einer kritisch-emanzipatorischen politischen Bildung, die langfristig angelegt sein muss und auch nur langfristig ihre Wirkungen wird entfalten können.10 Und hier greifen die verschiedenen Bereiche der formalen, non-formalen und informellen politischen Bildung ineinander. Es ist zu berücksichtigen, dass die Trennlinien zwischen der schulischen und außerschulischen politischen Bildung nicht immer präzise gezogen werden können und die informelle politische Bildung (in Gesprächen mit peers, in der Rezeption von Nachrichten in sozialen Netzwerken) in Zeiten der Digitalisierung und Globalisierung auch an Bedeutung gewinnen wird.

Anmerkungen

1) Vgl. Markus Ziener 2016: "Wohlfühlen im Echoraum. Am liebsten konsumieren wir Nachrichten, die unserem Weltbild entsprechen", in: Internationale Politik und Gesellschaft  v. 9.5.2016.

2) Vgl. Gudrun Hentges 1999: "Debatten um die politische Pädagogik bzw. Bildung vor und nach 1945. Theodor Litt und Theodor Wilhelm (Pseudonym Friedrich Oetinger) als Beispiele", in: Christoph Butterwegge / Gudrun Hentges (Hg.): Alte und Neue Rechte an den Hochschulen, Münster: 159-176. Gudrun Hentges 2005: "Reeducation - Propaganda - Heimatdienst. Kontroversen um die Gründung der Bundeszentrale für Heimatdienst / politische Bildung", in: Theodor-Litt-Jahrbuch 2005/4 (hg. v. Dieter Schulz / Heinz-Werner Wollersheim), Leipzig: 87-103.

3) Vgl. Hentges 1999 (siehe Fn. 2).

4) Kurt Sontheimer 1970: "Wozu studiert man eigentlich Politische Wissenschaft?", in: Die Zeit v. 27.2.1970.

5) Klaus Ahlheim 1997: "Politische Bildung", in: Armin Bernhard / Lutz Rothermel (Hg.): Handbuch Kritische Pädagogik, Weinheim: 302-315; hier: 306.

6) Bettina Lösch / Andreas Thimmel (Hg.) 2010: Kritische Politische Bildung. Ein Handbuch, Schwalbach.

7) Etwa Andreas Eis / David Salomon (Hg.) 2014: Gesellschaftliche Umbrüche gestalten - Transformationen in der Politischen Bildung, Schwalbach.

8) FfE 2015: "Frankfurter Erklärung für eine kritisch-emanzipatorische politische Bildung", in: Journal für politische Bildung, H. 4: 94-96; https://sozarb.h-da.de/politische-jugendbildung/frankfurter-erklaerung (engl.: "Frankfurt Declaration For a Critical Emancipatory Political Education". In: Journal of Social Science Education, H. 1/2016: 74-75; http://www.jsse.org/index.php/jsse/article/view/1520.

9) Oliver Decker / Johannes Kiess / Elmar Brähler (Hg.) 2016: Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. Die Leipziger Mitte-Studie 2016, 2. Aufl., Gießen.

10) Bettina Lösch / Andreas Eis 2018/im Erscheinen: "Politische Bildung", in: Armin Bernhard / Lutz Rothermel / Manuel Rühle (Hg.): Handbuch Kritische Pädagogik. Eine Einführung in die Erziehungs- und Bildungswissenschaft, Weinheim.

Andreas Eis ist Professor für Didaktik der Politischen Bildung an der Universität Kassel. Seine Forschungsschwerpunkte sind europapolitische Bildung, Transformationsprozesse und Vergesellschaftung sowie partizipatorische Demokratiebildung. Prof. Dr. Gudrun Hentges ist Hochschullehrerin für Politikwissenschaft, Bildungspolitik und politische Bildung an der Universität zu Köln. Dr. Bettina Lösch ist Privatdozentin und akademische Rätin im Lehrbereich Politikwissenschaft, Bildungspolitik und politische Bildung an der Universität zu Köln.