Rassismus, Sprache, Gewalt und deutsche Leitkultur"

Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Friedrich Merz, erhob vor wenigen Wochen die Forderung, die in Deutschland lebenden Ausländer müssten sich einer deutschen Leitkultur annehmen - eine Aussage, d

Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Friedrich Merz, erhob vor wenigen Wochen die Forderung, die in Deutschland lebenden Ausländer müssten sich einer deutschen Leitkultur annehmen - eine Aussage, die eine Welle der Empörung auslöste, aber auch zahlreiche Solidarisierungsbekundungen nach sich zog: Der Vorsitzende der CSU-Grundsatzkommission, Alois Glück, forderte, das Prinzip der Leitkultur für die Gestaltung der Zuwanderung anzuwenden; der Begriff der Leitkultur solle eine Alternative zum Bild einer multikulturellen Gesellschaft darstellen (vgl. Frankfurter Rundschau v. 27.10.2000). Der neue Generalsekretär der CDU/CSU verteidigte Merz und erklärte, "Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein", und der brandenburgische CDU-Vorsitzende Jörg Schönbohm meinte, er halte "sehr viel" vom Begiff der "deutschen Leitkultur". (vgl. web.de, ticker 16:12, v. 23.10.2000) Dies wundert nicht, denn bereits am 2. Juni 1998 sagte Schönbohm gegenüber der B.Z: "Es gibt heute schon Quartiere, die so sind, dass man sagen kann: Dort befindet man sich nicht in Deutschland." Im Zuge der CDU/CSU-Kampagne gegen die doppelte Staatsangehörigkeit schwang sich Schönbohm zum Verteidiger der deutschen "Leitkultur" auf und sagte "Parallelkulturen" den Kampf an.

Die Forderung nach einer Leitkultur sorgt vermutlich wegen ihrer Ambiguität für Furore und steht in Zusammenhang mit zahlreichen Äußerungen von Politikern der letzten Jahre:
ï‚· "Heimat kann man auch verlieren durch Masseneinwanderung. (...) Was in Deutschland geschieht, ist Masseneinwanderung" - so äußerte sich Ex-Innensenator Heinrich Lummer gegenüber der taz (v. 6.11.1998).
ï‚· "Die Belastungsgrenze der Republik ist durch Zuwanderer überschritten." - konstatierte der damals erst wenige Wochen amtierende Bundesinnenminister Schily im November 1998.
ï‚· Der innenpolitische Sprecher der CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, Roland Gewalt, hetzte: "Zum wiederholten Male haben sich hier bei einer Festnahme eines Straftäters türkischer Herkunft Landsleute zusammengerottet, um diesen zu befreien. Zur Abschreckung anderer muss daher die Ausländerbehörde (...) von den neuen gesetzlichen Maßnahmen Gebrauch machen und die Ausweisung verfügen." (vgl. taz Berlin v. 26.8.2000)
ï‚· "Berlins Entwicklung zur Weltmetropole hat auch ihre Kehrseite", schwadronierte Berlins Polizeipräsident Hagen Saberschinsky in der B.Z., "die Stadt als Bindeglied zwischen West- und Osteuropa zieht das lichtscheue Gesindel an wie das Licht die Motten." (vgl. taz Berlin v. 26.8.2000).
Beklagt wurde in den letzten Jahren, dass "die Deutschen" in einer durch Einwanderung geprägten Gesellschaft kein Heimatgefühl mehr entwickeln könnten, dass eine Belastungsgrenze überschritten sei und die sog. Ausländerkriminalität eins der zentralen Probleme darstelle. Besonders infam ist der Vergleich zwischen den Zuwanderern, die von der Hauptstadt angezogen würden wie die Motten vom Licht.

PolitikerI/innen fungieren als Stichwortgeber für einen rassistischen Mediendiskurs. So wurde beispielsweise die Behauptung Schilys, die Belastungsgrenze sei überschritten, vom Spiegel (v. 23.11.1998) aufgegriffen. "Zu viele Ausländer? Sprengsatz für Rot-Grün" titelte der Spiegel im November 1998 und illustrierte Schilys Kernthese vom vollen Boot. Die rhetorisch gestellte Frage "Zu viele Ausländer?" wurde im Spiegel-Bericht bejaht: In Deutschland lebten zu viele und leider die falschen Ausländer.

Bereits im April 1997 hatte der Spiegel (v. 14.4.1997) behauptet, "Ausländer" und Deutsche seien sich "Gefährlich fremd" und die multikulturelle Gesellschaft sei gescheitert. Die Titelgeschichte warnte von "Zeitbomben", die angeblich in unseren Vorstädten tickten - gemeint waren damit "ausländische" Jugendliche.

Rassistische Äußerungen von Politiker(inne)n der etablierten Parteien werden in der Presse vielfach nicht kritisiert und widerlegt, sondern aufgegriffen, illustriert und weiter ausgebaut. Medial vermittelte Diskurse mit rassistischen Anklängen verbreiten Bedrohungsszenarien und hinterlassen bei ihren Leserinnen und Lesern den Eindruck, es sei erforderlich, sich gegen die vermeintlich kriminellen, islamisch-fundamentalistischen, nicht-integrationsbereiten "Ausländer" zur Wehr zu setzten, um selbst überleben bzw. den derzeitigen Lebensstandart halten zu können oder um die eigene "Identität" - was immer das auch sein mag - nicht zu gefährden.

Gewalttätige Anschläge gegen Flüchtlinge, Menschen schwarzer Hautfarbe oder jüdischen Glaubens, Schändungen jüdischer Friedhöfe und Synagogen stehen in Zusammenhang mit einem medial vermittelten Bedrohungsszenario. Die Aggression und Gewalt richtet sich gegen jene Personengruppen, die in den Medien und der Öffentlichkeit als gefährlich, bedrohlich oder "unnütz" dargestellt werden.
Lässt man die Debatte der 90er-Jahre Revue passieren, so sind folgende Akzentverschiebungen feststellbar: Zu Anfang der 90er Jahre befanden sich die sog. Asylanten im Fadenkreuz der rassistischen Berichterstattung. "Asylanten im Revier. Wer soll das bezahlten?" - so der Titel einer Serie der Bild-Zeitung im September 1991. Zeitlich parallel warnte der Spiegel (v. 9.9.1991) vor einem "Ansturm der Armen". "Asylanten jetzt auf Schulhöfe. Neue Welle! Und bis Weihnachten kommen noch 400.000" titelte die Bild-Zeitung am 1. September 1992.

Die faktische Abschaffung des Rechts auf Asyl im Jahre 1993 hatte zur Folge, dass die Anzahl der Asylbewerber/innen stetig zurückging. In der medialen Berichterstattung schlug sich dieser Trend insofern nieder, als dass ab Mitte der 90er-Jahre zunehmend das Konzept der multikulturellen Gesellschaft in das Zentrum der Kritik gerückt und deren Scheitern postuliert wurde. Die Berichterstattung konzentrierte sich fortan auf hier geborene Jugendliche der zweiter oder bereits der dritten Generation, die als fanatisch, bedrohlich und kriminell dargestellt wurden.
Der Abgesang auf die multikulturelle Gesellschaft ging geht einher mit einer Kritik an der angeblichen Integrationsunwilligkeit und Kriminalität der Zugewanderten. Neue Dynamik gewann diese rassistische Argumentationsfigur vor allem in Zusammenhang mit der Debatte über die doppelte Staatsangehörigkeit, über die Anwerbung von IT-Spezialist(inn)en und über die mögliche Verabschiedung eines Einwanderungsgesetzes.
Aussagen wie die Schönbohms "Deutschland ist kein Einwanderungsland und sollte es auch nicht werden" (2.6.1998) sind mittlerweile gesellschaftlich marginal geworden. Die demografische Entwicklung der bundesdeutschen Bevölkerung, die nach Angaben einer UNO-Studie jährlich eine Zuwanderung von 340.000 Personen erforderlich macht, sowie der Mangel an Expert(inn)en im Bereich der Informationstechnologien haben dazu geführt, dass sich ein gewisses Maß an Realitätssinn - auch bei national-konservativen Politiker(inne)n - durchgesetzt hat.
Das politische Koordinatensystem hat sich verschoben. Die Einwanderungsgesellschaft wird nicht mehr als solche in Frage gestellt, sondern die Eingewanderten selbst werden nach utilitaristischen Kriterien beurteilt. Prominentester Verfechter ist derzeit der bayrische Innenminister Günther Beckstein, der die Forderung erhob, man solle in Zukunft zwischen den Ausländern unterscheiden, die uns nützen und jenen, die uns nur ausnützen.

Die Forderung nach einer deutschen Leitkultur richtet sich nicht nur an die bereits Zugewanderten, sondern ist zugleich ein Signal an potenzielle Zuwanderer. Sie sollen sich, so die darin enthaltene message, der deutschen Leitkultur unterordnen oder erst gar nicht einwandern. Die Kriterien der Nützlichkeit und die der deutschen Leitkultur sind durchaus miteinander zu vereinbaren.

Bassam Tibi und die Leitkultur-Debatte

Im Einklang mit Merz erhebt der Göttinger Professor für Politikwissenschaft, Bassam Tibi, der in seinem Buch "Europa ohne Identität?" den Begriff der Leitkultur geprägt hat, die Forderung "Deutschland braucht eine Leitkultur. Gegenprogramm zu multikultureller Wertebeliebigkeit" (Focus 44/2000, S. 72). Leitkultur definiert Tibi als einen "Wertekonsens westlicher Prägung als Gegenprogramm zu multikultureller Wertebeliebigkeit". Als "Kern der Leitkultur" erachtet er "die verbindlichen Werte unseres Grundgesetzes, wie etwa Menschenrechte oder Glaubensfreiheit". "Wir brauchen ein Primat der Vernunft vor religiöser Offenbarung, individuelle Menschenrechte (also nicht Gruppenrechte), säkulare, auf Trennung von Religion und Politik basierende Demokratie." Eine Multikultur berge die Gefahr in sich, dass sich einzelne Kulturen separierten und nach ihren eigenen Werten lebten, so dass alles Verbindende verloren gehe. Der Scharia, dem islamischen Gottesgesetz, dürfe im Namen der Multikultur kein Platz eingeräumt werden.

Der von Tibi vertretene Standpunkt wirft die Frage auf, gegen welches Konzept von Multikultur er sich eigentlich abgrenzt. Welche Befürworter/innen einer multikulturellen Gesellschaft haben die Geltung der Werte des Grundgesetzes, die Menschenrechte oder etwa die Glaubensfreiheit jemals angezweifelt? Tibis "Gegenprogramm" richtet sich explizit gegen die "Islamisten", die - so seine Aussage - "den organisierten Islam in Deutschland fest im Griff haben und gegen Integration sind". Die "westliche Leitkultur" scheint ihm ein probates Mittel, um jene Kräfte zu bekämpfen, und um an die Stelle des "deutschen Islam" einen "europäischen Islam" zu setzen.

Tibi beschränkt sich jedoch nicht nur auf eine Auseinandersetzung mit den sog. Islamisten, sondern er will Politikberatung leisten bei der "Bewältigung des Zustroms von Zuwanderern aus nicht-westlichen Zivilisationen nach Europa". Unter dem Motto "Einwanderung statt Zuwanderung. Zu viele Ausländer missbrauchen das Asylrecht" vertrat er im Focus (38/2000, S. 102) den Standpunkt, aufgrund des Fehlens eines Einwanderungsgesetzes finde in Deutschland eine "wildwüchsige Zuwanderung" statt, "bei der die Zahl der Sozialhilfeempfänger" ansteige. Für integrierte Ausländer sei diese Entwicklung ein "Ärgernis, weil der Anstieg der Sozialhilfeempfänger unter den Zuwanderern die Fremdenfeindlichkeit" der Deutschen intensiviere. Die integrierten Ausländer wollen, so Tibi, "nicht mit diesen in einen Topf geworfen werden." Er empfiehlt den Politikern, die unkontrollierte Zuwanderung in kontrollierte Einwanderung umzuwandeln. Entscheidender Hebel sei hierbei die Anpassung des Asylrechts an "europäische Standards", "um einen Missbrach des Asylrechts" zu unterbinden.

In den vergangenen Jahren wiesen kritische JuristInnen, SozialwissenschaftlerI/innen und VertreterI/innen von Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen wiederholt darauf hin, dass es verfehlt ist, von einem "Missbrauch des Asylrechts" zu reden, denn grundsätzlich ist jede Person, die die formalen Voraussetzungen erfüllt, dazu berechtigt, einen Asylantrag einzureichen. Der von Tibi angeführte vermeintliche Beleg für den Missbrauch des Asylrechts - die Tatsache, dass nur 4 Prozent aller Asylbewerber/innen anerkannt würden - ist gleich in mehrfacher Hinsicht problematisch: Erstens unterschlägt Tibi den Anteil jener Flüchtlinge, die nach der Genfer Konvention ein Bleiberecht erhalten, da sie aus Kriegs- oder Bürgerkriegsgebieten kommen, zweitens geht er davon aus, dass abgelehnte Asylbewerber/innen definitiv keiner politischen Verfolgung ausgesetzt seien. Jüngste Recherchen von Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen ergaben, dass in die Türkei abgeschobene abgelehnte Asylbewerber/innen in mehreren Fällen gefoltert und misshandelt wurden. Nach Schätzung der Ausländerbeuaftragten der Bundesregierung leigt die "Schutzquote" der AsylbewerberInnen bei über 40 %.

Tibis Forderung nach Anpassung des Asylrechts an "europäische Standards" verkennt vollkommen, dass die massive Einschränkung des Rechts auf Asyl (u.a. durch die Regelung der sog. sicheren Drittstaaten) im Jahre 1993 bereits unter dem Vorzeichen der europäischen Vereinheitlichung des Asylrechts betrieben wurde und dass die derzeit geltenden Vereinbarungen (Schengener Abkommen, Amsterdamer Vertrag) Ergebnis der sog. "europäischen Standards" sind. Seine Argumentation legt nahe, dass er - in Einklang mit Merz und Schily - das derzeit noch verfassungsmäßig verankerte Asylrecht umwandeln möchte in ein einfaches Gesetz massiv einschränken und möglicherweise in eine "institutionelle Garantie" umwandeln möchte.

Deutsche Leitkultur und die Parteien

Welche Alternativen werden derzeit diskutiert? Die deutsche Leitkultur wird von Friedrich Merz und Angela Merkel als Alternative zur angeblich gescheiterten multikulturellen Gesellschaft präsentiert. Der Vorschlag von Baden-Württembergs CDU-Fraktionschef Günther Oettinger, "deutsche Leitkultur" durch "Kultur des Abendlandes in Deutschland" zu ersetzen, fand seinen Niederschlag in dem entsprechenden Positionspapier. Die "Werteordnung unserer christlich-abendländischen Kultur, die von der Tradition der europäischen Aufklärung geprägt wurde" müsse von den Zuwanderern akzeptiert werden, so das CDU-Positionspapier zur Zuwanderung. (vgl. Die Welt v. 4.11.2000); auf den Begriff der deutschen Leitkultur wird voraussichtlich jedoch nicht verzichtet werden.Ungeachtet der heftigen Kritik hält die CDU in ihrem Positionspapier am Begriff der Leitkultur fest.

"Mut zur multikulturellen Gesellschaft" - lautete das Motto des Parteitags der Grünen in Münster im Mai 1989; und ein Jahrzehnt lang galt das Schlagwort der multikulturellen Gesellschaft zugleich als Zustandsbeschreibung als auch als Zielstellung bündnis-grüner Politik. In einer Situation, in der die Christdemokrat(inn)en die deutsche Leitkultur als Alternative zur multikulturellen Gesellschaft präsentieren und sich offensiv gegen einen bislang vermuteten grünen Konsens richten, ergreifen bündnis-grüne Politiker/innen wie Renate Künast, Cem Özdemir und Ralf Fücks die Gelegenheit und verabschieden sich vom Begriff der multikulturellen Gesellschaft.

Renate Künast, grüne Bundesvorsitzende, begründete ihre Distanzierung damit, der Begriff sei "zu kurz gegriffen" und "ebenso unscharf wie deutsche Leitkultur". (vgl. Die Welt v. 2.11.2000) In Zukunft müssten Multi-Kulti, Demokratie und Verfassungspatriotismus zusammen kommen, beispielsweise im Konzept einer multikulturellen Demokratie. (Die Welt v. 2.11.2000). Der innenpolitische Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen, Cem Özdemir, plädierte ebenfalls dafür, ganz auf das Schlagwort "Multikulti" zu verzichten und stattdessen von einer "interkulturellen Gesellschaft" zu sprechen.

Außenminister Joschka Fischer hält den Begriff "deutsche Leitkultur" für einen "altbackenen Käse von Nachwuchs-Führungskräften der CDU". Deutschland habe "es gar nicht nötig", sich eine solche Diskussion aufdrängen zu lassen, denn es gebe eine historisch gewachsene "großartige Kultur". Es sei "nicht betonenswert", dass es sich um die deutsche Kultur handele, "denn wir sind hier schließlich in Deutschland". (Frankfurter Rundschau v. 26.10.2000).
Hoch im Kurs steht derzeit der Begriff "Verfassungspatriotismus". Positiv beziehen sich darauf u.a. Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen), Peter Struck, Fraktionschef der SPD, und Heiner Geißler, ehemaliger Generalsekretär der CDU. Struck und Geißler plädieren dafür, den umstrittenen Begriff deutsche Leitkultur durch den des "Verfassungspatriotismus" zu ersetzen. Das entscheidende sei, so Geißler, "dass die Menschen mit unterschiedlicher Religion und kulturellem Hintergrund sich an die Verfassung halten müssen". (Frankfurter Rundschau v. 26.10.2000)

Neoliberale und deutsch-nationale Töne in der FAZ

Die Kommentare und Berichte, die sich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung finden lassen, beantworten die Frage nach einer deutschen Leitkultur in zweifacher Weise.
"Als Gegenbild zur Leitkultur drängt sich die apologetische Erinnerung an die Ordnungskunst des Liberalismus geradezu auf", ist in der FAZ (v. 24.10.2000) zu lesen. "Nur wer Differenz zu organisieren vermag, statt sie zu verleugnen, leistet gesellschaftliche Inklusion." Nachdem Friedrich Merz die Union in die "Sackgasse der Leitkultur" geführt habe, warte nun auf ihn die Aufgabe, sie wieder herauszuführen. (Ebd.) Die "Ordnungskunst des Liberalismus" ist demnach die Zauberformel, mit deren Hilfe Differenz organisiert werden soll. Übersetzt man diese vage Orientierung in ein politisches Konzept, so bedeutet dies, dass die Einwanderungs-, Asyl- und Ausländerpolitik den Kräften des Marktes überlassen werden soll.
Der Leitkommentar "Vom Umgang mit Zuwanderung" (v. 20.10.2000) präzisiert das im Feuilleton skizzierte Konzept. Seit der Aufklärung und der Französischen Revolution existiere der rätselhafte Glaube, Politik könne gesellschaftliche Entwicklungen steuern. Von diesem Aberglauben müsse man sich verabschieden und anerkennen, "daß die Grenzen ihrer Wirksamkeit sehr eng gezogen sind". In Zukunft sei zwischen Asyl und ökonomisch erwünschter Zuwanderung nicht mehr haargenau zu trennen. Der Zuwanderer, sei er nun Flüchtling oder IT-Experte, könne in die polyzentrische Gesellschaft ganz unten oder ganz oben einsteigen, könne zum Gewinner oder zum Paria werden. Der Kommentator empfiehlt demnach, die geringen Spielräume des Politischen zu nutzen, die deutschen Interessen durch ein Einwanderungsgesetz zu formulieren und ansonsten die gesellschaftliche Entwicklung dem freien Spiel der Marktkräfte zu überlassen. Folgerichtig fordert auch Rainer Brüderle (zugleich stellvertretender Vorsitzender der FDP-Bundespartei als auch -fraktion) in der FAZ "Wir müssen ‚neoliberal‘ werden". (FAZ v. 28.8.2000)
Bei aller neoliberaler Ausrichtung kann die "größte deutsche Tageszeitung" auf deutsch-nationale Töne nicht verzichten. "Wer sich der Frage nach der Leitkultur verweigert", so konstatiert die FAZ (v. 25.10.2000) in ihrem Leitkommentar "Die Inländerfrage", "wird auch die Lösung für die andere, die Ausländerfrage, nicht finden." Die Quintessenz des Kommentars lautet: "Offen für das Fremde wird, wer sich des Eigenen sicher sein kann." Zu fragen sei demnach, was bewahrt werden solle, welchem Kodex sich diejenigen unterwerfen müssen, die zu uns gehören wollen, und worauf sich "unser Stolz" zu gründen habe.
Eckart Werthebach, Innensenator des Landes Berlin, beantwortet die Frage nach dem Bewahrenswerten folgendermaßen: "Eine Kulturnation entfaltet dann gestalterische Kraft, wenn sie in Zeiten der Mobilität und Globalisierung eine starke Assimilationskraft entwickelt." (FAZ v. 11.9.2000) Ausgehend von der Frage, wie sich die Entstehung von "Parallelgesellschaften" verhindern lasse, habe man erkannt, dass das Erlernen der deutschen Sprache die Voraussetzung für die Eingliederung in die deutsche Gesellschaft sei. Werthebach kritisiert die "Unfähigkeit, der eigenen Sprache Strahlkraft zu verleihen" und das daraus resultierende Unvermögen, den Zuwanderern den "Eindruck von Zukunftsglauben und Behauptungswillen zu vermitteln." Es geht also offenbar um mehr als nur um Spracherwerb: es geht um Behauptungswillen, um das Überwinden unserer "Erstarrung", Rückbesinnung auf die eigenen Kräfte. Sprache wird verstanden als "Anknüpfungspunkt für die eigene Identifikation und für die eigene Zukunftsfähigkeit".

Während die Leitkultur-Debatte für das interessierte Publikum aufwändig als Kulturdebatte aufwendig inszeniert wird, handelt es sich im Kern um eine Debatte, in der das Verhältnis zwischen nationalen ökonomischen Interessen Deutschlands und Asyl- und Flüchtlingspolitik (Art. 16 GG, Genfer Flüchtlingskonvention) neu bestimmt wirdAusländer, Asyl- und Flüchtlingspolitik neu bestimmt wird.
Bemerkenswert ist ferner das zeitliche Zusammentreffen: Während über die deutsche Leitkultur diskutiert wird, werden rassistisch und antisemitisch motivierte Anschläge gegen jene Menschen und Einrichtungen verübt, die - nach Meinung rechtsextremer Kreise - einer deutschen Leitkultur nicht zu entsprechen scheinen. Die Debatte über deutsche Leitkultur lenkt nicht nur von einer Auseinandersetzung mit Rassismus und Gewalt ab, sondern kann durchaus von rechten Gewalttätern als Legitimation für ihr Handeln verstanden werden.

Literatur
Christoph Butterwegge / Gudrun Hentges / Fatma Sarigöz (Hg.): Medien und multikulturelle Gesellschaft, Opladen 1999
Christoph Butterwegge / Gudrun Hentges (Hg.): Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung. Migrations-, Integrations- und Minderheitenpolitik, Opladen 2000
Christoph Butterwegge / Georg Lohmann (Hg.): Jugend, Rechtsextremismus und Gewalt. Analysen und Argumente, Opladen 2000

Gudrun Hentges
Dr. Gudrun Hentges, geb. 1964, Politikwissenschaftlerin, wiss. Assistentin am Seminar für Sozialwissenschaften der Universität zu Köln