Rechte und populistische Bewegungen haben kein Problem mit der Frage nach dem Vorhandensein von sozialen Klassen. Solche sind ihnen schlicht nicht existent. [i] Zwar mögen sie sich – wie FPÖ, Front National oder AfD und Pegida – im Gegensatz zu Herrschenden, Reichen und der politischen Elite und ihren Medien sehen und diese kritisieren, aber ihre Einwände gründen in der Vorstellung eines diesen vor- und untergeordneten Volkes, sie beziehen sich auf die Nation als vorausgesetztem Urgrund und sind mithin letztlich völkisch. Jenseits von sozialen Strukturen habe sich ein imaginiertes Volk zusammenzutun gegen jene Oberen, um endlich wieder die Nation in ihre quasi natürlichen Rechte einzusetzen.
Linke demgegenüber haben große Probleme mit der Klassenthematik. Denn sie beziehen sich analytisch wie politisch auf die konkreten Verhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Entwicklung und versuchen hieraus Ansatzpunkte für notwendige und mögliche politische Veränderungen zu finden. Statt bei Individuen, der Bevölkerung oder gar dem Volk oder seinen Herbeirufungen stehenzubleiben, fragen sie nach dem gesellschaftlichen Zusammenhang dieser Bevölkerung, wie er sich aufgrund der gesellschaftlichen Arbeitsteilung in Produktion und Reproduktion in den letzten 200 Jahren herausgebildet hat. Kurz gesagt setzen sie sich mit der kapitalistischen Gesellschaft und der Eingebundenheit der Individuen in diese auseinander, die sich primär als gegensätzliche Verbindung von Lohnarbeit und Kapital darstellt. Lohnarbeiter*innen und Kapitalist*innen stehen sich gegenüber wie sie auch aufeinander angewiesen sind und miteinander kooperieren. Auf diesen Gegensatz beziehen sich Linke und versuchen, durch die Aufnahme und Verfolgung der Interessen der Lohnabhängigen deren Lage punktuell und grundsätzlich zu verbessern, was ihnen letztlich nur in einer neuen Gesellschaftsform möglich erscheint.
Soweit, so einfach; denn das hier in kaum vertretbarer Knappheit resümierte Argument müsste nun natürlich erweitert werden um eben den Nachvollzug der empirischen Veränderungen, die sich im Gefolge der Veränderung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung im gesellschaftlichen Arbeitskörper einstellen und eine Neuzusammensetzung der Lohnabhängigen beinhalten: Facharbeiter*innen, Angelernte, Angestellte, wobei zudem noch nach Geschlecht und Migrationshintergrund differenziert werden müsste. Ein in sich ausgesprochen differenziertes Bild einer Gesamtarbeiter*in, das durch die ständige Bewegung des Kapitals auch noch in ständigem Fluss ist. Empirische Klassenanalysen müssten dies im Einzelnen aufnehmen und dechiffrieren.
Darum kann es hier nicht gehen; soviel aber sollte klar sein: Bei den Lohnabhängigen, man mag sie ruhig auch Arbeiter*innenklasse nennen, handelt es sich nicht und handelte es sich nie, um eine einheitliche soziale Gruppe, die qua Lage ein einheitliches Bewusstsein gehabt hätte. Über den gesamten Verlauf der letzten zweihundert Jahre sind die Lohnabhängigen durch vielfältige Unterschiede und interne Differenzierungen gekennzeichnet, was sich selbstverständlich auch in unterschiedlichen politischen Optionen darstellte.
Aber macht es dann überhaupt Sinn von einer Arbeiter*innenklasse zu sprechen oder ist das nur ein theoretisches Konstrukt? - Politische Bewegungen, heißen sie nun Anarchismus, Syndikalismus/Ouvrierismus, Leninismus oder Sozialdemokratie bezogen sich immer wieder auf eine solche Arbeiter(innen)klasse und versuchten dadurch ein neues Gesellschaftskonzept durchzusetzen, aber das Ergebnis ist geradezu deprimierend. Denn bei allen Unterschieden im (keineswegs zu vernachlässigenden) Detail scheiterten letztendlich alle. Entweder gelang es ihnen nicht, überhaupt an die Macht zu kommen und die Gesellschaft in ihrem Sinne zu gestalten oder wenn es doch gelang, wie beim Leninismus und der Sozialdemokratie, dann wandelten sie sich bis zur Unkenntlichkeit und warfen ihre ursprünglichen Ziele über Bord. Weder der sozialistische Umsturz in einem Land noch das Verschieben eines solchen Umsturzes ans Ende eines endlosen Weges durch die Tiefen eines Reformismus brachten eine erhoffte und versprochene Befreiung der Arbeiter*innenklasse, was immer man sich darunter vorgestellt haben mochte.
Der letzte Grund hierfür liegt in einer Subjekt-Objekt-Problematik, wie sie für die marxistische Theorie und die Arbeiter*innenbewegung kennzeichnend ist. Denn das Besondere an Klassenverhältnissen im Kapitalismus besteht gerade darin, dass die sozialen Gruppierungen, die man als Klassen bezeichnen könnte, sich nicht als solche darstellen, die man einfach anhand von statistischen Kriterien katalogisieren könnte. Als (Klassen-)Individuen werden sie in spezifischer Weise in den gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozess einbezogen, und eben durch diese Art der Eingebundenheit werden Voraussetzungen für ihr Handeln geschaffen, die von ihnen in allerdings unterschiedlicher Weise genutzt werden können, aber keineswegs müssen, wie es in der Lesart marxistischer Teleologien unterschiedlichster Provenienz angenommen wird. Zwar kann man sich auch heute auf all die Phänomene beziehen, die in der marxistischen Theorie im Laufe der Zeit immer wieder skandalisiert wurden, die allerdings mit den Errungenschaften des Fordismus und den Segnungen der mainstream-Soziologie (in der BRD zumindest seit etwa 1960) überwunden schienen, um inzwischen umso greller wieder aufzutauchen, also auf massive Verarmung, die Deindustrialisierung vormaliger Industrieregionen und die Kapitalvernichtung im Zuge wild wuchernder Finanzspekulationen, Wirtschaftskrisen und Massenarbeitslosigkeit. Aber die zentrale Frage für Klassenanalytiker, warum all dies, diese Herausforderungen durch das Kapital, nicht mit flammenden Kämpfen der „Arbeiterklasse“ beantwortet wurden (, was uns nicht dazu führen sollte, durchaus vorhandene Kämpfe zu vergessen) findet keine Antwort. Die nach wie vor gängige Spielart marxistischer Theorie vom Klassenkampf als „Ausdruck“ ökonomischer Verschlechterungen mit dem immanenten Ziel der Aufhebung des Klassenantagonismus, also als Reiz-Reaktionsvorstellung (gemäß jenem bekannten Pawlowschen Hund) unterschlägt sowohl die unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten der Beteiligten wie auch die Auswirkungen der jeweiligen Verfasstheit der politischen Beziehungen und insbesondere der Arbeiterbewegung.
Etienne Balibar (1990) hat diesen Zusammenhang vor längerer Zeit in einem gerade heute ausgesprochen lesenswerten Aufsatz durch die Frage nach einem „Klassenkampf ohne Klassen?“ aufgenommen. Balibar führt im Anschluss an Marx ins Feld, dass es sich beim Klassenantagonismus um „einen Transformationsprozeß ohne vorgegebenes Ziel“ handelt, wobei Klasse und Klassenkampf „einer sich fortwährend wandelnden Identität der sozialen Klassen entsprechen.“ (Ebd., 206, Hervorh. dort) Das, was man Arbeiterbewegung nennt (oder nannte) ergibt sich nicht (und ergab sich nie) direkt aus der Arbeiterklasse und ihrer Lage, also aus einer gedachten Substanz, sondern diese waren von Anbeginn an und immer eingebunden in die historische Ausgeprägtheit des Kapitalverhältnisses, das immer ein breites Spektrum von unterschiedlichen und sich widerstreitenden Lagen beinhaltete; das gilt selbstverständlich auch für den Gegenpart, die Kapitalistenklasse. Balibar: „In diesem Sinne zeigt uns die Geschichte also, dass sich die sozialen Beziehungen nicht zwischen geschlossenen Klassen entwickeln, sondern durch die Klassen hindurchgehen – auch durch die Arbeiterklasse -, bzw. dass der Klassenkampf in den Klassen selbst stattfindet.“ (ebd., 210, Hervorh. dort)
Aufgabe einer Klassentheorie, die diese Bezeichnung zu Recht verdient, ist es deshalb, die Transformationen dieser Beziehungen und ihre Implikationen für die Handlungen der beteiligten Gruppierungen und Individuen in ihrer empirischen Gestalt zur Kenntnis zu nehmen und als Momente des Prozesses kapitalistischer Produktion und Reproduktion zu entschlüsseln. Zentral dabei ist die Aufnahme der Klassenpraxis, d.h. der gesellschaftlichen Verkehrsformen von Arbeiter*innen und Arbeiter*innenkulturen wie von Einzelkapitalisten und Kapitalistenklasse, schließlich auch ihrer vermittels des Staates erfolgenden Formierung zur herrschenden Klasse (vgl. ebd. 210f). Gegenüber allzu eilfertigen grundsätzlichen Abgesängen auf die Arbeiter*innenbewegung und Lobgesängen auf Neue Soziale Bewegungen hält Balibar fest: „Die aktuelle ‚Krise’ ist eine Krise bestimmter Darstellungsformen und Praktiken des Klassenkampfes: Als solche kann sie beträchtliche historische Auswirkungen haben. Aber sie bedeutet nicht ein Verschwinden des Antagonismus selbst bzw. ein Ende der antagonistischen Formen des Klassenkampfes.“ (ebd., 220)
Aber die aktuelle historische Konjunktur bringt durch die Verwerfungen dessen, was man als Globalisierung bezeichnet, und was durch den Zuwachs von Flüchtlingen ein besonderes gesellschaftliches Problem darstellt, seit einiger Zeit eine gravierende Schwächung der Arbeiter*innenbewegung und der Linken mit sich. Es bedurfte nicht erst der aktuellen Manifestationen um Front National, FPÖ, Pegida und AfD, um deutlich zu machen, dass auch Arbeiter*innen sich in diesen wiederzufinden vermögen; wenn die zumindest teilweise durch korporatistische Arrangements gesicherte Absicherung der eigenen Lage gefährdet scheint, und die ihnen nahe stehenden Parteien keinen Rückhalt zu bieten scheinen, dann beginnen auch Arbeiter*innen sich in zunehmendem Maße umzuorientieren und eine nationale Rückversicherung zu suchen. Die Frage ist, ob Linke dem etwas entgegenzusetzen haben.
Soviel sollte klar sein: Ein Hoffen auf eine vorgebliche Widerständigkeit der Klasse von Lohnabhängigen gegen solcherart Bestrebungen ist nicht (und war nie) realistisch. In einer realistischen Wendung müsste es gelingen, die im Zuge der Transnationalisierung des Kapitalismus bewirkte Neuzusammensetzung der Lohnabhängigen, die aufgrund der weltweiten Durchsetzung des Kapitalverhältnisses selbstverständlich weltweit stattfindet, politisch in einem Internationalismus aufzunehmen. Wenn das Marx und Rosa Luxemburg noch eine genuine Aufgabe war, so erscheint deren Lösung – zugespitzt formuliert – zur Zeit zwar illusorisch, aber umso notwendiger.
Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien), Nr. 43, Sommer 2017, „Class Matters“.
[i] Ich muss mich hier aus Platzgründen auf die Darlegung eines Arguments beschränken; zur genaueren Begründung und Literatur vgl. Thien, Hans-Günter, Klassentheorien – Die letzten 50 Jahre, in: PROKLA 175, 44. Jg. (2014), Nr. 2, S. 163-190; ders., Klassen in der aktuellen Diskussion, in: Kurswechsel, H. 4/2015, S. 6-17. Daneben Balibar, Etienne 1990, Vom Klassenkampf zum Kampf ohne Klassen?, in: Balibar/Wallerstein, Rasse, Klasse, Nation, Hamburg/Berlin S. 190-226.
Hans-Günter Thien ist Verleger des Verlags Westfälisches Dampfboot und lebt in Münster/Westf. in der BRD.