Hoffnung trotz Terror und Krieg in Syrien

Ein aktueller Bericht aus dem syrisch-kurdischen Rojava

Dr. Michael Wilk reiste seit 2014 fünfmal nach Rojava und berichtete darüber u.a. in der GWR. Der Notarzt und Psychotherapeut arbeitet mit Herva Sor a Kurd, dem Kurdischen Roten Halbmond, zusammen. Sein Bericht ermöglicht einen Einblick in die Situation, in der sich die Menschen in den kurdischen Gebieten Syriens befinden. (GWR-Red.)

 

Die Situation in Syrien ist so unübersichtlich wie grausam. Die Schätzungen der getöteten Menschen belaufen sich inzwischen auf 470.000 (NGO SCPR). Von den rund 21 Millionen Menschen Syriens ist die Hälfte auf der Flucht, fünf Millionen flüchteten außer Landes, weit über sechs Millionen suchten innerhalb der Grenzen nach einem anderen, sichereren Ort. Die Lage ist für die Geflohenen und für die in den Kampfgebieten verbliebenen Menschen katastrophal und gefährlich.

Hoffnung gibt es dagegen im Norden des Landes:

Seit das Assad-Regime dort im Verlauf des Bürgerkriegs 2013 weitgehend seinen Einfluss verlor, versuchen die Menschen, ihre Gesellschaft neu zu organisieren. Die Widerstände sind immens. Sie mussten sich dabei unter Einsatz ihres Lebens gegen die Al-Kaida-nahe Al-Nusrah (jetzt Dschabhat Fatah asch-Scham) durchsetzen und aussichtsreich den IS bekämpfen. Zudem sind sie ebenso einer ständigen Bedrohung von Seiten des türkischen Staates ausgesetzt.

Das mehrheitlich von KurdInnen bewohnte Gebiet erklärte sich im März 2016 zur Autonomen Föderation Nordsyrien-Rojava.

Es erstreckt sich von der kurdischen Region Nord-Irak im Osten, über ca. 450 Km entlang der türkischen Grenze im Norden, bis Kobanê und Minbic. Nur noch ca. 30 Kilometer trennen die östlichen Kantone Kobanê und Cesire vom westlich gelegenen dritten Kanton Efrin.

 

Hohe gesellschaftliche Ziele unter Kriegsbedingungen

 

Die sozialen Ziele in Rojava sind hoch gesteckt: der Aufbau basisdemokratischer Strukturen, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, Neuaufbau und friedliches Zusammenleben mit arabischen und assyrischen Mitmenschen.

Das Verbot der Todesstrafe und die Religionsfreiheit stehen diametral der menschenverachtenden IS-Ideologie gegenüber. Die kämpfenden Einheiten Rojavas, die Volksverteidigungseinheiten YPG und auch die Frauenverbände YPJ, haben mit der Rückeroberung von Kobanê und durch die Befreiung der Jesiden internationale Berühmtheit erlangt. Durch ihre militärischen Erfolge und ihre Schlagkraft gegen die Islamisten sind sie zu einem entscheidenden Bündnispartner des westlichen Militärbündnisses avanciert.

Dieses taktische Bündnis mit den USA, (ebenso wie eine strategische Zusammenarbeit mit Russland) sichert nicht nur die Möglichkeit von Luftangriffen gegen IS-Stellungen, sondern stellt auch einen wichtigen Faktor gegen das aggressive Vorgehen der türkischen Regierung dar. Diese versucht alles, um eine Vereinigung der Kantone Rojavas zu unterbinden.

Die strategischen Bündnisse sind eine schwierige, aber notwendige Jonglage.

Nichts ist der türkischen Regierung unter Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan mehr verhasst, als ein sich vergrößerndes und zusammenhängendes Gebiet unter kurdischem Einfluss, direkt an der Südgrenze der Türkei.

Die Folge: eine geschlossene Grenze, die Abriegelung von Hilfslieferungen bis hin zur Drohung, die militärische Intervention auszuweiten. Zurzeit errichtet die türkische Regierung eine Mauer entlang der Grenze zu Rojava, vor den bereits bestehenden meterhohen NATO-Drahtverhauen, den Wachtürmen und Panzern auf syrischem Boden, der zu diesem Zweck zuvor okkupiert wurde. Es ist jedoch nicht nur die geschlossene Grenze zur Türkei, die Probleme bereitet.

Die Nähe zur kurdischen Arbeiterpartei PKK und das Bestreben in Rojava ein selbstverwaltetes politisches System errichten zu wollen, wird auch im benachbarten kurdischen Nord-Irak, als politische Konkurrenz betrachtet.

Vor allem der hier dominierende Barsani-Clan pflegt ein gutes kooperierendes Verhältnis zur Türkei und der USA.

Die Folge: Auch hier ist die Grenze nicht wirklich offen, auch hier kommt es immer wieder zu Schwierigkeiten in Fragen der Versorgung und auch beim Grenzübertritt.

Eine Embargopolitik, die vor allem für die Kranken und Verletzten Rojavas häufig tödlich ist.

 

Die Rahmenbedingungen: Macht- und Einfluss Zonen, Stellvertreterkriege

 

Im März 2011 begann mit Protesten gegen das Regime von Staatschef Baschar al-Assad der Bürgerkrieg in Syrien. Der Konflikt, eskaliert durch die blutige Verfolgung der Opposition, stand von Anfang an massiv unter dem Einfluss internationaler Mächte und Interessen. Seit Sommer 2011 schlossen sich vor allem sunnitische Gruppen zur Freien Syrischen Armee (FSA) zusammen. Da die FSA zum Teil aus sogenannten gemäßigten Kämpfern bestand, die in Opposition zum Assad-Regime standen und gleichzeitig auch Gegner des IS waren, wurde sie zum Ansprechpartner und Hoffnungsträger des Westens. Dahinter stand das Ziel, sich nach Beendigung des Krieges, einen möglichst großen Einfluss bzw. sich Einflusszonen in Syrien sichern zu können. Die USA, Gegner Assads, unterstützte die FSA und führt militärisch seit September 2014 das „westliche“ Militärbündnis (inklusive Deutschland) gegen den im Verlauf des Aufstands entstandenen IS und gegen den Al-Kaida-Ableger Al-Nusra. Russland geht seit September 2015 militärisch gegen die Gegner der Assad-Regierung und gegen den IS vor. Auf Seiten Assads stehen ferner der schiitische Iran und die von diesem gestützte libanesische Hisbollah. Im Verlauf der Auseinandersetzungen, spätesten mit dem Engagement Russlands, verlor die FSA an Einfluss und Gebiet, ebenso wie an zentraler Machtstruktur.

In eine Vielzahl lokaler Einheiten zerfallen, wuchs gleichzeitig der Einfluss radikal-islamischer Gruppen. Unterstützung finden davon salafistische Fraktionen und die Muslimbruderschaft von Saudi-Arabien und Katar. Die Türkei unter dem Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, früher in Männerfreundschaft mit Assad verbunden, wandelte sich im Konflikt zu dessen Gegner. Sie duldete und unterstütze lange den IS als Gegner Assads, bis sie unter internationalen Druck und selber ins Visier des „Islamischen Staates“ geriet.

Die Türkei unterstützt Kämpfer der FSA und turkmenische Einheiten und setzt diese seit August 2016 gezielt in der Auseinandersetzung gegen die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) und deren Verbündete in den Demokratischen Kräften Syriens (SDF) ein.

Die Strategie des „Euphrat Shields“, mit massivem Einsatz türkischer Truppen auf syrischem Gebiet, sollte die Vereinigung des westlichen Rojavagebiets Efrin mit dem östlichen Kanton Kobanê um jeden Preis verhindern.

 

Rojava - medizinische Versorgung in Kriegszeiten

 

„Die medizinische Versorgung im Kriegszustand ist ein riesiges Problem, umso mehr, wenn diese Aufgabe unter Embargo-Bedingungen gelöst werden muss“, sagt Dr. Sherwan, Zahnarzt und Aktivist bei Herva Sor a Kurd (HSaK), dem kurdischen Roten Halbmond. Ich kenne ihn seit meiner ersten Reise nach Rojava im Jahr 2014. Die unabhängige zivile Hilfsorganisation kooperiert eng mit dem neu etablierten Gesundheitssystem, baute in den vergangenen Jahren zahlreiche Ambulatorien und Polykliniken in Rojava auf, transportiert Verletzte und betreibt Apotheken, die den ärmeren Teil der Bevölkerung mit kostenlosen Medikamenten versorgen.

Das Gesundheitssystem Rojavas ist für geschätzte vier Millionen Menschen zuständig, die hier beheimatet sind oder vor dem IS Zuflucht gefunden haben. Behandelt werden müssen nicht nur die üblichen Grunderkrankungen, sondern auch verletzte Kämpfer und Kämpferinnen. Krankenhäuser sind oft zerstört und medizinisches Personal ist knapp; Ärztinnen und Ärzte wurden getötet und viele haben das Land verlassen.

 

Meister der Improvisation und Mangelverwaltung“

 

„Wir haben gelernt mit Schwierigkeiten umzugehen- wir geben unser Bestes“, sagt der 28-jährige Sherwan. „Alles ist weiterhin knapp – nicht nur Medikamente, sondern auch Ersatzteile und medizinisches Material.“ Bestimmte Behandlungen können gar nicht, oder nur unter größten Schwierigkeiten durchgeführt werden. Zum Beispiel Krebstherapien oder auch Dialysebehandlung. „Wir sind hier alle Meister der Improvisation und der Mangelverwaltung.“ Das ist auch mein Eindruck auf meiner vorletzten Reise nach Rojava, im Spätsommer 2016, wir helfen im Hospital von Kobanê. Tausende EinwohnerInnen sind zurückgekehrt in eine verwüstete Stadt, die 2014 den Angriffen des IS trotzte. Unzählige Opfer machten Kobanê zu einem Symbol des Widerstands. Nur wenige Menschen lebten noch unter den Trümmern, als der IS die Belagerung aufgeben musste. Der Aufbau der Stadt erfolgt seitdem aus eigener Kraft. Die Zurückkehrenden, die in der Türkei oder in sicheren Teilen Rojavas Zuflucht gefunden hatten, erhalten zu wenig Unterstützung von außerhalb. Hilfe kommt ausschließlich von Nichtregierungsorganisationen oder von im Ausland lebenden Kurden/Kurdinnen, die mit Material- und Geldspenden helfen. In Kobanê hat sich viel verändert. Seit meinem Besuch 2015 hat sich nicht nur die Ausstattung der Klinik verbessert, viele Ruinen des zu rund 90 Prozent zerstörten Stadtzentrums wurden eingeebnet, um Raum zu schaffen für neue Straßen, Häuser und Plätze. Der Überlebenswille der Menschen ist beeindruckend, die neuen Gebäude sind nur der sichtbare Teil ihrer Aufbauleistung. Alles muss neu organisiert werden: die Energie- und Trinkwasserversorgung, ebenso wie das Schul- und Gesundheitssystem.

 

Krieg gegen den IS

 

Es ist August 2016 und es ist gnadenlos heiß, auch über dem Hospital steht die Luft. Die Verletzten von der belagerten Stadt Minbic kommen in zum Teil dichter Folge, Tag und Nacht. Schwestern, Pfleger und MedizinerInnen schuften rund um die Uhr. Der IS ist zu diesem Zeitpunkt im Zentrum der Stadt eingeschlossen und hat die Gebäude vermint. An einem Tag werden uns in einem Zeitraum von nur einigen Stunden neun Schwerverwundete gebracht. Trotz aller Bemühungen sind zwei Menschen nicht mehr zu retten. Die anderen können wir zumindest am Leben halten.

Explodierende Granaten zerfetzen Körperteile oder treiben eine Vielzahl Fremdkörper in den Leib der Opfer. Verbrannte, von Projektilen durchschlagene Körper, abgetrennte Gliedmaßen – grauenhafte Bilder, die abzubilden nicht zumutbar ist. Nach einer Woche fahren wir weiter, zu einem 1,5 Stunden entfernten improvisierten Verbandsplatz hinter der Front. Hierher werden die Verwundeten von den vorderen Linien gebracht. Schwerstverletzte und Tote auf Pickups- während wir uns um die Ersteren kümmern und versuchen sie für den Weitertransport zu stabilisieren, steht für die letzteren ein Kühlwagen bereit, der die Leichen nach Kobanê bringt. Viele Schussverletzte durch Sniper, aber vor allem Opfer von Sprengfallen und Minen, nicht nur KämpferInnen, sondern auch zivile Opfer, darunter Kinder. Auch verwundete IS-Kämpfer werden versorgt. Es fehlt an vielem, an Ausrüstung und an ausgebildetem Personal. Für Schädel-Hirn Verletzte z.B., die im Kobanê Hospital nur zwischenversorgt werden können, bedeutet dies eine stundenlange Verlegung nach Qamislo im Osten über Holperstraßen, bei der sie zudem nur von Hand beatmet werden können. Es fehlt an neurochirurgischen Kräften wie an Beatmungsgeräten. Außerdem: Helfer, die oft hilflos sind angesichts dieses Desasters. Es sei schon seit Wochen so, bekomme ich gesagt, alle seien am Ende. Ich bewundere die Menschen, die über so lange Zeit diese Arbeit verrichten. Die Erschöpfung ist ihnen anzusehen.

 

Körperliche und psychische Traumata

 

Während ich nur zwei Wochen im Gebiet bin, arbeiten andere über Monate, ja zum Teil über Jahre unter diesen Bedingungen. Eine Arbeit, die ihre Spuren hinterlässt. Die Frauen und Männer geben meist alles, um anderen zu helfen und vergessen dabei ihre eigenen körperlichen und psychischen Grenzen. Die Achtsamkeit gegenüber der eigenen Befindlichkeit und den eigenen Ressourcen bleibt gerade unter Kriegsbedingungen auf der Strecke.

Am Beispiel von Jamila wird klar, worum es geht: Sie arbeitet seit einem halben Jahr im Krankenhaus von Kobanê, oft rund um die Uhr, der Krieg kennt keine geregelten Arbeitszeiten und die Personaldecke ist zu dünn, um ein Schichtsystem einzuführen. Mit ihren 26 Jahren gehört Jamila zu den jungen Aktiven und ist doch erfahren um Umgang mit Schwerstverletzten und Sterbenden. Abgerissene Gliedmaßen sind ihr ebenso vertraut wie das Klagen der Angehörigen der Getöteten. „Ich habe so vieles gesehen“, sagt Jamila, „aber der Kampf gegen Daesch (IS) ist eben so“. Sie spricht leise und verhalten, nicht aufgeregt. Und doch ist spürbar, dass Jamila am Ende ist. Sie ist dem Zusammenklappen gefährlich nahe, muss dringend abgelöst und von der Arbeit entlastet werden. Bei vielen HelferInnen droht der eigene Enthusiasmus in Überforderung und Burn-Out zu enden.

Zusammen mit Verantwortlichen von Herva Sor a Kurd und der italienischen NGO UPP entsteht der Plan zur Entwicklung eines Trainings für Psychosoziales Selbstmanagement und Psychische Erste Hilfe, ein Programm, das helfen soll, der Überforderung zu begegnen.

Im Februar 2017 startete der erste Kurs, 20 meist junge VertreterInnen von Herva Sor sind nach Derik gereist. Sie kommen aus Kobanê, Serekanye, Tal Tamir und Qamislo, alle größeren Ortsgruppen des Kurdischen Roten Halbmondes haben Delegierte entsandt. Der Übersetzer hat viel zu tun – deutsch, kurdisch, powerpoint in arabischer Schrift. Es geht um Gruppenstrukturen, um Stress und schützende, stabilisierende Faktoren, ebenso wie um Belastendes und den Umgang damit. Auch soziale und familiäre Konflikte kommen zur Sprache. Die Region ist im Umbruch, verkrustete Moralvorstellungen und neugewonnene Freiheit führen zum Teil zu enormen Spannungen. Über Schwächen zu reden, fällt den TeilnehmerInnen des Kurses nicht leicht: Zu sehr lastet auf den teils fronterfahrenden Männern und Frauen der Druck, funktionieren zu müssen. Burn-out und Depression haben als Bedrohung einen anderen Stellenwert in einem Land, in dem Explosionen und Schüsse Alltag sind. Stressmanagement – anfangs nur ein Fremdwort – wird jedoch im Verlauf des Trainings und in der Auseinandersetzung mit der alltäglichen Lebensrealität der Anwesenden zur Option, Gefahren zu vermindern.

Ein psychisches Trauma kann schwerere und auch längere Schäden setzen als eine Schussverletzung. Die Delegierten von Herva Sor, eher auf körperliche Verletzungen und Krankheiten geeicht, lernen einiges in diesen Tagen, über mentale Störungen, Überforderung und wie man sich davor schützt „leer zu brennen“. Bezeichnend ist, dass es wiederum eine Nichtregierungsorganisation ist, die den Kurs finanziert und sich in Zusammenarbeit mit dem Kurdischen Roten Halbmond darum bemüht, Möglichkeiten der psychosozialen Betreuung zu etablieren, die so dringend benötigt wird. Nicht nur die akut Verletzten und die dauerhaft Verstümmelten, sondern auch die seelisch Verwundeten brauchen Hilfe. Die Auf- und Bearbeitung von psychischen Traumata ist eine unverzichtbare Aufgabe.
Das Erkennen schwerer psychischer Störungen und die Einleitung erster Behandlungsschritte schließen den Kurs ab. Wie bitter nötig diese Basiskenntnisse sind, wird mir erneut vor Augen geführt, als ich tags darauf das Flüchtlingslager bei Al Hawl betrete. 14.000 Menschen, fast ausschließlich arabischer Herkunft, sind vor den Kämpfen um die irakische Großstadt Mosul in den Süden Rojavas geflohen. Die Zelte stehen bis zum Horizont.

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) plant hier weitere Kapazitäten für mehr als 40.000 Menschen. Betreut werden sie ausschließlich vom UNHCR, internationalen und lokalen Hilfsorganisationen. Für die medizinische Versorgung sind ausschließlich die HelferInnen und ÄrztInnen von Herva Sor a Kurd zuständig. Eine einzelstaatliche oder auch europäische Unterstützung sucht man vergebens.

Die Menschen stehen vor gewaltigen Aufgaben. Im Camp ist es bitterkalt in diesen Tagen, die Temperaturen fallen nachts bis weit unter den Gefrierpunkt. Es sind Helferinnen wie ‎Jamila, die sich hier verausgaben und meist auf ein eigenes Studium und eine Ausbildung verzichten müssen.

Zum Kotzen ist die Skrupellosigkeit europäischer und deutscher Politiker, die vollmundig die Rede von der notwendigen Verbesserung der Lebensbedingungen vor Ort im Munde führen, aber nichts Positives unternehmen. Wer es ernst meinte mit der Aussage „Fluchtursachen vermeiden“ zu wollen, müsste seinen Worten Taten folgen lassen.

Es wäre ein Leichtes, Medikamente, Baumaterial und Maschinen für den Wiederaufbau zu liefern. Die Maximen der Politik sind jedoch andere: Die Bedenken, mit der Unterstützung der PKK-nahen KurdInnen Nordsyriens die Türkei vor den Kopf zu stoßen und damit den NATO-Partner zu verprellen, stehen weit über der Notwendigkeit, konkrete Hilfe zu gewähren. Als Bündnispartner und Hauptakteur im Kampf gegen den IS sind die KämpferInnen der YPG gefragt, aber in der BRD sind ihre Symbole seit Februar 2017 ebenso verboten wie die PKK.

 

Rojava ist eine Herausforderung

 

Rojava ist Hoffnung und Perspektive, es ist die Alternative gegenüber den autoritären Regimen des Nahen Ostens und ebenso eine Alternative zur Profitorientierung des Westens. Unter Embargo und Kriegsbedingungen, arbeiten die Menschen am Aufbau neuer gesellschaftlicher Strukturen mit großem Mut und Begeisterung.

Die Organisierung ist umfassend und alle Bereiche betreffend. Sie ist einerseits basisdemokratisch, Dorf und Stadtteilkomitees entscheiden mit, ebenso wie eigene Frauenstrukturen, aber auch unverkennbar beeinflusst von der PKK. Die allgegenwärtige kultartige Verehrung Apos, des Führers Abdullah Öcalan, ist für anarchistisch orientierte Menschen befremdend. Sein Bild findet sich überall, selbst in Frauenzentren ziert es die Wände. Er hängt dort, so wurde mir auf meine Frage des Warums beschieden, nicht als Mann, sondern als Symbol des Widerstands und der Revolution. Seit 1999 in der Türkei inhaftiert, haben sich die Positionen Öcalans gewandelt, über den Marxismus-Leninismus, die Kritik am realen Sozialismus, bis hin zum demokratischen Konföderalismus, beeinflusst von den Schriften des Öko-Anarchisten Murray Bookchin und der kritischen Theorie. Ohne Zweifel gibt er vielen Kraft, er ist wesentliches Gesicht des gesellschaftlichen Wandels, das mentale Unterstützung gibt und dessen Theorien praktischen Niederschlag im gesellschaftlichen Wandel haben. Und ohne den es Rojava in dieser Form so nicht gäbe. Die Verehrung ist groß und es gibt Gründe dafür. Und doch ist der Schritt von Respekt und Verehrung zum zweifellosen Gehorsam nicht weit. So erntete ich bei einigen TeilnehmerInnen des Psychosozialen Trainings ungläubiges Staunen, als ich behaupte, dass es notwendig ist, alles und jeden zu hinterfragen und dass es erlaubt und sinnvoll ist, Autoritäten in Frage zu stellen. Auch Apo. Es gibt Diskussionen – und das ist gut so. Die emanzipativen Veränderungen sind jung, sie begannen für viele erst seit der Seinswerdung von Rojava. Und sie sind mit erheblichen Umbrüchen und Auseinandersetzungen mit den bis vor wenigen Jahren ungebrochen gültigen autoritären Mustern einer machistischen Clangesellschaft verbunden. Gemessen an der Ausgangssituation und der Kürze der Zeit sind die erreichten Veränderungen allerdings erstaunlich.

So groß die Herausforderung einer gesellschaftlichen Veränderung im Innern ist, so schwierig gestaltet sie sich in der Auseinandersetzung mit den umgebenden Mächten.

Rojavas Situation stabilisiert sich einerseits durch zunehmende Strukturierung im Inneren, andererseits durch seine militärische Stärke nach außen, die sich vor allem in der Zurückdrängung des IS ausdrückt. Ohne Zweifel ist es der letztere Faktor, der bis jetzt verhindert hat, dass Rojava zwischen den Interessen der umgebenden und den am Syrienkrieg beteiligten Großmächte zerrieben wird. Es erfordert bewundernswertes Geschick, sich gegen Gestalten wie Assad und Erdoğan zu behaupten, gegen den IS vorzugehen und gleichzeitig strategische Bündnisse mit den USA und Russland einzugehen, ohne sich jedoch an zweifelhafte Partner zu verkaufen bzw. sich von diesen abhängig zu machen. Es ist zu hoffen, dass es den Menschen Rojavas gelingt ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Sie haben jede erdenkliche Unterstützung verdient.

 

Michael Wilk


 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 419, Mai 2017, www.graswurzel.net