Blinde Flecken der Diskussion über das skandinavische Modell der Regulierung von Sexarbeit
„Als der Kampf gegen Menschenhandel in der Region Stockholm […] begann, hatten PolizistInnen, SozialarbeiterInnen und StaatsanwältInnen […] die Vorstellung, dass ihre Bemühungen Menschen retten würde, dass die Polizei für Opfer zu den Waffen gegriffen habe, deren Lebensbedingungen die Hölle sind. Für dieses Bemühen erwarteten die HeldInnen eine Dankbarkeit und Zuneigung von den Geretteten. Das Paradoxe ist, dass die Beamten oft die genau gegenteilige Reaktion zu hören bekamen. Wie erklärt man jemanden, dass er/sie ein Opfer ist, dass er/sie dies nicht so sieht? Wie hilft man jemandem, der sich nicht helfen lassen will? […] Beamte, trotz guter Absichten, werden als jemand wahrgenommen, der Dinge für jede Personen zerstört, denen er/sie helfen will.“[1]
Die „paradoxe“ Erfahrung, die in einer Broschüre der schwedischen Polizei beschrieben ist, wird auch in Deutschland gemacht werden, wenn das informelle Bündnis aus Kirchen, über EMMA[2] bis hin zu Teilen der Linken Sozialistischen Arbeitsgemeinschaft Frauen (LISA)[3] erfolgreich sein sollte. Sie treten erklärtermaßen für einen Umgang mit Sexarbeit[4] nach dem skandinavischen Modell ein und verwischen die Grenze zwischen Sexarbeit und Menschenhandel bewusst. Die Chancen stehen gut, denn das Thema verbindet unterschiedliche politische Lager und Landesministerinnen haben bereits Gesetzesinitiativen im Bundesrat angekündigt.
Die Fokussierung der Debatte über das skandinavische Modell auf den Aspekt der Bestrafung des Kaufs sexueller Dienstleistungen macht die Effekte der Rekriminalisierung für Sexarbeiterinnen[5] unsichtbar. Entgegen anderslautender Verklärungen ist fraglich, ob das skandinavische Modell hält, was von feministischen BefürworterInnen erhofft wird. Auf der anderen Seite werden vermutlich auf dem Ticket vermeintlichen Opferschutzes konservative SicherheitspolitikerInnrn, den Wunsch nach strikteren Migrationsbestimmungen und neuen Polizeibefugnissen durchsetzen.
Das Ende der Doppelmoral?
Was in der öffentlichen Debatte als „skandinavisches Modell“ verhandelt wird, besteht aus sehr unterschiedlichen Ansätzen, die jedoch gemein haben, dass sie den Kauf sexueller Dienstleistungen unter Strafe stellen. Beispielgebend war Schweden, das dies ab 1999 tat, Island und Norwegen folgten 2009. In Finnland ist seit 2003 der Kauf sexueller Dienstleistungen strafbar, wenn dieser durch Zuhälter organisiert wird oder die Anbietenden Opfer von Menschenhandel sind. Dies erscheint zunächst als ein Bruch mit einer patriarchalen Rechtstradition mit ihren moralischen Doppelstandards.
In bürgerlichen Gesellschaften wurde der Zugriff von Männern auf die Körper von Frauen immer über die sprichwörtliche bürgerliche Doppelmoral hergestellt. Während Frauen, die als Prostituierte arbeiteten gesellschaftlich stigmatisiert und strafrechtlich verfolgt wurden oder in Arbeitshäuser eingewiesen und durch Schutz- und Gesundheitspolizei als öffentliche Gefahr behandelt wurden, war der Kauf sexueller Dienstleistungen für Männer grundsätzlich akzeptiert. Rechtlich wurden Prostitution als sittlich-moralisches Ärgernis behandelt und Prostituierte als Objekte der (Um)Erziehung adressiert. Der Kampf gegen moralische Vorstellungen im Strafrecht im Allgemeinen und für die Entkriminalisierung von Sexarbeit wurde daher lange Zeit an vorderster Front von Feministinnen gegen Konservative und gegen die Kirchen geführt. In Deutschland schlug sich das nicht zuletzt in den Strafrechtsreform der später 1960er Jahre und den halbherzigen Änderungen durch das Prostitutionsgesetz 2002 nieder.
Oder erneutes Überwachen und Strafen?
Die in jüngster Zeit auch von einigen Feministinnen[6] vertretene Forderung nach einem neuerlichen Verbot von Sexarbeit bei asymmetrischer Bestrafung lediglich der Sexkäufer ist daher zumindest in Deutschland zunächst erklärungsbedürftig. Diese Position stützt sich meist auf zwei Stränge. Der erste führt die symbolische Wirkung von heterosexueller Sexarbeit durch Frauen und die daraus resultierende Fiktion einer allgemeinen Verfügbarkeit von weiblichen Körpern für die sexuellen Bedürfnisse von heterosexuellen Männern an. Der zweite Begründungsstrang zielt auf den Schutz von Ausbeutung im Kontext von Sexarbeit.
Recht zwischen symbolpolitischem Anspruch und praktischer Anwendung
Folgt man dem ersten Argumentationsstrang ist bereits die Existenz eines Verbots als staatliche Missbilligungserklärung ein Erfolg. Ob das Gesetz Sexarbeiterinnen schadet, wäre schlicht zweitrangig. Die Konsequenzen der Kriminalisierung des Kaufs sexueller Dienstleistungen werden jedoch meist mit dem Hinweis, diese richten sich ausschließlich gegen die Käufer abgewiesen. In der praktischen Tätigkeit von Polizei- und Justiz ist die trennscharfe Kriminalisierung der Angebotsseite nicht durchzuhalten. Doch Recht hat eben neben einer symbolischen Wirkung auch materielle Auswirkungen. Kriminalisierung bedeutet Ermittlungstätigkeit und ggf. behördliche Repressionsmaßnahmen. Von Razzien im Millieu sind immer auch die Anbieterinnen sexueller Dienstleistungen betroffen. Für migrantische Sexarbeiterinnen steht dabei neben den Einkünften immer auch das das Aufenthaltsrecht in Frage. In Schweden kann beim Verdacht auf Sexarbeit die Einreise verweigert oder die Abschiebung eingeleitet werden. In der bereits zitierten Broschüre der schwedischen Polizei heißt es dazu trocken: „Wenn die verdächtige Person große Mengen Kondome oder sex toys bei sich führt, ist klar, dass irgendeine Form von Prostitution vorliegt. […] Nach einer abgestimmten Beurteilung haben die Behörden üblicherweise so viele Beweise, dass die fragliche Person abgeschoben werden kann. […] Dies ist eine gute Maßnahme der Kriminalitätsprävention. Schweden hat gezeigt, dass es keine gute Idee ist, nach Schweden zu kommen, um eine Prostituierte zu sein.“[7] Einige Sozialprojekte informieren die Immigrationsbehörden, sobald sie feststellen, dass Sexarbeiterinnen keine schwedischen Staatsangehörigen sind.[8] In Dänemark verlieren Drittstaatenangehörige automatisch ihren legalen Aufenthaltsstatus, wenn sie sich als Sexarbeiterinnen betätigen. [9]
Anders als von den Befürworterinnen des skandinavischen Modells behauptet, hat Repression gegen die „Nachfrageseite“ auch starke Auswirkungen auf die Sexarbeiterinnen selbst.
Prostitutionsverbot als Opferschutz
Der zweite Argumentationsstrang, der sich auf den Schutz von Opfern sexueller Ausbeutung bezieht, steht vor dem Problem, begründen zu müssen, warum er auch jene adressiert, die sich selbst nicht als Opfer fühlen oder sich unmittelbaren Zwangslagen nicht ausgesetzt sehen. In der Regel geschieht dies durch eine problematische Aufweichung des Opferbegriffs. Diskursiv geschieht dies insbesondere in EMMA, indem Sexarbeiterinnen, die sich gegen einen Opferstatus verwahren, unterstellt wird, sie seien manipuliert oder durch ihre Tätigkeit so stark traumatisiert, dass sie nicht mehr zwischen Entscheidung und Zwang zu unterscheiden wüssten. Eine andere Begründungsfigur argumentiert mit Hilfe von Statistiken über Wahrscheinlichkeiten als Sexarbeiterin betäubungsmittelabhängig, psychisch krank oder Opfer von sexualisierter Gewalt zu werden. Das Verbot von Sexarbeit soll also einer abstrakten Gefahr, Opfer anderer Straftaten zu werden, vorbeugen.
Grundsätzlich bleibt die Frage, inwiefern die Kriminalisierung des Kaufs sexueller Dienstleistungen Opfern von tatsächlich ja existierender Gewalt und Ausbeutung im Gewerbe helfen soll. Schließlich sind die meist implizit angesprochenen Tatbestände wie Vergewaltigung, Nötigung und Körperverletzungen bereits Straftaten für sich. Ein effektiver Opferschutz müsste also dort ansetzen.
Da SexarbeiterInnen befürchten müssen, wenn sie Hilfe bei der Polizei suchen auch zu anderen Kunden (die ja mit dem Kauf eine Straftat begangen haben), befragt zu werden, dürfte die Anzeigebereitschaft erheblich sinken. Dies gilt in verschärftem Maße für migrantische Sexarbeiterinnen, die in skandinavischen Ländern zudem wie geschildert Abschiebungen fürchten müssen. Dies führt dazu, dass sie selbst in Fällen von schwerer Gewalt oder Vergewaltigungen nicht die Polizei einschalten.[10]
In Schweden wurden nach 1999 zwar erhebliche Mittel für die Polizei bereitgestellt, jedoch keine zusätzlichen Mittel für die Beratung und Unterstützung von SexarbeiterInnen.[11] Dabei zeigen Studien zur Lebenssituation von Sexarbeiterinnen sehr wohl, dass sich deren Lage verschlechtert hat. In einem Report im Auftrag der schwedischen Regierung, der die Lebenssituation schwedischer Sexarbeiterinnen zwischen 2001 und 2006 vergleicht, kommt zu dem Ergebnis, dass sich „das Wohlbefinden [der Sexarbeiterinnen] in jeglicher Hinsicht verschlechtert hat. Diese Erkenntnisse stimmen mit anderen Ergebnissen überein, die zeigen, dass Personen, die der Prostitution nachgehen, stärker unter Angst leiden und dass der Gebrauch von Beruhigungsmitteln zugenommen hat. Offenbar waren zudem die Prosituierten mit ihrem Einkommen 2006 im Vergleich mit 2001 unzufriedener.“[12]
Eine neue Doppelmoral!
Die Fokussierung auf den Aspekt der Freierbestrafung überdeckt diskussionswürdige Ansätze auch der strafrechtlichen Würdigung von geschlechtsspezifischer Gewalt, die das schwedische Gesetz ebenfalls enthielt. Vielleicht ist das Erfolgsrezept der deutschen Diskussion über das skandinavische Modell gerade, dass es genau mit der bürgerlichen Doppelmoral eben doch nicht Schluss macht. Der Kauf sexueller Dienstleistungen, das hat sich in Skandinavien gezeigt, wird für heterosexuelle Männer faktisch möglich bleiben. Auch die Verachtung der Huren durch die sittsame Öffentlichkeit wird mit gewandeltem Vokabular beibehalten.
Mit der Rekriminalisierung lässt sich Straßenprostitution aus den innerstädtischen Konsumzonen verdrängen. Das freut Law-and-Order-Politiker, die das zwar bereits mittels Sperrbezirksverordnungen konnten und taten. Nur können sie dasselbe wohlmöglich bald unter dem Beifall einer feministischen Teilöffentlichkeit tun. Konservativen Rechts- und InnenpolitikerInnen bietet der Kriminalisierungsdiskurs die Chance einerseits eine neue Regulation von Migration unter dem Denkmantel des Opferschutzes durchzusetzen. Andererseits erscheint eine neue Runde bei der Verschärfung der Polizeigesetze aussichtsreich. Die Unverletzlichkeit der Wohnung gilt in Deutschland bereits jetzt für Sexarbeiterinnen nur eingeschränkt. In vielen Bundesländern reicht es, dass an einem Ort der Prostitution nachgegangen wird, um der Polizei das Betreten zu erlauben. Die Unverletzlichkeit der Wohnung ließe sich nun auch in den anderen Bundesländern angreifen, natürlich nur im Sinne des Opferschutzes.
Je lauter die Retter auftreten, desto mehr muss manche sie fürchten.
Stefan Gerbing ist Redakteur des prager frühling. In prager frühling #17 schrieb er über die revolutionäre Organisierung der Altonaer Kontrollmädchen in der frühen Weimarer Republik.
Literatur
Helfferich, Cornelia; Fischer, Claudia; Kavemann, Barbara; Leopold, Beabte; Rabe, Heike (2005): Untersuchung „Auswirkungen des Prostitutionsgesetzes“. Abschlussbericht. Berlin, Freiburg, dostępne na stronie internetowej: http://www.bmfsfj.de/doku/Publikationen/prostitutionsgesetz/pdf/gesamt.pdf.
Skilbrei, May-Len; Holmström, Charlotta (2011): Is there a Nordic prostitution regime? In: Michael H. Tonry (Hg.): Crime and justice in Scandinavia. Chicago, Ill. [u.a.]: Univ. of Chicago Press (Crime and justice, 40.2011), S. 479–517. Online verfügbar unter http://www.jstor.org/discover/10.1086/659841?uid=16804656&uid=3737864&uid=2&uid=3&uid=67&uid=16734256&uid=62&sid=21103420643163.
Swedish Institute (2010): Selected extracts of the Swedish government report SOU 2010:49. The Ban against the Purchase of Sexual Services — An evaluation 1999-2008. Online verfügbar unter http://www.government.se/content/1/c6/15/14/88/0e51eb7f.pdf.
Swedish National Police Board (2011): An approach to combating human trafficking. Online verfügbar unter http://polisen.se/PageFiles/168150/Handbok.engelsk.pdf.
[1] Swedish National Police Board 2011, S. 7–8, (Übersetzung SG)
[2] Ausgangspunkt in Deutschland war EMMAs „Appell gegen Prostitution“, der von der Zeitschrift kampagnenförmig publizistisch begleitet wurde.
[3] Auch wenn die Position in der Partei DIE LINKE nicht hegemonial ist, haben LISA NRW und Wiesbaden Beschlüsse gefasst, in denen explizit das skandinavische Modell als Vorbild für einen Umgang mit Prostitution genannt wird.
[4] Mit dem Begriff Sexarbeit soll markiert werden, dass die Anbieter sexueller Dienstleistungen dies tun, um ein Einkommen zu erzielen. Nicht zuletzt um zu verhindern, wie im Papier von LISA NRW die Diskussion über Sexarbeit mit Diskussionen über befreite Sexualität zu vermischen.
[5] Ich verwende im Text ausschließlich die weibliche Form, da Debatten über das skandinavische Modell Auswirkungen auf sexuelle Dienstleistungen zwischen Personen gleichen Geschlechts, sowie sexarbeitenden Transpersonen zumeist ausklammern. Dieses Problem kann im Rahmen dieses Textes nur festgestellt werden.
[6] Darauf soll sich hier beschränkt werden, weil sie vom Autor im Gegensatz zu anders begründeten moralischen Erwägungen als die diskutierenswert betrachtet werden.
[7] Swedish National Police Board 2011, S. 19, (Übersetzung SG)
[8] Skilbrei und Holmström 2011, S. 485 FN 8
[9] Skilbrei und Holmström 2011, S. 485 FN 6
[10] Skilbrei hebt für Dänemark vor allem nigerianische Sexarbeiterinnen hervor, vgl. Skilbrei und Holmström 2011, S. 508–509
[11] Helfferich, Fischer et al. 2005 – Untersuchung Auswirkungen des Prostitutionsgesetzes, S. 241.
[12] Swedish Institute 2010, S. 56, (Übersetzung SG)