Die europäischen Hochschulen werden zur Zeit kräftig umgebaut. Es gibt den sogenannten "Bologna-Prozeß", in dessen Ergebnis die nationalen Studiengänge einander angeglichen werden. ...
... Darüber hinaus sollen sich die Hochschulen dem Markt öffnen. Zahlreiche neue Studiengänge werden mit der Begründung geschaffen, dadurch könnten die Beschäftigungschancen der AbsolventInnen verbessert werden. Außerdem entspreche dies der Vielfalt der wissenschaftlich und danach auch praktisch zu verarbeitenden Realität. Unter diesen sowie interdisziplinären Gesichtspunkten entstehen auch solche Querschnittsstudiengänge wie Gender Studies.
Derlei Bemühungen sei hier ein weiterer Vorschlag angefügt.
Es könnte an einen neuen Studiengang gedacht werden, in dem das Funktionieren der kapitalistischen Gesellschaft erforscht und gelehrt wird. Nennen wir ihn vorerst, bis vielleicht eine bessere Bezeichnung gefunden ist: "Kapitalistik", die Wissenschaft vom Kapitalismus.
Mit der guten alten Politischen Ökonomie ist dieses Fach nicht identisch. Es soll vielmehr eine Querschnittsdisziplin sein, welche Politikwissenschaft, Soziologie, Volkswirtschaftslehre, Geschichte, Jurisprudenz, Geographie und Ethnologie - sagen wir: die Gesellschafts-, Geistes-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften - durchzieht und miteinander verbindet. Denkbar ist auch, daß die Naturwissenschaften und die Medizin einbezogen sind.
Zu allen diesen Disziplinen soll sich die Kapitalistik verhalten wie im traditionellen Verständnis die Philosophie zu den Einzelwissenschaften, wie die Mathematik zu den Naturwissenschaften oder wie die Volkswirtschaftslehre zu den diversen Betriebswirtschaften. Sie soll die Wissenschaft sein, in der die kapitalistischen Voraussetzungen und Folgen menschlichen Handelns und Denkens in der Neuzeit (natürlich einschließlich der Gegenwart), auch soweit sie zugleich Gegenstand anderer Disziplinen sind, reflektiert werden.
Eine Analogie hierzu gab es in der Bundesrepublik mit der Implantation der Medizinsoziologie in den medizinischen Fakultäten: Die Ärztinnen und Ärzte sowie die Pflegekräfte sollten lernen, in welcher Gesellschaft sie ihren Beruf ausüben, und dieses Wissen in ihrer praktischen Tätigkeit berücksichtigen. Das Fach gibt es heute noch; hier soll nicht untersucht werden, was inzwischen daraus geworden ist. Die Kapitalistik unterscheidet sich von ihm dadurch, daß nicht nur die Existenz irgendeiner "Gesellschaft" vorausgesetzt wird, sondern, enger, des Kapitalismus.
Für die alten Sozialwissenschaften wäre die hier vorgeschlagene Neuerung gewiß eine Herausforderung, ein Angebot zur Identitätsbildung, vielleicht auch eine Gefahr der Spaltung, in jedem Fall eine Chance zur Differenzierung und damit zur inneren Bereicherung. In der Soziologie zum Beispiel, so ist zu hören, wird manchmal die Ansicht laut, man wisse nicht so recht, was das ist: Gesellschaft. Das Fach habe seinen Gegenstand verloren und löse sich in eine Ansammlung von Bereichssoziologien auf. Das mag sogar seine Nützlichkeit haben. Daß ein Mangel empfunden wird, zeigt die Konjunktur des fachinternen Feuilletons. Letzteres gibt es in anderen Disziplinen auch, woran zu sehen ist, daß dort eine ähnliche Kalamität herrscht. Die Kapitalistik könnte da weiterhelfen.
Mit dem weiland Wissenschaftlichen Kommunismus, den es in den Ländern des Realen Sozialismus gab, hat die hier vorgeschlagene Disziplin schon deshalb nichts zu tun, weil sie sein Gegenteil ist. Es handelt sich nicht um die Selbstbestätigung einer bestehenden oder anzubahnenden Gesellschaft des Gemeineigentums, sondern um die Analyse der Auswirkungen des Privateigentums an den Produktionsmitteln, der mit seiner Hilfe bewerkstelligten Gewinnerzielung und der Akkumulation. Von Wissenschaftlichem Kapitalismus sollte man nicht sprechen, denn es handelt sich nicht um Affirmation (die am Ende gar mit Hayeks Theologie und mit Bankbetriebslehre verwechselt werden könnte), sondern um die Erörterung der Möglichkeiten und Grenzen, der Vor- und Nachteile des Kapitalismus.
Als Kritik läßt sich das dann bezeichnen, wenn darunter nicht eine Vorab-Verurteilung verstanden wird. Die wäre langweilig. Offen gesagt: Es kömmt bei dieser Erkundung nicht sofort darauf an, die Welt (soweit diese nicht ausschließlich naturwissenschaftlich begriffen wird) zu verändern, sondern zu verstehen.
Die Berufsbezeichnung derer, die dieses Fach betreiben, ist nicht KapitalistInnen, sondern KapitalistikerInnen. Adjektivbildung ist schwieriger. Man muß hier zu Zusammensetzungen Zuflucht nehmen, etwa "kapitalismustheoretisch" oder "kapitalismusanalytisch".
Der Vorschlag ist hiermit gemacht. Angenommen dürfte er nicht werden, und das ist vielleicht gut so. Nur als brotlose Kunst kann Kapitalistik die nötige Rücksichtslosigkeit aufbringen. Wer selber sein (oder ihr) Auskommen hat, sollte jungen Leuten nicht vorlügen, davon könne man leben.
Dennoch wird es wohl an den gerade umgekrempelt werdenden Hochschulen immer wieder einmal ein paar Lehrende, Lernende und Forschende geben, die sich für die Produktions- und Reproduktionsweise interessieren, die ihr eigenes Leben bestimmt. Für sie könnte die Kapitalistik eine Art innerer Kompaß sein, eine Prüfinstanz auch gegenüber dem zwar überhaupt nicht neuen, wohl aber jetzt noch stärker um sich greifenden Capitalistic Mainstreaming in der Wissenschaft.
Eine solche Haltung wäre sogar besser als die offizielle Etablierung eines neuen Studiengangs, der wahrscheinlich, sobald staatlich genehmigt und irgendwie finanziert, auch schon wieder verhunzt wäre, weshalb zuletzt hiermit doch eher vor ihm gewarnt werden soll.