Selbstbestimmung!

Libertär-sozialistische Parlamentarismuskritik. Ein Kommentar zur Bundestagswahl 2013

Am 28. November 2010 saß ich als Redakteur der Graswurzelrevolution u.a. mit Hans-Christian Ströbele von den Grünen und Uwe Hiksch von der LINKEN auf dem Abschlusspodium des Antikriegskongresses in der Technischen Universität Berlin. Dort ging es heiß her, auch weil sich ein Mensch aus dem Publikum ereiferte. Er habe im Internet recherchiert und dabei entdeckt, „dass Herr Drücke zum Wahlboykott aufgerufen hat!“.

 

Offensichtlich ist es auch in grünen und linksparteinahen Kreisen immer noch ein Skandal, wenn jemand sein Selbstbestimmungsrecht nicht an ei­ne Partei abtreten will. Dabei planen laut einer aktuellen Studie des Meinungsforschungsinstituts Forsa mindestens 30 Prozent der Wahlberechtigten, sich nicht an der Bundestagswahl 2013 zu beteiligen: „Damit droht erst­mals eine Wahlbetei­ligung von unter 70 Prozent, und damit die niedrigste seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland.“1  

Wenn das Ergebnis der Bun­destagswahl am späten Abend des 22. September verkündet wird, werden die Nichtwäh­lerInnen in der Statistik wieder nicht berücksichtigt. Die „Partei der Nichtwäh­ler“ ist „die stärkste der Parteien“, findet in den Medien aber kaum Gehör. Harald Welzers wahlkritischer Essay „Das Ende des kleineren Übels. Warum ich nicht mehr wähle“ im SPIEGEL vom 27. Mai 2013 war ein einmaliger Tabubruch in einem Leitmedium und sorgte u.a. in der Springerpres­se entsprechend für Empörung.

Wie bei jeder Wahl, werden auch bei der Bundestagswahl 2013 wieder alle Parteien und Massenmedien ihre Enttäuschung über die geringe Wahlbeteiligung bekunden.

Dabei ist es aus meiner Sicht erfreulich, dass so viele Menschen erkannt haben, dass sie für die ParteistrategInnen jeglicher Couleur in erster Linie als Stimmvieh von Interesse sind.

Problematisch ist, dass viele Menschen resigniert haben, anstatt sich in den sozialen Bewegungen zu engagieren und nach basisdemokratischen Alternativen zum pseudodemo­kratischen Parlamentarismus zu suchen.

 

„unverantwortlich“?

Ich muss mir oft Vorwürfe anhören, dass ich „unverantwortlich“ handle, weil ich mein Kreuzchen nicht wenigstens für das – aus Sicht der Kriti­kerInnen – kleinere Übel (die Linkspartei?) mache. Dabei hat sich das vermeintlich kleinere Übel in der Vergangenheit im­mer wieder als das größere erwiesen.

 

Unverantwortlich:

Jede Partei ist auf Machterhalt fixiert. Selbst als „pazifistisch“ auftretende Parteien wandeln sich zu Kriegsparteien, wenn sie ihr Ziel der Machtbeteili­gung erreichen und diese durch ein Festhalten an pazifistischen Positionen gefährdet wäre.

Das zeigt das Beispiel der Grünen. Die sind in den Achtzigern unter dem Motto „basisdemokratisch, gewaltfrei, ökologisch, sozial“ angetreten. Noch im Bundestagswahlkampf 1998 forderten sie „keine Auslandseinsätze der Bundeswehr“.

Kaum an der Regierung, sorgten sie für das Gegenteil. Was keine CDU-Regierung ohne Massenproteste hätte durchsetzen können, gelang der rot-grünen Koalition. Unter dem die Shoa relativierenden Motto „Wir müssen ein zweites Au­schwitz verhindern“ setzten Fischer und Co. 1999 den NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien durch.

Hätte damals eine CDU-Regierung den ersten deutschen Bombereinsatz seit dem Zweiten Weltkrieg befohlen, wären vermutlich Hunderttau­sende auf die Straße gegangen. So aber waren es nur wenige, denn viele hatten zuvor ihr Kreuz­chen bei einer der nun kriegführenden Parteien gemacht. Gegen „ihre“ Regierung wollten sie nicht demonstrieren, oder sie gingen sogar der rot-grünen Kriegspropaganda auf den Leim. Ähnlich verhält es sich mit dem Afghanistan-Krieg. Und den „Hartz IV“-Gesetzen. Hätte eine CDU-geführte Regierung versucht, den als „Agenda 2010“ verkauften Sozialkahl­schlag durchzusetzen, wären wohl auch die traditionell SPD-nahen Gewerkschaften auf die Straße gegangen.

Es kam an­ders. Schröder, Stein­brück, Trittin und Co. konnten die Umverteilung von unten nach oben durchsetzen, weil die rot-grünen WählerIn­nen nicht gegen „ihre“ Regierung agieren wollten.

 

Je mehr die Menschen glauben, desto leichter lassen sie sich regieren

Der Glaube an das parlamentarische System kann katastrophale Folgen haben. Erinnert sei hier an die „legale“ Machtübernahme durch die NSDAP 1933. Nicht zuletzt, weil die Nazis damals durch eine Wahl als legitimiert galten, war der Widerstand gegen das Naziregime vergleichsweise klein.

Im März 1920 konnte der faschistische Kapp-Putsch in Deutschland durch einen von Sozial­demokratIn­nen, Sozia­listInnen, Anarchosyndika­listInnen, Kommunis­tInnen und DemokratInnen organisierten Generalstreik nach fünf Tagen erfolgreich gestoppt werden.

Trotz dieser Erfahrung riefen die Gewerkschaften und linken Parteien 1933 nicht zum Generalstreik auf, weil in ihren Augen Hitler durch die Wahl legitimiert war.

Anders lief es drei Jahre später in Spanien. Hier war es eine in großen Teilen in der anarchosyndikalistischen CNT organisierte Bevölkerung, die den von Hitler und Mussolini unterstützten Franco-Putschisten bis 1939 erbitterten Widerstand entgegensetzte und 1936 einen „kurzen Sommer der Anarchie“ verwirklichen konnte.

 

Wunsch auf Teilhabe an der Staatsgewalt

Die Teilnahme an einer Parlamentswahl „ist notwendig getragen von dem Wunsch auf Teilhabe an der Staatsgewalt und ist damit die Beteiligung an dem Versuch, die eigene politische Meinung per Gesetz, Macht und letztlich per Gewalt den Andersdenkenden aufzuzwingen. Mit dem Bekenntnis grundsätzlichen Gewaltverzichts sind auch die Wahlen in einer repräsentativen Demokratie nicht zu vereinbaren. Wer Macht und Herrschaft über Menschen überwinden will, wird nicht um diese Macht kämpfen, sondern auf sie verzichten“, so bringt es Ullrich Hahn vom Internationalen Versöhnungsbund auf den Punkt.

Die parlamentarische Demokratie ist womöglich die beste aller möglichen Regierungsformen, „die anarchistische Parlamentarismuskritik richtet sich jedoch gegen die Zumutung, überhaupt regiert zu werden“.2  

Es geht mir nicht um eine alternative Regierung, sondern um Alternativen zur Regierung. Ziel ist ein selbstbestimmtes Leben für alle.

 

Fazit:

Anstatt auf Parteien zu hoffen, sollten wir gemeinsam Druck von unten machen. Gegen jede Regierung, gegen jeden Krieg, gegen Atompo­litik, Militarisierung, Waffenhandel, Sozialkahl­schlag, Rassismus, Sexismus, Gendreck und andere Verbrechen an der Menschheit. Für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft.

 

Bernd Drücke

 

Anmerkungen:

 1 www.prosiebensat1.com/media/3714356/w%C3%A4hler%20und%20 nichtw%C3%A4hler%20zu%20beginn%20des% 20wahljahres%202013 %20in%20deutschland190213.pdf

 2 Sonderheft der Graswurzelrevolution: „Wer wählt, hat die eigene Stimme bereits abgegeben!“ Zur Kritik des Parlamentarismus. Siehe Kasten  auf Seite 3

 

Direkte gewaltfreie Aktion zur Bundestagswahl

„Das in Deutschland dominierende Verständnis von Demokratie, welches sich auf die Abgabe der Stimme und der Zuschauerrolle bei Polit-Talkshows beschränkt, finden wir im höchsten Maße problematisch. Aus diesem Grund haben wir uns erlaubt rote Kasper- und Clownsnasen auf die Gesichter der Wahlplakate aller Parteien zu kleben. Mit dieser direkten, gewaltfreien Aktion möchten wir auf kreative Art auf unsere Kritik hinweisen.“

Mehr Infos: http://kaspertheater.noblogs.org/

 

Rainald Grebe: „Der Kandidat“, http://www.youtube.com/watch?v=w6SVGwDFxY8

 

 

Artikel aus Graswurzelrevolution Nr. 381, September 2013, www.graswurzel.net