Chávez: Revolution als Spektakel

Eine kritische Bilanz des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ aus Sicht lateinamerikanischer und venezolanischer Libertärer

Zu den Trauerfällen, die weltweit viele Linke 2013 bewegen, gehört der Tod von Hugo Chávez am 5. März 2013. Noch im Oktober 2012 hatte Chávez die Präsidentenwahl gewonnen. Von vielen Linken wurde und wird sein „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ als antiimperialistisch oder sogar als beispielhaft sozialistisch dargestellt. Chávez – ein Vorbild für die Linke weltweit? Nicht so für venezolanische AnarchistInnen um deren Zeitung El Libertario, die eine qualifizierte Kritik vorgetragen haben, welche sich grundsätzlich von bürgerlich-konservativer Kritik unterscheidet. (GWR-Red.)

 

Bei einer libertär-sozialistischen Einschätzung des emanzipatorischen Gehalts von Chá­vez’ Regierung wird hier mehr­mals auf das grundsätzliche Fehlen einer qualitativen Aufar­beitung des Zusammenbruchs des Staatssozialismus, dem Fall der Mauer 1989, Bezug genommen werden.

Autoritäre MarxistInnen haben gegenüber AnarchistInnen quasi die gesamten Neunzigerjahre hindurch das Fehlen der Sowjetunion, wenn schon nicht als Vorbild, so doch als wichtiges Korrektiv für den Bewe­gungsspielraum von Befreiungsbewegungen oder antiim­perialistischen Regierungen in der „Dritten Welt“ bemängelt. Ohne diese Korrektivfunktion sei dem Kapitalismus im Gegensatz zum vorher dominierenden fordistisch-sozialstaatlichen Regime die weltweite Durch­setzung des neoliberalen Regimes gelungen.

Nun, die Chávez-Regierung (1999-2013) und all die mehr oder weniger links-sozialdemokratischen Wahlsiege in Südamerika (von Argentinien über Brasilien, Ecuador, Bolivien, Chile) haben diese These widerlegt: Ganz ohne die Sowjetunion erfreuten sich Konzeptionen nach dem Muster des Staatssozialismus bereits im zweiten Jahrzehnt nach dem Zu­sammenbruch des osteuropäischen Staatssozialismus be­sonders in Latein- und Südame­rika höchster Beliebtheit.

Sogar so sehr, dass zahlreiche deutschsprachige Antifa- und Ex-AutonomenpublizistInnen wie etwa Raul Zelik, Ingrid Scherf oder Dario Azzellini zu mehr oder weniger deutlichen ApologetInnen der Chávez-Re­gierung wurden. Sie haben jede anarchistische Versuchung fahren lassen und keine grundsätzliche Kritik am Chávismus (1).

Innerhalb der weltweiten Bewegung gegen kapitalistische Glo­balisierung waren es dann Symbolfiguren des Trotzkismus wie etwa Tariq Ali, der in seinen jüngeren Publikationen im­mer wieder den Verzicht etwa des Zapatismus in Chiapas, die politische Macht in Mexiko-Stadt zu ergreifen, mit Verweis auf Effizienz und Erfolg der Chá­vez-Regierung als politische Abdankung und naiv kritisierte. (2)

Chávez – das war Balsam auf die seit dem Mauerfall gebeutelten Seelen des autoritären Marxismus. Höchstens sein Bündnis mit dem indiskutablen Ahmadinejad-Regime war schwer ins Bild der „Komplexität“ (Azzellini) zu integrieren, gelang dann aber mit dem Mythos der „Multipolarität“ außenpolitischer Beziehungen der Chávez-Regierung.

Selbst der Anar­chosyndikalist Noam Chomsky schlug sich auf Chávez’ Seite, als er sich bei seinem einzigen Besuch in Venezuela 2009, der ganze zwei Tage dauerte, nicht entblödete, Chávez ins Angesicht zu sa­gen: „Ich kann sehen, wie eine bessere Welt geschaffen wird und ich kann die Person sprechen, die sie inspiriert hat.“ (3)

Chávez bedankte sich seiner­seits mit umfangreichen Fernsehübertragungen von Choms­kys Reden und permanenter Publicity für die Bücher des US-amerikanischen Intellektuellen.

 

Populistische und sozialdemokratische Regierungen in Lateinamerika

Der uruguayische Anarchist Daniel Barret analysierte die wahlpolitische „Linkswende“ im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts in Lateinamerika und unterschied dabei zwei Re­gierungstypen, die daraus hervorgegangen und an die parla­mentarisch-demokratische Macht gekommen waren: eine sozialdemokratische (Lula in Brasilien, Cristina Kirchner in Argentinien usw.) und eine po­pulistische Regierungsform (Chávez in Venezuela, Evo Mo­rales in Bolivien, Rafael Correa in Ecuador):

„In den sozialdemokratisch geführten Ländern gibt es weder den Wunsch noch die Absicht, eine neue Welt zu schaffen, während das in den populisti­schen Staaten der Fall ist. Deswegen erzeugen populistische Regierungen größere Hoffnungen und Erwartungen. Die Rhetorik der populistischen Regierungen ist deutlich revolutionärer als die sozialdemokratischer Regierungen. Die Sozialdemokraten akzeptieren die Logik des Spiels von Opposition und Regierungswechsel. Dagegen liegt im Kern des populis­tischen Modells die Entfaltung eines historischen Projekts [in Venezuela: der bolivarische Prozess; der Sozialismus des 21. Jahrhunderts; d.A.]; d.h. ein Projekt von unendlicher Länge. Deswegen ist es für die Popu­listen so schwer, an eine Abgabe der Macht auch nur zu denken.“ (4)

Damit ist bereits zu einem Großteil die blutige Auseinandersetzung direkt nach den Neuwahlen in Venezuela in der Folge von Chávez’ Tod erklärt, als dessen Nachfolger Nicolás Maduro knapp mit 50,08 Prozent die Wahlen gewann.

Diese Konstellation hat das Potential, sich künftig zu wiederholen und zu den mörderischen Wahlkriegen zu entgleisen – mit regelmäßigen 51 zu 49-Prozent-Ergebnissen, dem Anzweifeln des korrekten Ablaufs durch den knapp unterlegenen Oppositionellen oder gleich dessen Selbstproklamation als eigentlicher Wahlsieger, schließlich gewaltsame Auseinandersetzungen –, die man aus Afrika kennt.

Daniel Barret zeigt in seiner An­alyse eine noch schlimmere Konsequenz auf:

„Die politischen Dynamiken, die diese verschiedenen Regie­rungsformen charakterisieren, haben eine enge Beziehung zu den sozialen Bewegungen. Knapp ausgedrückt: Der sozialdemokratische Reformismus, einmal an die Macht gekommen, verliert langsam seine An­ziehungskraft, dessen Unter­stützerInnen und die sozialen Bewegungen zu Aktionen aufrufen zu können. Der Populismus dagegen erzeugt viel mehr Begeisterung und entfaltet eine daher umso größere Fähigkeit für die staatliche Kooptation von sozialen Bewegungen.“ (5)

Für die venezolanische anarchistische Zeitung El Liberta­rio und seinen langjährigen Re­dakteur Rafael Uzcategui sind diese Einsichten Barrets geprägt durch Erfahrungen, nach denen eine unabhängige und starke soziale Bewegung durch Sozialrevolten gegen Ende der Neunzigerjahre zuerst zum Massaker der Sicherheitskräfte vom 27./28. Februar 1999 der Regierung Pérez mit mehreren hundert Toten und dann zum Wahlerfolg Chávez’ von 1999 geführt hatte (nachdem sein versuchter Militärputsch durch Guerillaaktionen 1992 noch gescheitert war). Seither sind, so Uzcateguis Einschätzung, der Großteil der sozialen Bewegungen staatlich kooptiert und der unabhängig gebliebene Rest marginalisiert und denunziert worden – typischer Weise als fünftes Rad am Wagen des US-Imperialismus und der Rechten, oder gleich als Faschisten und Konterrevolutionäre: das ganze Diffamierungsprogramm aus dem alten 20. Jahrhundert.

 

Personenkult und Militarisierung der demokratisch gewählten Regierung

Durch die unausgesetzte Propaganda eines angeblichen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ stellt die autoritäre Linke bei der Rezeption der Chávez-Regierung nicht einmal mehr die Frage nach den Kontinu­itäten des autoritären Staatssozialismus sowjetischer Prägung sowie nach den Kontinuitäten autoritärer Traditionen Lateinamerikas und Venezuelas selbst. Dabei springt bei Chá­vez der groteske Personenkult als hervorstechendes Merkmal dieser Kontinuitäten geradezu ins Auge.

Die autoritäre Linke hat den Personenkult als Merkmal des autoritären Staatsozialismus kaum strukturell analysiert und aufgearbeitet (wenn man viel­leicht von Gerd Koenen absieht (6), der sich nicht mehr als Kommunist begreift).

Als nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Staatssozialismus in Venezuela mit Chávez erstmals wieder ein „progressives“ Regime mit Personenkult entstand, liefen ihm Anhänge­rInnen der autoritären Linken auf das Peinlichste mit fliegenden Fahnen hinterher. Der Personenkult ist ein fester Bestandteil der militaristischen Kultur in Lateinamerika und in Venezuela. (7)

Er begann bereits mit dem Kult um Simón Bolivar (1783-1830) selbst. Sein Krieg gegen die spanische Kolonialmacht im 19. Jahrhundert war ein Unab­hängigkeitskrieg. Und so setzte sich der mit einem starken Mann verbundene Militarismus (Caudillismo) im Bewusstsein eines Großteils der venezolanischen Bevölkerung fest.

Es war der General und Diktator Juan Vicente Gómez, der bis zu seinem Tod 1936 diesen Personenkult um Bolivar wieder aufnahm – und Bolivar-Statuen in jeder Stadt und in jedem Dorf Venezuelas errichten ließ. Diktator Gómez ist der Vater des venezolanischen Staates. Er or­ganisierte erstmals eine professionelle Armee mit flächendeckend-nationalem Operationsge­biet.

Doch schnell fand der Kult um Bolivar auch in etatistisch-progressiven Kreisen Verbreitung. Bereits die demokratische Regierung um Rómulo Betancourt, dem Parteichef der Acción De­mocratica (AD) von 1945-48, kritisierte zwar Gómez als Lakai ausländischer Ölkonzerne, führte aber in seiner angeblichen Regierung der „zweiten Unabhängigkeit“ den Bolivar-Kult fort. Der venezolanische Anarchist Rafael Uzcategui führt da­zu aus:

„Die AD-Regierung von 1945-1948 basierte auf einem zivil-militärischen Bündnis mit der Nationalarmee, bei dem die Armee zum ‚Instrument des Volkes’ wurde. Betancourt unterschied sich von der traditionellen politischen Klasse durch seine nationalistische Rhetorik, seinen Antiimperialismus und seine symbolische Identifikation mit der Bevölkerung und be­gann auf diese Weise den venezolanischen Populismus“ (8) – den Chávez auf seine Weise wiederum nur fortsetzte.

Alles, was angeblich den 21. Jahrhundert-Sozialismus Chá­vez’ ausmacht, war daher längst schon dagewesen. Der militaristische Caudillo in Lateiname­rika hat nach Ansicht der venezolanischen AnarchistInnen um El Libertario folgende Kennzeichen: erstens den Kult um den männlichen militärischen Helden (Chávez); zwei­tens die ständige Propaganda der damit verbundenen Macho-Werte; drittens die unhin­terfragte Anerkennung einer theoretischen Weisheit des Caudillo und seiner kollektiven Führungsrolle; viertens die Konzeption einer Politik als aus der Not geboren, bei der angeblich alles neu beginnt, sobald ein neuer Caudillo wie auch im­mer die Macht erlangt; und fünftens die Propaganda für ei­ne Wertschätzung des Militärs als angeblicher Apparat mit nicht korrumpierbaren Idealen wie Reinheit, Erlösung und Effizienz, dessen Institutionen über die Zivilgesellschaft wachen, die wiederum als antagonistisch oder untergeordnet wahrgenommen wird. (9)

Auch wenn die venezolanischen AnarchistInnen die demokratischen Wahlen Chávez’ nicht infrage stellen, so werfen sie ihm doch vor, dass er seit 1999 unter dem Schleier linker Rhetorik den parlamentarisch-demokratischen Prozess militarisiert hat. Typisch dafür seien Symptome wie seine Selbstbe­zeichnung als „Comandante-presidente“ und seine Diskurse bei Wahlkämpfen, die wie traditionelle Kriegsführung erschienen (so verglich er etwa den Wahlkampf 2004 mit der Schlacht von Santa Inés von 1859).

Die Ideologie basiert auf dem national zusammenschweißenden „äußeren Feind“, den USA, die eine angeblich unipolare Welt dominierten – was spä­testens seit dem Aufstieg Chinas, der EU und der Ölstaaten nicht mehr stimmt. Die für Chá­vez mobilisierbaren Massen bezeichnete er als „Bürger-Soldaten“, die dann zusammen mit Polizei und Geheimdiensten Jagd auf den „inneren Feind“ machen, was all jene sind, die vom offiziellen Kurs abweichen.

Seit 2004 ist der Hauptslogan der venezolanischen Armee – in unübersehbarer Nähe zu Cas­tro in Cuba – „Land, Sozialismus oder Tod“. Bei offiziellen Zeremonien kleidete sich Chá­vez in Militäruniform mit rotem Barett.

Bereits innerhalb von vier Jahren seiner Regierung, 1999-2003, wurden 310 ausgebildete Militärs in Managerposten gehoben, bei Staatsunternehmen, in autonomen Instituten, regie­rungseigenen Finanzierungsfonds, Ministerien, staatlichen Verwaltungsposten und Bür­germeisterämtern. Wahlkam­pagnen wurden militärstrate­gisch durchorganisiert: Es gibt „Wahlschlacht-Einheiten“ (UBE; Unidades de Batalla Elec­toral), Bataillone, Milizen, Fronten, Patrouillen, zivil-militärische Reserveeinheiten etc.

Von staatlich gegründeten Organisationen mit „partizipativer Bür­gerbeteiligung“ wird seit 2008 ein paramilitärisches Training verlangt, das inzwischen in die armeeeigene „National-Bolivarische Miliz“ integriert worden ist. Seit 2009 wurde auf Anweisung von Chávez ein eigenes Frauen-Militärkorps geschaffen usw. usf.

Nach Angaben von SIPRI in Stockholm stieg zwischen 2004 und 2008 Venezuela vom 55. Platz der Waffenimporteure weltweit auf den 18. Platz; von 2 Milliarden Dollar Waffenkäu­fen in diesem Zeitraum wurden für 1,9 Milliarden Dollar Waffen aus Russland gekauft. (10)

 

Gesellschaft als Spektakel: Die Unfähigkeit, Propaganda und Realität zu unterscheiden

Die notwendige Ergänzung zu Personenkult und innerer Mili­tarisierung ist eine Regierungspropaganda, die sympathisierende MitstreiterInnen derart manipuliert, dass sie nicht mehr in der Lage sind, zwischen Propaganda und Realität zu unterscheiden, ja dass sie sogar die Propaganda dem Blick auf die Realität vorziehen.

Aufgrund dieses Mechanismus’ ist es nicht überraschend, dass ein venezolanischer Anarchist wie Uzcategui auf die Analysen Guy Debords und des Situationismus zurückgreift, um die Propaganda der Chávez-Regierung zu charakterisieren:

„Das Spektakel ist die ununterbrochene Rede, die die gegenwärtige Ordnung über sich selbst hält, ihr lobpreisender Monolog. Es ist das Selbstpor­trait der Macht in der Epoche ihrer totalitären Verwaltung der Existenzbedingungen.“ (11)

Obwohl Chávez in mehreren Reden die Autonomie der Gewerkschaften zugesichert hat, hat seine Regierung immer dann neue Gewerkschaften von oben gegründet, wenn unabhängige Gewerkschaften in der Lage waren, aus ihrer Unabhängigkeit heraus stark zu werden und Forderungen zu stellen (Strategie der Zersplitterung in unendlich viele, ohnmächtige Gewerkschaften).

Obwohl die Propaganda der Re­gierung immer wieder darauf hinwies, dass das Basislohnniveau der Arbeiterklasse Venezuelas im lateinamerikanischen Vergleich stark gestiegen sei – was richtig ist – wurde dabei gleichzeitig immer wieder verschwiegen, dass die Inflationsrate Venezuelas die höchste in ganz Lateinamerika ist (2009 lag sie bei 30,9 %; die zweithöchste hatte 2009 Nicaragua mit 13,7 %!). Dieser relativen Verarmung entspricht die hohe Kriminali­tätsrate, die in Venezuela vordringlich die Armen trifft: 2007 gab es in Caracas 130 Morde pro 100.000 EinwohnerInnen (vgl. Rio de Janeiro an 2. Stelle: 63 pro 100.000!). 1999, bei Chá­vez Amtsantritt gab es 5870 Morde landesweit; 2009 waren es 14.470!

Obwohl Chávez bei jeder Gelegenheit seinen Antiimperialis­mus hinausposaunte, war etwa in der Ölindustrie die Nationalisierung vor seinem Amtsantritt umfassender als sie es heute ist: Tatsächlich ist mit Chá­vez eine mit der kapitalistischen, weltmarktorientierten Glo­balisierung konform gehende Flexibilisierung bei Ölpro­duktion und -export eingetreten. So schreibt Uzcategui:

„Erst nach der Wahl von Hugo Chávez unterzeichnete die venezolanische Regierung die erste Übereinkunft über ‚gemischte Unternehmen’, bei denen transnationale Konzerne wie British Petroleum, Chevron [USA] oder Repsol YPF Anteilseigner (bis zu 49%) zusammen mit dem venezolanischen Staat in den verschiedensten Hydrocarbon-Firmen wurden.“

Wer da meint, es sei mit den 51 % Staatsanteil doch die Unabhängigkeit gesichert, dem/der sei gesagt, dass in all diesen Unternehmen wichtige Entscheidungen mit Zustimmung von 75 % der Anteilsstimmen gefällt werden und daher sogar interne Kritiker sagen, dass „unsere Ölpolitik in die Hände der multinationalen Konzerne übergegangen ist.“ (12)

Beim Gas wurde unter Chávez’ Entwicklungsprogramm technischer Modernisierung der Ausbeutung von bisher unzugänglichen Bodenschätzen die Förderung der Gasvorkommen überhaupt erst begonnen.

Die monetären Einnahmen Venezuelas rühren daher nicht aus einer qualitativen Entwicklung des Agrarbereichs und der mittelständischen Produktion, sondern aus Öl-, Gas- und Koh­leexport-Renten, die eine extreme Abhängigkeit des Landes vom Weltmarkt bedeuten.

Selbstverständlich gehen diese, einer typisch marxistischen Modernisierungsideologie unterliegenden Ausbeutungspro­jekte auf Kosten der Lebensbedingungen und des Widerstands indigener Bevölke­rungsgruppen in Venezuela, die Chávez jederzeit bereit war, zu unterdrücken.

Um ein Beispiel zu nennen: Eine Delegation der Wayuu, der größten indigenen Gruppe im Grenzgebiet Venezuela-Kolumbien, einem Gebiet mit neu ausgewiesenen Kohleabbauminen (mitsamt den bei solchen Projekten üblichen vorgesehenen riesigen Enteignungen an Land, Wald und Flüssen), trug im Jahre 2007 ihren Protest zum Intergalaktischen Treffen der EZLN in Chiapas. Uzcategui erzählt, wie sie mit ihren Forderungen nach Solidarität empfangen wurden:

„Die zapatistischen Genossen sagten uns: ‚Caramba! Dort in Venezuela sprechen sie sehr positiv davon, die Abgeordneten und Minister.’ Wir antworteten: ‚Nein. Es ist das genaue Gegenteil. Die Abgeordneten unterstützen Corpozulia [staatlicher Kohleförderkonzern; d.A.], sie unterstützen die transnationalen Konzerne. Wir wollen hier erklären, dass wir weder Anhänger noch Gegner von Hugo Chávez sind: Wir sind indigene AntiimperialistIn­nen und AntikapitalistInnen. Wenn wir mit Chávez’ GegnerInnen gemeinsame Sache machen würden, dann wären wir Teil der konservativen Opposition und würden öffentlich Anschuldigungen erheben. Wenn wir Chávez-AnhängerIn­nen wären, würden wir Karrieren als Abgeordnete in der Nationalversammlung, der Staatsverwaltung oder in Stadträten machen. Wir aber verteidigen unser eigenes Interesse, und das ist das Land.“ (13)

Während also die Zapatistas noch zuhörten, kritisierten anwesende US-amerikanische So­lidaritätslinke die indigenen De­legierten:

„Zu Beginn einer Rede, die wir in der Universität von San Cris­tóbal, Chiapas, hielten, wurden einige Amerikaner sehr aggressiv. Sie waren hundertprozentige Anhänger von Chávez. Sie sagten, wir seien Rechtsextre­me, denn wie könnten wir sonst solche Sachen sagen, wo doch in Wirklichkeit in Venezuela alles in Ordnung ist.“ (14)

Hier haben wir den tristen Tatbestand einer Verwechslung von Propaganda und Realität, dem vor allem Teile der linken Solidaritätsbewegungen in den USA und Europa zum Opfer fallen.

Deutlich wird dabei, dass es diesen marxistischen Linken keine Sekunde um das geht, was Indigene persönlich erlebten und selbst bezeugten, sondern dass sie der blinde Glaube an Personenkult und Staatspropaganda zum Rassismus verleitet, den sie nicht einmal selber bemerken.

 

S. Tachelschwein

 

Anmerkungen:

(1): Als Beispiel kann hier der Artikel von Dario Azzellini über den Kongress „Venezuela nach Hu­go Chávez“ in Köln im April 2013 genannt werden, wo die „hohe Mordrate“ im Land zwar angesprochen, dann aber mit der „Komplexität des Themas“ gleich wieder abgewürgt wurde, vgl. Azzelini: „Organisatoren ziehen positive Bilanz von Venezuela-Kongress in Köln“, 24.4.2013, Portal amerika21 sowie www.azzelini.net

(2): Vgl. dazu etwa Jens Kastners kritische Rezension des Buches von Tariq Ali: Piraten der Karibik. Die Achse der Hoffnung, in: GWR Nr. 322, Oktober 2007 (Libertäre Buchseiten).

(3): Noam Chomsky: Rede zum Empfang des Präsidenten Hugo Chavez, 24.8.2009, zit. nach Ra­fael Uzcategui: Venezuela. Revolution as spec­tacle, See Sharp Press, Tucson/Arizona 2010, übersetzte und aktualisierte Version der spanischen Originalausgabe, S. 211. Soweit nicht anders angegeben, stammen Zitate und Informationen dieses Artikels aus diesem Buch des venezolanischen Anarchisten und seiner Zeitung El Libertario, deren Redakteur er seit 1995 ist. Das Buch ist bisher in spanischer und englischer Sprache erschienen.

(4): Daniel Barret, zusammengefasst nach Uzca­tegui, siehe Anm. 3, S. 137.

(5): Daniel Barret, zusammengefasst nach Uzca­tegui, ebenda.

(6): Gerd Koenen: Die großen Gesänge. Lenin, Stalin, Mao, Castro... Sozialistischer Personenkult und seine Sänger von Gorki bis Brecht – von Aragon bis Neruda, Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 1987.

(7): Auch der Kult um Subcomandante Marcos in Chiapas ist nicht frei davon und hat seine strukturelle, ebenfalls militaristische Funktion.

(8): Rafael Uzcategui: Venezuela. Revolution as spectacle, siehe Anm. 3, S. 141.

(9): Ebenda, S. 144.

(10): Ebenda, S. 136-150, das Kapitel zu Populismus und Militarismus.

(11): Guy Debord: Gesellschaft als Spektakel, Tiamat Verlag, Berlin 1996, § 24 (Anfang), S. 21f. Uzcategui bringt dieses Debord-Zitat in sei­nem Buch auf S. 130.

(12): Rafael Uzcategui, a.a.O., S. 84 und 90.

(13): Jorge Montiel, in einem Interview mit El Libertario, Nr. 51, Nov.-Dez. 2007.

(14): Montiel, ebenda.

 

Artikel aus Graswurzelrevolution Nr. 380, Sommer 2013, www.graswurzel.net