Chiles Legende Salvador Allende wurde zum dritten Mal beigesetzt
Nachdem Salvador Allende unter Ausschluss der Öffentlichkeit in Anwesenheit seiner Familie beerdigt wurde, haben Anhänger_innen des sozialistischen Präsidenten am 10. September eine Gedenkfeier abgehalten. Der ursprüngliche, öffentliche Termin war wegen eines Flugzeugabsturzes abgesagt worden. Jorge Arrate, Außenminister unter Allende, fühlt sich dem sozialistischen Erbe bis heute verpflichtet und wollte der Trauerfeier beiwohnen. Ein anderer Mann, der Allende erst nach dessen Tod ungewollt sehr nahe kam, hingegen nicht: Friedhofsgärtner Hugo Hurtado, der Allende bis heute verehrt und in den aktuellen Protesten Hoffnung keimen sieht.
„Ich war 1973 gerade auf Regierungsreise im Ostblock unterwegs. Als Leiter von Chiles staatlicher Kupferkooperative CODELCO sollte ich neue Handelsverträge in Ostberlin, Moskau und Peking abschließen. Am 10. September jedoch wurde meine Reise jäh unterbrochen, Präsident Salvador Allende bestellte mich mit sofortiger Wirkung nach Santiago zurück.“ Nein, optimistisch sei er nach dieser Botschaft nicht gerade gewesen, erinnert sich Jorge Arrate weiter, während er sich in Zeitlupe noch eine Tasse Tee einschenkt. „Aber irgendwie war es zu diesem Zeitpunkt längst Routine, auf eine permanente Krisensituation zu regieren.“
Doch als Arrates Maschine am 11. September die Landerlaubnis verwehrt
wird, ahnt er Schlimmes. Im Luftraum Santiagos dröhnt es an diesem Tag
vor Kampfflugzeugen, der Putsch des chilenischen Militärs gegen die
linke Regierungskoalition Unidad Popular (UP) ist bereits in vollem
Gange. Als Präsident Allende sich weigert, vor den Truppen Augusto
Pinochets zu kapitulieren, lässt der General den Regierungssitz
bombardieren. Allende überlebt, doch mit seinem Freitod erfüllt er wenig
später die eigene Voraussage, sein Mandat entweder regulär oder
vorzeitig in einem „Holzpyjama“ (also im Sarg) zu beenden.
Während für Arrate am 12. September 1973 ein 14-jähriges Exil beginnt,
fängt der Tag nach dem Staatsstreich für Hugo Hurtado wie gewohnt mit
dem Schlangestehen nach Brot an. Eine seltsame Stille habe an diesem
Morgen über der Hafenstadt Viña del Mar gehangen, wie sie sonst nur auf
dem Friedhof Santa Inés, seinem Arbeitsplatz, herrsche. Hurtado ist
gerade dabei, Rosen zu verschneiden, als eine Polizeieinheit auf den
Friedhof stürmt. „Sie befahlen mir, das Familiengrab der Allendes zu
öffnen“, erinnert sich der heute 70-Jährige. „Ich war erstaunt, denn
niemand hatte mich über eine Beerdigung informiert. Erst als Señora
Tencha (Salvador Allendes Ehefrau) bat, den Sarg noch einmal zu öffnen,
verstand ich, wen ich da gerade bestattete.“ „Ab jetzt haben wir hier
das Sagen“, verabschieden sich die Uniformierten. Hurtado und seine
Kollegen werden verpflichtet, mit niemandem über den Vorfall zu
sprechen.
Als ich gerade nach den roten Nelken frage, die jahrelang heimlich auf
dem Grab ohne Namen niedergelegt wurden, unterbricht mich Hurtado
plötzlich ohne aufzuschauen. „Nur wenige Leute wissen, dass noch am Tag
der Beerdigung einige Menschen versuchten, Allendes Sarg wieder
auszugraben, um seine Leiche vor den Militärs zu verstecken. Der
damalige Friedhofsdirektor rief die Polizei, noch bevor sie damit Erfolg
hatten. Wer nicht fliehen konnte, wurde zusammengeschlagen und auf
einen Lastwagen geworfen.“ Auch Hurtado, der gerade von der Mittagspause
zurückkommt, erscheint verdächtig und wird mitgenommen.
Nach drei Tagen kommt Hurtado frei. Niemand habe gefragt, wo er gewesen
sei, erinnert sich der immer noch regungslose Mann. Dann dreht er sich
plötzlich um. „Aber du hast etwas ganz anderes gefragt, nach den Nelken,
oder? Ja, es lagen fast immer frische Blumen auf dem Grab, fast 17
Jahre lang. Ich weiß nicht, wer diese Menschen waren, ich habe jedes Mal
weggeschaut, wenn ich jemanden bemerkte.“
Jorge Arrate will im Exil indes nichts sehnlicher als endlich zurück
nach Chile. Über ein Jahrzehnt organisiert er in Rom, später in Berlin
und Rotterdam die internationale Solidarität mit der chilenischen
Bevölkerung und die Geschicke der Sozialistischen Partei (PS). 1984
versucht er drei Mal, nach Chile einzureisen, „nur um jedes Mal wieder
in Handschellen zurück in ein Flugzeug geführt zu werden“, sagt er. Erst
drei Jahre später kann Arrate legal zurückkehren. Was ihm sofort
auffällt: Während für die Exilant_innen Allende einen gemeinsamen
Fixpunkt bildete, war sein Name in Chile tabu. Das Referendum, mit dem
die Chilenen 1990 für die Rückkehr zu einer demokratischen Regierung
votieren, ändert daran zunächst wenig.
Arrate ist zu diesem Zeitpunkt bereits Generalsekretär der PS. Die
Sozialist_innen sind auch am ersten Regierungsbündnis der Concertación
beteiligt, das von Allendes einstigem politischen Widersacher, dem
Christdemokraten Patricio Aylwin, geführt wird. Arrate wird Minister und
als eine seiner ersten Amtshandlungen wird ihm, ebenso wie Hurtado,
eine Rolle bei Allendes verspätetem Staatsbegräbnis zuteil. Während dem
Friedhofsgärtner die Aufgabe zukommt, in der Nacht vom 3. zum 4.
September 1990 Allendes Sarg auszugraben, hält Arrate am folgenden
Morgen auf dem überfüllten Friedhof Santa Inés eine Rede. „Wenn die
Leidenschaft, die sein Werk erweckt hat, überwunden ist, wird die
Zukunft ihn mit gelassener Distanz betrachten.“ Danach tragen Hurtado
und seine Kollegen den Sarg bis zum Leichenwagen, der Allendes
„Holzpyjama“ in die Kathedrale nach Santiago und dann ins Mausoleum auf
dem dortigen Zentralfriedhof überführen soll.
Arrate fährt in einer Limousine direkt hinter dem Leichenwagen, Hurtado
schaut dem Konvoi hinterher, der langsam die Straße herunterrollt, an
der sich zu beiden Seiten Menschen drängen. „Ich wollte nicht mitfahren.
Ich fühlte nicht wirklich etwas. Es war ein ganz normaler Arbeitstag“,
sagt Hurtado. Für viele Chilen_innen ist es dagegen ein ganz besonderer
Tag, der Fahrer des Leichenwagens lässt sich Zeit für die 120 Kilometer
in die Hauptstadt. „Auch an der letzten Mautstation hatte sich wieder
eine Menge Leute versammelt“, erinnert sich Arrate, „und daneben eine
Gruppe Polizisten. Sie hatten Anweisung, den Sarg umzuladen. Von nun an
ging es in einem anderen Tempo weiter, vom Straßenrand konnten viele nur
einen flüchtigen Blick erhaschen. Nein, Pinochet, der zu diesem
Zeitpunkt noch Oberbefehlshaber des Militärs war, passte diese ganze
Prozession überhaupt nicht.“
Auch international löste die Beerdigung unterschiedliche Reaktionen aus.
Schließlich hatte Francis Fukuyama in seinem berühmt gewordenen Essay
gerade das Ende der Geschichte verkündet. In einer Fußnote erteilte er
darin dem Putschisten Pinochet die Absolution, der sich fortan Liberaler
nennen durfte. Allende hingegen, der erste bekennende Marxist, der in
Lateinamerika in ein Präsidentenamt gewählt worden war, hatte in diesem
neuen Common Sense keinen rechten Platz. Nur wenige Länder schickten wie
Frankreich hohe Amtsträger. Willy Brandt, damals immerhin Vorsitzender
der Sozialistischen Internationalen, entschuldigte sich schriftlich. Die
Riesenschritte in Richtung deutscher Wiedervereinigung würden es ihm
nicht erlauben, an dem Staatsbegräbnis teilzunehmen. „Die SPD hatte nie
einen besonderen Draht zur Regierung Allende“, erinnert sich Arrate und
fügt amüsiert hinzu: „Aber das beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit. Wir
hielten die deutsche Sozialdemokratie immer für eine Art Deformation
des Sozialismus.“
Doch angesprochen auf seinen Parteiaustritt vor drei Jahren aus der von
Allende mitgegründeten chilenischen PS, vergeht Arrate das Lächeln. „Das
anfängliche Zweckbündnis mit den Christdemokraten haben viele ehemalige
Weggefährten irgendwann als bequemen Konsens lieben gelernt und sind so
in den vergangenen zehn Jahren zu Komplizen des Neoliberalismus
mutiert“, formuliert er bitter. Auch wenn man heute das
Regierungsprogramm der UP von 1970 nicht einfach aus der Schublade holen
könne, die gegenwärtigen Studierendenproteste und der Generalstreik
zeigten doch, dass viele der damaligen sozialen Fragen nichts an
Aktualität verloren hätten. „In absoluten Zahlen ist in Chile die
Ungleichheit heute größer als vor 50 Jahren.“
Friedhofsgärtner Hurtado, der sich mit der Pflege von einem halben
Dutzend Gräbern seine bescheidene Rente etwas aufbessert, sieht das
ähnlich. „Logisch, dass ich damals Sympathisant der UP war. Allende
kämpfte für uns Arbeiter, für eine gerechtere Gesellschaft.“ Dann sagt
er etwas Unerwartetes. „Glaub nicht, ich würde dir das alles erzählen,
wenn ich nicht das Gefühl hätte, mein Land bewegte sich gerade von
Neuem. Lange Zeit war die Erinnerung für mich einfach nur schmerzhaft,
jetzt macht sie mir wieder Hoffnung.“
Wenn sich Arrate und Hurtado irgendwann ein zweites Mal über den Weg
laufen sollten, sie würden sich sicher blendend verstehen. Jetzt, da
Salvador Allende ein drittes Mal begraben wurde, hätten sie ursprünglich
die Gelegenheit dazu gehabt, sofern es bei einem öffentlichen Begräbnis
geblieben wäre. Beide sagen, sie hätten es richtig gefunden, dass das
Grab noch einmal geöffnet wurde, um die These vom Freitod im Rahmen
einer Obduktion zu prüfen. „Solange es Zweifel gibt, gibt es auch eine
Verpflichtung, ihnen nachzugehen“, sagt Hurtado. Ein ballistisches
Gutachten bestätigte im Juli nun erneut den vermuteten Suizid. Und damit
stand die Familie Allende vor der Aufgabe, wieder ein Begräbnis zu
organisieren. Anfangs stemmte sich die Senatorin und Allende-Tochter
Isabel gegen eine öffentliche Zeremonie, fürchtete eine
Instrumentalisierung. Schließlich schien sie sich damit abzufinden,
nachdem allein auf Facebook bereits über 10.000 Menschen ihre Teilnahme
angekündigt hatten. „Bei allem Respekt für die Familie, ich finde, auch
der Bevölkerung sollte ein Recht zugestanden werden, dem Begräbnis die
Bedeutung zu geben, die jeder einzelne Bürger für angemessen hält“,
findet Arrate. Bürger Hurtado hatte sich vor der Absage bereits
entschieden, nicht teilzunehmen. „Ich erinnere mich schon oft genug,
wenn ich auf dem Familiengrab den Rasen und die Rosen pflege“, sagt er.
Und Arrate? Der wollte sich eigentlich als stiller Beobachter unter die
Menge mischen. Ob nun die Zeit gekommen sei, Allendes Werk mit
gelassener Distanz zu betrachten, wie er es einst prophezeit hat? Nein,
sagt er gelassen, „aber ich glaube immer noch, dass es eine Zukunft
gibt, in der diese Zeilen zutreffen werden.“
Ausgabe: Nummer 447/448 - September/Oktober 2011
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